Literaturprojekt
Literaturprojekt

20. März 2024

Das Philosophenschiff

Von Michael Köhlmeier

Erschien 2024 im Hanser-Verlag

 

Der 1949 im Ländle (Vorarlberg) geborene Schriftsteller Michael Köhlmeier hat wieder – wie jedes Jahr – einen Roman geschrieben. Diesmal kommt er auch selbst darin vor. Er interviewt in diesem Roman die inzwischen 100jährige Architektur-Professorin Anouk Perlemann-Jakob, die im Jahr 1922 auf einem so genannten „Philosophenschiff“ mit ihren Eltern unfreiwillig aus Russland emigrierte. Nun sind Anouk Perlemann-Jakob und ihre amerikanische Freundin Alice Winegard die einzigen fiktiven Figuren in dem Roman. All die anderen - Russen - die darin vorkommen gab es. Ein Interview hat also nie stattgefunden, ist frei erfunden. Das Philosophenschiff mit den anderen Insassen gab es, bis auf ein kleines Detail: Lenin war nie auf einem solchen Schiff, zumindest nicht nachweislich. Doch das ist das entscheidende Detail, das Frau Perlemann-Jakob den Geschichtsschreibern mitteilen kann. Der immer noch nicht aufgeklärte Tod von Lenin – was nicht unwesentlich dazu beitrug, dass aus Lenin ein Kult wurde – wird von der Architektin aufgeklärt. Und an dem Spitzbart, der ihn gegen Ende des Romans zur Rede stellt, lässt sich unschwer Trotzki erkennen. Leo Trotzki, der später dann den Säuberungen durch Stalin zu Opfer fiel. Anfang der 1980er Jahre war ich selbst einmal ganz kurz Mitglied einer K-Gruppe, die sich selbst als „Trotzkisten“ wahrnahmen. Es waren für mich damals alte Männer (so um die 30). Ich kann die kleine Nebengeschichte mit Köhlmeiers Freund Carlo (die er im zwölften Kapitel erzählt) gut nachvollziehen- im ironischen Sinn. Ich wurde damals von diesen Trotzkisten bewaffnet. Ich weiß nicht mehr, was das für eine Waffe war. Aber ich ging damit in den Ebersberger Forst und übte Schießen. Ich weiß nicht mehr, wie die Waffe verschwunden ist, wohin. So waren die 1980er. Dinge tauchten auf und verschwanden einfach wieder und wir Jungen waren alle meist viel zu zugedröhnt, um diesen Dingen nachzuspüren. Köhlmeier und sein Freund Carlo gehören eher der Generation an, die für mich damals alte Männer waren.
Die Geschichte von Köhlmeier wechselt oft in den Zeiten und nicht immer ist man gleich orientiert: Die Zeit im Pariser Exil, die Zeit auf dem Schiff, die Zeit in Russland (vor Paris, nach Paris?), die Zeit in den USA, als sie schon eine bekannte Architektin war, in Etticott, Maryland- . Dort übrigens gibt es keinen Perlemann-Platz oder ähnliches. Es gibt aber Etticott in Maryland.
Das ist eine besondere Frage an den Text. Denn Köhlmeier hat in jedem Fall recherchiert. So las er mit Sicherheit den Artikel „Kopfloses Rußland“ von Wiktor Jerofejew in der FAZ 2022 zum Anlass eines Kongresses von Philosophen, der sich nach dem berühmten Philosophenschiff benannte. Köhlmeier erzählt historisch nichts Neues, nur eben weniger Geläufiges. Mit seiner hundertjährigen Architektin hat er natürlich eine originelle Stimme gefunden, die dem realhistorischen Hintergrund eine gewisse literarische Apartheit gibt. Nun stellt man sich dennoch die Frage, warum er das so macht. Denn die Stellen, wo er sich um die alte Frau sorgt, wo er für sie kocht, wo sie einschläft, die sind erstens banal und zweitens Teil einer Fiktion, die der eigentlichen Geschichte in nichts dienlich ist. Es ist ein Fake. Ein Deep-Fake, weil die historischen Ereignisse ja stattfanden. In das Bild des Philosophenschiffs, hat Michael Köhlmeier eine hundertjährige Architektin einmontiert, wie jüngst die Prinzessin von Wales eine bessere Variante von sich selbst in ein Familienfoto. Was eine Prinzessin nicht darf, ist in der Literatur jederzeit erlaubt. Erlaubt ist aber auch zu fragen, wozu!? Denn die Geschichte über diese Säuberungsaktion der Bolschewisten, ist für sich schon ungeheuer. Ist es allein wegen des Bildes von Lenin? Köhlmeier stellt ihn als von mehreren Schlaganfällen gelähmten und damit auch symbolisch Machtlosen Führer vor, der „seine Worte an der gelähmten Zunge vorbeirollen muss“,  Ist es die Geschichte des Geheimdienstes über Tscheka, GPU? Beide Vorläufer des KGB gab es natürlich, wobei Köhlmeier da noch die Geschichte der Ochrana einbauen hätte müssen, zumal diese Geheimorganisation noch im zaristischen Russland gegründet wurde. Das machte Joseph Roth einmal viel besser mit seinem Roman „Beichte eines Mörders“. Hier wurde die Fiktion lebendig.

Meine Hauptkritik an dem Romanversuch von Köhlmeier ist daher auf zwei Füßen aufzustellen. Einmal die schon bemerkte Frage, warum denn das so fiktionalisieren? Und dann war mir das auch noch viel zu einseitig gegen den Kommunismus gerichtet. Der Roman gab mir also nichts zu denken, wie es die von den Mainstream-Medien und den großen Verlagen bezahlten Feuilletonisten  überall schrieben. Immerhin weiß ich jetzt Bescheid darüber, dass es den Begriff Philosophenschiff wirklich gibt, dass alles so stattgefunden hat mehr oder weniger. Aber die Verwicklungen und Unklarheiten der revolutionären Zeiten in der entstehenden Sowjetrepublik wurden mir nicht erklärt, nur offenkundig. Mir ist nach wie vor die Motivation nicht klar. Denn die Ereignisse um die Ausbürgerung, Säuberung, finden auch durch die Erzählerin Anouk Perlemann-Jakob keinen zentralen, leitmotivisch erkennbaren Strang. Und irgendwie habe ich das Gefühl, werde das komische Gefühl nicht los, dass Köhlmeier das Thema irgendwie verschenkt hat, novellistisch runterhackte. Ein großer Erzähler könnte daraus einen 500 Seiten Roman machen, der uns diese Zeit nahe bringt, der lebendige Figuren schafft. All das aufwendige Personal, all die Russen in der Novelle, sind lediglich erwähnt. Namen. Ich konnte einen guten Teil recherchieren und war dahingehend fasziniert, welche größere Bedeutung sie in der Kulturgeschichte Europas zum Teil spielten. So beginnt Huxleys schöne neue Welt mit einem Zitat von Nikolai Berdjajew. In Köhlmeiers Novelle ist das nur ein Name. Tatsächlich war er ein wichtiger Religionsphilosoph, der unter anderem auch mit Paul Tillich zusammenarbeitete. Der oft erwähnte Nikolai Gumiljow war ein Lyriker und Übersetzer, dessen Werke erst unter Gorbatschow wieder erlaubt waren in Russland. Der von ihm mitbegründete Akmeismus (Akme = Spitze, Reife, Höhepunkt) verbindet Ästhetik mit Mystik. Das kann nur der Russe. Und hier, zwischen Ästhetik und Mystik, in dieser Verbindung treffen sich auf der Linie Kaliningrad der Deutsche und der Russe. All das fehlte mir. Es wurde viel zu viel liegen gelassen, nur erwähnt und gleich wieder rauchend wegradiert von dieser bourgeoisen Architektin, die ja nur von Köhlmeier erfunden ist. Erfunden ist auch der auf Seite 89 erwähnte acht Meter lange Tisch der Michaelsburg. Der von Köhlmeier erwähnte Zar Paul I. war der Sohn von Katharina der Großen. Er schränkte die Macht der Großgrundbesitzer über die Leibeigenen ein, amnestierte politische Gefangene und schuf die Wehrpflicht ab. Köhlmeier erfindet stattdessen einen Tisch, der als plumper Witz auf Putin anspielt. Da wäre Zar Nikolaus I. eher interessant gewesen, der immerhin die Geheimpolizei der Ochrana ins Leben rief, um gegen die „Dekabristen“ vorzugehen, also gegen Aufständische Offiziere, die am 14. Dezember gegen Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zensur rebellierten.

Michael Köhlmeier ist ein großartiger Schriftsteller und vielleicht sollte man ihm, oder er sich einmal drei Jahre Zeit gönnen, für einen Roman. Es ist eine Zumutung für alle jedes Jahr einen Roman schreiben, veröffentlichen und lesen zu müssen von einem Autor. Als hätten wir nicht genug Autoren. Es ist eine Marktdiktatur, die langsam aber sicher die Nerven der Leser strapaziert und Leichte Kost ist nicht immer verträglicher in der Literatur. Hätte – so meine spitzzüngige Vermutung – Köhlmeier sich Zeit gelassen, wäre er irgendwann auf die Idee gekommen, einen richtigen Roman zu schreiben, der wirklich auf dem Schiff spielt oder wirklich von diesen Menschen handelt. Oder er hätte es bleiben lassen und daraus eine zehnseitige Kurzgeschichte gemacht. Denn was in dem Text wichtig ist und bemerkenswert, läßt sich in der Tat auf eine viel knappere Form reduzieren und dann wird es wieder zur Literatur, von der man Dichte oder Höhe, mitunter sogar Dichte und Höhe erwartet.

 

 

27. Februar 24

Kleine Probleme

Von Nele Pollatschek

Erschienen im Verlag Galiani 2024

 

Man braucht eigentlich nur einen Buchstaben zu streichen und die Sache ist erledigt.
Eine Liste mit 13 Punkten muss abgearbeitet werden. Und erst dann hat man sich verändert, wurde ein anderer und ist doch immer noch man selbst. So schraubt ein 49 jähriger Mann ein Bett zusammen für seine Tochter, putzt endlich die Wohnung, macht seine Steuererklärung, packt notdürftig Geschenke ein (es ist bald Sylvester), ruft endlich seinen Vater an, macht einen Nudelsalat und statt Feuerwerk eben Wunderkerzen, reinigt die Regenrinne, verfasst ein Lebenswerk, klärt das Verhältnis zu seiner Freundin, hört mit dem Rauchen auf und macht es gut. Weil er es einfach macht. Aber dazu muss man natürlich erst anfangen. Dieser zentrale Unterschied zwischen dem eigentlichen Tun (Machen) und der Vorstellung des Tuns (machen wollen zu müssen) widmete sich die Autorin Nele Pollatschek. Zwischen dem Faktor Arbeitseifer und dem Faktor Zeit schiebt man die Tätigkeit noch etwas heraus mit dem Argument, dass ja noch genug Zeit ist. Aber die Zeit ist ein gnadenloser Wirtschaftsfaktor. In einem klassischen Unternehmensumfeld schätzt der Mitarbeiter typischerweise den Aufwand und damit die Dauer eines Arbeitspaketes inklusive eines Puffers zur Erhöhung der eigenen Zuverlässigkeit. Aufgrund von Parkinsons Gesetz, das besagt, dass Puffer immer genutzt und nicht gekürzt werden, des Studentensyndroms, das besagt, dass so spät wie möglich begonnen wird, und kombiniert mit dem Gesetz von Murphy, das besagt, dass immer etwas schiefgeht, werden Verfrühungen nicht und Verspätungen immer weitergegeben. Im Critical Chain Projektmanagement, dem CCPM, werden daher Schätzungen für die einzelnen Arbeitspakete so gewählt, dass sie mit einer absoluten Wahrscheinlichkeit von ca. 50 % eintreffen. Die Differenz zu der klassischen Schätzung wird als gemeinschaftlicher Projektpuffer für alle Arbeitspakete an das Projektende gestellt. Hierdurch können sich Verfrühungen und Verspätungen ausgleichen, was wiederum genutzt wird, um diesen Puffer um 50 % zu kürzen. Das Ergebnis ist eine sehr hohe Termintreue verbunden mit einer Verkürzung der Durchlaufzeit um 25 %. Gut soweit. Die Frage ist nun, ob für Lars Schätzung für sein Lebenswerk das CCPM hilfreich wäre. Für die Regenrinne und den Nudelsalat könnte das noch zutreffen. Aber wie Lars schon beschreibt, ist das Leben kein Projekt, sondern eine Frage der Haltung. Du musst dein Leben ändern, so lautete vor Jahren ein Buchtitel von Peter Sloterdijk, Der Mensch bringt den Menschen hervor, aber nicht durch Arbeit an sich selbst, sondern durch Übung. Durch Wiederholung entsteht ein Gefühl von Sicherheit. So führen uns Exerzitien ins gelobte Land. Übung macht eben den berühmten Meister. Die Natur verlor jedoch ihre ontologische Autorität durch das menschliche Begehr nach Vollkommenheit. Ein defizitäres Menschenbild impliziert das jeweilige Streben des Menschen nach Vollkommenheit durch Einüben (Exerzitien). Ob das auf religiöser, sportlicher oder intellektueller Ebene geschieht, oder in ökonomischer, militärischer oder zwischenmenschlicher Ebene. Das ist Nietzsches Genealogie der Moral, ein immer Höher, immer Weiter. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist natürlich die, dass wir noch in den Höhlen säßen, wären alle so wie Lars und würden derart akrobatisch prokrastinieren. Die Kunst, dem Machen aus dem Weg zu gehen, die Kunst es sein zu lassen, bedarf mindestens ebenso intensiver Übung, ja sogar eine heiligen Form der Übung, dass man durchaus von religiösen Exerzitien sprechen kann, die mit Faulheit und Lustlosigkeit nicht ausreichend erklärt wird. Ein berühmter Vorläufer von Lars ist Oblomov. In der Umtriebigkeit und Vielbeschäftigtheit der Menschen um einen herum, fällt dem ruhenden Oblomov besonders auf, wie sinnlos und fragwürdig all die Tätigkeiten sind. Am Ende verfolgen sie lediglich das Ziel des Überlebens. Mitten im Tun, im Machen fällt uns nicht mehr auf, dass wir Leben. Dazu benötigen wir stets die passive Rezeption. Dem, der nichts tut, der ruht, dem fällt auf, fällt erst auf, was er getan hat, dass er gelebt hat. Also fragt man sich, ob die heute so in den kulturellen Hintergrund gedrängte Kontemplation durch die hypertrophe Betriebsamkeit des Menschen, nicht doch einer Renaissance bedarf. Dabei aber riskiert das einzelne Subjekt Demütigung. Denn eine nicht geputzte Wohnung, ein klebriger Boden, muffelnde Kleidung, all das ist nicht gesellschaftsfähig. Das für viele begehrte Bedürfnis nach Ruhe, nach Kontemplation, ist nicht gesellschaftsfähig. Man muss arbeiten gehen und seine Brötchen verdienen, man muss die Wohnung putzen, die Wäsche waschen, die Familie bekochen, Geschenke einkaufen gehen, man muss auch noch ein Lebenswerk schaffen, weil man ohne ein Lebenswerk nichts zählt. Wird aber so das ganze Leben nicht zu einer Einkaufsliste, To-do-Liste? Schule fertig machen, vernünftig werden, Berufsausbildung fertig machen, Karriere machen, Familie gründen, Kinder groß ziehen, Rente genießen, Urlaub machen, alt werden, weise werden, krank werden, und nicht vergessen zu sterben. Arbeit wird zur Abarbeit. Ich muss noch was abarbeiten, ist aber nicht vergleichbar mit arbeiten. Machen ist nicht gleich leben. Ein rechtes Maß zu finden, das mich als Subjekt so lässt wie ich bin und nicht zum gesellschaftlichen Maskenträger macht, der sozialen Normen nachjagt wie ein Schnäppchenjäger. Bei allem vergessen wir nur uns selbst und fragen uns am Ende nicht einmal mehr, wer wir sind. Da wir metaphysisch Obdachlose sind, unser Emoji verloren haben, verfolgen wir kaum noch höhere Ziele. Im Grunde geht es darum in dem Text von Nele Pollatschek. Denn Lars schafft all das, ändert sich, weil er ein höheres Ziel verfolgt und das ist die Rettung seiner großen Liebe. Dieses höhere Ziel ist ein ganz altes, romantisches Ziel und das war auch gemeint in der Gegenbewegung zur Aufklärung. Alles was wir tun, tun wir allein um glücklich zu sein. So hat Aristoteles des Menschen Ziel verortet. Sigmund Freud meinte dagegen, dass die Evolution für den Menschen kein Glück vorgesehen hat. Und gelernt haben wir, dass Glück stets mit Leid erkauft, erarbeitet wird. Mein Vater brachte es einst auf den Punkt: „Manchmal haue ich mir mit dem Hammer auf den Zeh, weil es so schön ist, wenn der Schmerz nachlässt.“
Lars arbeitet seine Liste gegen sich selbst ab. Sein Ziel ist es nicht, dass die Wohnung geputzt ist, die Regenrinne gesäubert, der Nudelsalat gemacht, sein Ziel ist es, Johanna zurückzugewinnen, sie von seiner Brauchbarkeit zu überzeugen, von seiner Fähigkeit sich ändern zu können. Du musst dein Leben ändern ist hier nicht bloßes Distinktionsgehabe. Es geht um sein menschliches Glück, das er wie einst Oblomov verspielen würde, wenn er weiter in seinem Nomos bliebe. Lars muss raus aus seiner Wohlfühlzone. Wir alle müssen raus aus unserer Wohlfühlzone. Und darin sehe ich das große Problem eines nietzscheanischen Über. Der Übermensch, der Superheld, der Supermarkt. Als sich Saulus zu Paulus wandelte, hat sich Saulus nicht verändert. Er stellte seine Fähigkeiten als Saulus nur einer neuen Sache in den Dienst. Weil man sich gar nicht ändern kann. Man bleibt sich immer gleich. Und Lars hat sich auch nicht verändert. Er hat sich nur einer Sache verschrieben und sich überwunden. Das ist nicht sich ändern, weil man sich bestenfalls zusammenreißen, disziplinieren kann und dadurch seine Trägheit überwindet. Dazu musst du ausreichend motiviert sein. Also kommt alles nur von außen. Und die Intention scheint eine Lüge zu sein. Doch hätten wir nicht unseren Selbstzweck, unsere Intention, wir wären nur Roboter. Der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und KI ist nun mal die Intention. Und Lars konnte die ungeputzte Wohnung als Problem erkennen, obwohl es für ihn kein Problem war. Das ist so verwirrend. Und sich einem Problem zu stellen, das man selbst gar nicht als ein Problem wahrnimmt, das ist wirklich eine Form der Überwindung. Oder doch nur Programmierung?

 

09. Januar 2024

 

Mann vom Meer

Von Volker Weidermann

Erschienen 2023 im Verlag Kiepenheuer & Witsch

 

Mein Auge war aufs hohe Meer gezogen; es schwoll empor, sich in sich selbst zu türmen, dann ließ es nach und schüttete die Wogen, des flachen Ufers Breite zu bestürmen.

 

Goethe ließ einst seinen berühmten Entrepreneur Faust auf einem Berggipfel sitzend, diese Sätze aussprechen. Die Szene spielt im vierten Akt des so umfassenden zweiten Teils der Tragödie. Doch Faust reagiert missmutig auf dieses Meeresschauspiel. Sie schleicht heran, an abertausend Enden, unfruchtbar selbst, Unfruchtbarkeit zu spenden; nun schwillt’s heran und wächst und rollt und überzieht der wüsten Strecke widerlich Gebiet, da herrscht Well‘ auf Welle kraftbegeistert, zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet, was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte! Zwecklose Kraft unbändiger Elemente!

Diese Kraft mit „überfliegendem Geist“ zu bändigen, wird Faust sich zur Aufgabe machen und am Ende wird dieser Ort sein Grab. Kein halbes Jahrhundert nach Goethes Tod kommt 1875 in Lübeck ein weiterer deutscher Dichterfürst zur Welt. Thomas Mann war Zeit seines Lebens im Vergleichsmodus mit dem Weimarer Adelsmann, der selbst aus bürgerlichen Verhältnissen heraus über diese hinaus wuchs und mit den Größten seiner Zeit verkehrte.
„Wir alle waren bestimmt, Weltkinder zu sein“, sagte einmal seine Tochter Monika Mann. Volker Weidermann machte eine Tauchfahrt in die Welt des  Meeres und erzählt uns dabei auch die Lebensgeschichte des „überfliegenden Geistes“ von Thomas Mann. Begleitet wird er von Thomas Manns jüngster Tochter Elisabeth, die wir alle in Breloers großartigem Filmroman „Die Manns“ als kommentierende Begleiterin kennen lernten. Das Meer als Symbol von Tod und Leben zugleich. Am Ende des Tauchgangs in die Meerwelt des „Da wo ich bin ist Deutschland Schriftstellers“  rieselt mariner Schnee herab und vereinigt das Schnee-Kapitel im Zauberberg mit dem Topos Meer.
Sand, Schnee und Meer werden zur Einheit.
Die Danakil-Wüste ist eine riesige Salzwüste an der Küste des roten Meeres. Der dort vom Wind aufgewirbelte Salzstaub geht auf die Reise bis zum Amazonasbecken, fällt dort herab und düngt den Boden derart mit Mineralstoffen, dass es nur so blüht. Die vielen Pflanzen im Amazonas verwandeln Kohlendioxid in Sauerstoffmengen, die ausreichen würden, die gesamte Menschheit 20 x mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Aber der Sauerstoff verlässt den Amazonas nie. Die vielen Tiere dort verbrauchen ihn selbst. Es ist das Wasser im Boden, das in den großen Bäumen nach oben steigt, oben dann zu einem gewaltigen Fluss aus Wolken wird. Diese Wolken ziehen bis zu den Anden, krachen dort gegen die Gebirgswände, der Regen der so entsteht wäscht Mineralien aus dem Gestein, das ganze fließt ins Meer, dort warten Kieselalgen, die dank der Mineralien sich fortpflanzen können. Diese Kieselalgen sind der größte Sauerstofflieferant. Sie betreiben Photosynthese. Wenn die Kieselalgen sterben, sinken sie als mariner Schnee auf den Meeresboden. Sie schmelzen aber nicht, sondern sammeln sich in Jahrmillionen an, heben den Boden. Der Meeresspiegel sinkt und es entsteht eine Salzwüste, wie die Danakil-Wüste, dessen Salzstaub wieder zum Amazonbecken fliegt und so schließt sich der Kreislauf. Denn das Wasser, das unserem Leibe dient und schmeichlt, und dem wir uns sorglos anvertrauen, es ist unser Element. Wir alle kommen aus diesem Wasser, bestehen zu großen Teilen daraus, so könnte man sagen, das Meer fließt in uns und wenn wir austrocknen werden wir zur Wüste und düngen das nächste Meer.

Mit Volker Weidermann reisen wir nun von Brasilien nach Lübeck und über München in an die Riviera und von dort nach Kalifornien. In vielen Variationen erläutert uns der Autor, den wir vor allem als Literaturkritiker des literarischen Quartetts kennen (von 2015-19 moderierte er die beliebte Literatursendung), den Meeresblick von Thomas Mann. Die Meeresstationen verwebt Weidermann geschickt mit Zitaten aus den Romanen von Thomas Mann, aber auch aus den Tagebüchern. Dabei steht das Verhältnis zu seiner jüngsten Tochter Elisabeth im Fokus der Betrachtung. Zu keinem seiner sechs Kinder hatte Thomas Mann ein so inniges Verhältnis, wie zu seinem Jüngsten. Das Meer kam von der Villa Boa Vista nach Lübeck und verdunkelte sich an der Ostsee. Erst in den USA wurde es für Thomas Mann wieder richtig hell.
Der Horizont, und dahinter wieder der Horizont. Bis zuletzt Land in Sicht ist, und dann ist der Horizont verschwunden. Du kannst ihn dann aber wieder sehen, wenn du dich herumdrehst.
Salzgeschmack, Tang, Muscheln, milde Winde, Welle auf Welle, sanft brausendes Getöse, eine Strömung führt uns zum Meer.

Volker Weidermann gab uns eine plausible Darstellung der stillen Hauptfigur im Werk von Thomas Mann. Derzeit moderiert der gebürtige Darmstädter Weidermann zusammen mit dem ehemaligen Tennisprofi und der studierten Politikwissenschaftlerin Andrea Petkovic für Zeit online den Seitenwechsel, ein Live-Talk über Literaturen.

Thomas Mann wird im nächsten Jahr 150 Jahre alt und man kann davon ausgehen, dass sich die Kulturindustrie schon etwas einschießt auf dieses Jubiläum. Weidermann machte den Anfang und zeigte uns in diesem literarischen und thematischen Portrait, dass noch immer nicht alles über Thomas Mann gesagt und geschrieben wurde. Vor allem wäre hier sein monumentales Spätwerk Joseph und seine Brüder zu nennen. Immer noch mein Lieblingswerk von Thomas Mann. Es schildert den Fall und Aufstieg des biblischen Joseph zum ägyptischen Pharao und gilt als endgültiges Bekenntnis Thomas Manns zur republikanischen Verfassung. Die Republik, die öffentliche Sache, das klingt auch nach der Offenheit des Meeres, seiner Weite und Endlosigkeit. Die Staatsform der Demokratie als Grundlage einer am Gemeinwohl orientierten republikanischen Verfassung ist offen, offen und weit. Ja, man könnte das Bild erweitern. Denn auch in der Demokratie sieht man den Horizont und dahinter den Horizont. Und wenn man sich umdreht wieder. Brisen und Stürme, Welle auf Welle, Strömungen, aber eben offen und frei wie das Meer. Wenn Thomas Mann 150 Jahre alt wird, werden wir das brauchen, mehr Meer.

 

 

Von Teufeln und Heiligen

Von Jean-Baptiste Andrea

Aus dem Französischen von Thomas Brovot
Erschienen im Jahr 2022 im Verlag btb

 

Vor 90 Jahren (1932) entdeckte ein französisch-amerikanisches Grabungsteam die Hauskirche von Dura Europos. Es ist die derzeit älteste, archäologisch nachgewiesene Kirche und entstand in der Zeit nach dem Tod Alexander des Großen, im Jahr 233 nach Christus. Ihre Lehmziegelreste ruhen in der römischen Provinz Koile Syrien, am Euphrat gelegen. Man fand dort viele Malereien, die heute in der Kunstgalerie der Yale-Universität hängen. Eines davon zeigt den Guten Hirten. Pastor Bonus ist eine der ältesten Bezeichnungen für Jesus Christus. Seine alttestamentarischen Vorbilder Abel, Abraham, Isaak und Jakob waren noch verantwortungsbewusste Führer ihres Volkes. Dann kam David, der erste Messias. Über ihn heißt es im Tanach, im Zwölfprophetenbuch: „Schlag den Hirten, dann werden sich die Schafe zerstreuen.“  Die Bedeutung dieses biblischen Satzes über den Mühlstein des Messias, wird uns klar in der Szene, als Joseph, der Ich-Erzähler des Romans seine wahre Sünde erkennt und Senac um Vergebung bittet. Vergebung wofür? Dass ich Sie gezwungen haben, mich zu bestrafen. Denn Sie sind ein guter Mensch. Meine Strafe ist auch Ihre Strafe, vor allem Ihre. Sie leiden noch mehr als ich, und das ist meine größte Sünde. (Seite 272)

Berühmt ist der Hirtenpsalm 23: Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen…ob ich schon wanderte im finsteren Tal...
Dieses finstere Tal liegt in dem Roman von Andrea in den Pyrenäen, nahe der spanischen Grenze und wird von der berühmten Mondscheinsonate von Beethoven begleitet, in cis-Moll, die der Komponist seiner jungen Klavierschülerin der Gräfin Julie (Giulietta) Guicciardi gewidmet haben soll. Im vorliegenden Roman heißt die kleine Julie Rose und ist gar keine Gräfin. Es ist die grausamste Tat des Pfarrer Senac, dass er der armen, lungenkranken Rose erzählte, dass Joseph sie verraten habe.
Joseph verliert seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz und kommt in ein abgelegenes Waisenhaus. Für ein langes Jahr erlebt er dort die Hölle und findet zugleich Lebensfreunde. Andrea erzählt uns die fürsorgliche Brutalität der Aufseher, denen die Kinder in diesem Waisenhaus gnadenlos ausgeliefert sind. Das ist fürwahr keine neue Geschichte. Senac ist ein Gegenentwurf zu Dr. Larch, dem wahrhaft guten Hirten aus dem Roman Von Gottes Werk & Teufels Beitrag, den John Irving 1985 geschrieben hatte, die Geschichte des Waisenjungen Homer Wells, den es in das St. Cloud in Maine verschlägt. Der äthersüchtige Wilbur Larch ist kein biblisches Vorbild. Doch die Titelwahl von Andrea verweist uns nicht ganz zufällig auf Irvings sechsten Roman, der 1999 verfilmt wurde. Gerade die Schneemetaphorik durchzieht auch Irvings Roman. Die Kälte in einer Kinderwelt ohne Heimat. Diese Welt da draußen ist hart und hat ihre Regeln, das ist auch ein Thema in Irvings Roman.
Doch die Welt im Confinium, der Grenze zwischen Morgen- und Abendrot, des confinia mortis, ist ungleich brutaler, kälter und verstörender. Es ist dort still, es wird nur geflüstert und die Schreie sind so leise, dass niemand sie hört.

Andrea erzählt uns zusätzlich von Freundschaft. Die Wacht ist das Zentrum der Waisenkinder und ein selbst gebauter Radio der nur einen Sender empfängt wird
zum magischen Objekt.
Die Geschichte ist spannend erzählt und gruselig zugleich, aber auch – um eine abgedroschene Synästhesie zu gebrauchen – bittersüß. Durch den dramaturgischen Aufbau einer Novelle wird die alte Geschichte vom Waisenkind in einen musikalischen Bezug gebracht, sozusagen als Lebensmelodie verarbeitet.
Von Jane Eyre bis zu den Orphan Black zieht sich die Waisenkind-Thematik. Sogar der berühmte James Bond wuchs als Waisenkind in einem Internat auf. Oliver Twist, Tom Sawyer, Pipi Langstrumpf, Jim Knopf, Rob Cole (Figur des Medicus) ja selbst Bambi waren alles Waisen. Die Liste ist gar nicht so kurz. Und für die Waisenkinder war immer die öffentliche Hand verantwortlich. Sie waren Mündel fremder Herren. Die Kirche hat sich immer rührend ihrer angenommen. Und so ist es eine besondere Wendung, als herauskommt, dass auch Pfarrer Senac einst ein Waisenkind war. Der Vater von allen, der gute Hirte ist der abwesende Vater. Die Macht ihrer Stellvertreter auf Erden geht so tief, weil sie auch spirituell nachwirkt. Es ist viel schwerer, sich von etwas zu befreien, das so abstrakt ist, wie das spirituelle Erziehungskonzept der Kirche. Es ist nicht nur schlecht, sonst hätte sich diese Institution nicht so lange halten können. Sie brachten die größten Geister hervor, aber auch die größten Sünder.  Die Humanisten suchten dann nach einer unabhängigen, persönlichen Auslegung des Evangeliums und einer Bewahrung des Glaubens durch ein frommes, tugendhaftes Leben. Sie landeten vielfach auf dem Scheiterhaufen. Dass Joseph nicht zerbrach, lag an der Musik, an seinem – keineswegs zärtlichen – Urmentor Rothenberg und es lag an der Mondlandung bzw. am Orbit des Mondes, an Michael Collins. Die dunkle Seite des Mondes in diesem kirchlichen Waisenhaus, die Stille, die Gespenster, den Mond zu umkreisen, ihn nicht zu betreten, als das größere Abenteuer, diese Metapher hat mir sehr gut gefallen. Diese dann mit Beethovens Mondsonate zu verschränken und zum Leitmotiv zu machen, ist gekonnt.

Insgesamt ist der Roman von Andrea rund und man merkt dem Text an, dass sein Autor ein geübter Drehbuchautor ist. Schon in seinem Debütroman Ma reine erzählt Andrea die Geschichte von einem zwölfjährigen Jungen. Hier lebt er mit seinen Eltern auf einer provenzalischen Tankstelle begibt sich auf die gefährliche Suche nach seiner Freundin. Diese Suchen nach Freundschaft und Liebe ist dann der Topos auch in dem vorliegenden Roman. Man kann gespannt sein, denn der Roman würde sich dazu eignen, verfilmt zu werden. So wie viele Waisenkind-Geschichten verfilmt wurden.

Das Thema Kirche und das Thema Waise. Andrea hat beide bedient und zusammengebracht. Und ob man den Kammerton A mit 440 Hz immer genau so spielen kann, ist ebenfalls eine schöne Metapher.
Tatsächlich gibt es in der hebräischen Philosophie zwei Begriffe, die jene von Rothenberg gemeinte in den Ton gelegte Emotion definieren. Metziut ist Ihre identifizierbare Präsentation als etwas ganz Eigenes. Wie das Wort „ist“ in „Das ist ein Pferd“. Oder einfach nur „Das Pferd ist es.“

Mahut ist das grundlegende Konzept dessen, was Sie sind, manchmal auch „Essenz“ genannt. Das „das“ von „Dieses Pferd ist“. Selbst wenn dieses Pferd nie existierte, selbst wenn es sich als etwas anderes als ein Pferd präsentierte, ist sein Mahut immer noch vorhanden. Das ist sehr platonisch. In diesem Sinne ist das Metziut das Momentum, die unmittelbare Existenz, also – wie die Kabbalisten es korrekt bezeichnen – die wahre Wirklichkeit. Doch da Musik nicht aus einem Ton besteht, sondern aus einer Schichtung von Tönen, die durch Rhythmus, Stil und musikalischer Syntax gebaut ist und nur als Ganzes wahrgenommen werden kann, ist der einzelne Ton in dieser Verbindung durch eine Brücke mit den anderen verbunden, die von den Kabbalisten als billul bezeichnet wird, als ein Nichts, das aber nicht nur Nichts ist, sondern – naja – was auch immer zwischen etwas und nichts ist. Dass Joseph an dem alten Klavier einmalig diesen Ton trifft und so die Grundtonart seines ganzen Lebens, das ist irgendwie auch beängstigend.

 

 

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