Literaturprojekt
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Chronik

Kraft

Von Jonas Lüscher

 

Verlag C.H. Beck 2017

 

Der studierte Volkswirt und promovierte Germanist Richard Kraft sitzt in Tübingen auf jenem Lehrstuhl, auf dem einst der moralische Zeigefinger Deutschlands Walter Jens saß. Eines Tages bekommt Kraft eine Email von einem alten Freund aus Studientagen, von Ivan Pánczél. Er wird eingeladen, bei einer Preisausschreibung in Stanford teilzunehmen.

Sieben Probleme quälen den Protagonisten Richard Kraft in Jonas Lüschers Debütroman: Einmal die Aufgabe selbst, einen 18-minütigen Aufsatz zu schreiben, der darlegt, warum alles was ist, gut ist und wie es noch besser werden könnte, was ihm schwer fällt, weil ihn zweitens die Zeitumstellung zu schaffen macht, die sich aus seiner Reise von Tübingen nach Stanford ergab, eine Reise, die ja die Aufgabe selbst erforderte und dann quält Kraft seine verzwickte familiäre Situation mit seiner aktuellen Ehefrau Heike und ihrem ausgeprägten Hallux und den beiden Zwillingstöchtern – später erfahren wir von einer weiteren Frau und zwei weiteren Kindern – dann als vierte Qual die aus der dritten Qual sich ergebenden finanziellen Probleme, eines Mannes, der sich schlicht übernommen hat in seinem Wunsch nach bürgerlicher Intimität durch Familie, und daraus die wieder als fünfte Qual resultierende Notwendigkeit, eben jenen Aufsatz über die Theodizee-Problematik zu schreiben, der ihm eine Million Dollar und damit die Freiheit einbrächte. Sechstens verstört ihn seine Herberge am Hoover Institution, einem Think Tank neoliberaler und konservativer Elite-Schmieder, worin sich eine mexikanische Raumpflegerin befindet und seine siebte Last durch ständige Saugerei verursacht.

Sie merken schon: Dem Sound des Romans nachempfunden, ist der erste Satz dieser Besprechung. Einige Rezensenten fanden das sperrig und zu sehr 19. Jahrhundert in der Sprache. Aber diese Sprache sowie der auktoriale Erzähler sind Programm dieses Romans. Schließlich geht es um die Gegenüberstellung des guten alten Bildungsideals nach Humboldt, einem Studium Generale als Grundlage. Richard Kraft findet darin das schöne Bild des Fuchses im Widerstreit mit dem Igel. Der Fuchs, so hatte er bei Isaiah Berlin gelesen, der damit ein Fragment des Archilochos zitierte, sei einer, der viele Dinge wisse, der Igel aber nur eine große Sache…(Seite 126). Der Fuchs ist hier natürlich das alte Bildungsideal und der Igel die digitale Welt des Silicon Valley. Aber – wie Richard Kraft immer wieder erkennen muss: So einfach ist es nicht. Nichts und nie. Und so überrascht ihn die Bildungsoffensive zweier junger Start-Up-Unternehmer, die er in einem Kaffee trifft, die von Tübingen als Hölderlin-Stadt sprechen, während sie Soylent-Green schlürfen und mit einem Famethrower in eine private Mädchenstube eindringen. Die alte Bildung ist nur noch Namedropping inmitten der Barbarei. Und bei Kraft ist es auch nicht anders.  Der utopistische Irrsinn des Jungmilliardärs Tobias Erkner (in dem Lüscher ein Porträt des Paypal-Gründers Elon Musk liefert), liefert dem Protagonisten Richard Kraft schließlich eine Power-Point-Option. Sogar der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima wird als Beweisführung angeführt. Mit Hilfe der Spieltheorie belegt der sophistisch geschulte Kraft, dass gerade dieser Bombenabwurf letztlich den dritten Weltkrieg verhinderte, dass die Erfindung der Atombombe zu einem Kräftegleichgewicht des Schreckens geführt habe und so summa summarum sechshundert Millionen achthundertsiebzigtausend Menschenleben gerettet habe (Seite 183).

Zwei Prinzipien werden angeführt: Trickle down und great chain of being. Die große Kette des Seins wird horizontal gedacht. So findet alles immer sein gutes Ende. Die Menschheit wird gerettet und alles bewegt sich zur großen Singularität, mit der die digitale Überhöhung der Technik zum erneuten Schöpfungswunder mutiert und dem Kapitalismus den religiösen Zauber verleiht, den der zitierte Joseph Vogl in seiner Oikodizee darstellte. Eine kulturelle Evolution, die sich Richard Kraft in der Fusion von Fuchs und Igel zum Stachelschwein vorstellt. Damit ist natürlich wieder die Ironie sichtbar, ist doch das Stachelschwein das bekannte Bild von Arthur Schopenhauer, warum die Menschen immer wieder die Nähe zueinander suchen, um Wärme zu erleben, nur um dann wieder von den Stacheln abgestoßen, das Weite zu suchen. Das erzählt uns der auktoriale Erzähler ja auch parabelhaft, wenn er die gescheiterten Versuche von Richard Kraft durch dekliniert, in denen Kraft vergeblich die Nestwärme der Familie suchte.
Ebenso ist es mit seiner Freundschaft zu Ivan Pánczél. Beide waren sie eine verschworene Gemeinschaft, die sich in Zeiten linker Deutungshoheit durch neoliberale Positionen absetzten und so einen Exzeptionalismus pflegten. Ivan stammt aus Ungarn und kam mit einer Schachgruppe nach Berlin, die ihn bei der Abreise schlicht vergaß. Ivan machte daraus eine Lebenslüge, verkaufte sich als Dissident und einen aus Erfahrung erwachsenen Antikommunisten. Aber der Zusammenbruch des Sozialismus machte seine Sonderstellung wieder zunichte, zudem kam die geistig-moralische Wende nicht mit dem konservativen Helmut Kohl, sondern mit dem linksliberalen Gerhard Schröder (Genosse der Bosse). So lässt Lüscher am Ende des Romans einen Veteran der alten französischen Linken auftreten, der als Gourmet und Weinkenner den Inbegriff der Bourgeoisie verkörpert. Krafts anämischer Sohn Dany heiratet eine protestantische Pastorin und komponiert eine Oper über das Mensch-Tier-Verhältnis, während sie in einem Vierkanthof in den neuen Bundesländern gegen die national befreite Zone kämpfen. Not triff also Elend. Und diese Speerspitze des alten Bildungsideals soll ernsthaft der Walze durch digitale, permanente Erneuerung, durch Disruption standhalten? Richard Kraft erhängt sich an der Glocke des Bücherturms des Hoover-Instituts.

Zugegeben: Der oft sehr überpointierte Erzähler, der sich ironisch-distanziert als „Wir“ bezeichnet (wir tun ihm sicherlich nicht unrecht, wenn wir annehmen…) kann einem auch ein wenig auf die Nerven gehen. Der hypotaktische Satzbau lässt einen immer wieder beim Lesen stolpern, und der alles in allem, nicht wirklich sympathische Held des Romans wird zum Ende, als er sich erhängt, nicht einmal betrauert. Sein Tod hängend am Hoover-Turm ist insgesamt eine Kuriosität, zumal er sich noch über den Famethrower freudianisch von seinen Töchtern dabei zusehen lassen möchte, zumindest könnte man das unterstellen. Dass ein gewisser Greg aus Winnipeg ausgerechnet mit I promise, whatever it is, it will be right versucht, Kraft davon abzuhalten, braucht eigentlich nicht mehr kommentiert zu werden. Insofern ist es treffend, wenn Lüscher auch Hugo von Hoffmannsthal zitiert (er werde ihm wie Pilze im Munde vermodern, S. 104), und damit aufzeigt, dass diese industrielle Revolution 4.0 (nach aktueller Zählungsweise) keineswegs für den Frieden klingelt, sondern für die apokalyptische Variante der Erneuerung: Die vollständig aufgeklärte Welt erstrahlt dann im Lichte triumphalen Unheils. Das lässt sich auch nicht „weg schulzen“.

 

Die steinerne Matratze  

von Margaret Atwood

 

Aus dem Englischen von Monika Baark Berlin Verlag, Berlin 2016

 

Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood wurde 1985 mit ihrem dystopischen Roman „der Report der Magd“ einem breiteren Publikum bekannt (verfilmt von Volker Schlöndorf 1990 unter dem Titel „Die Geschichte der Dienerin“). Darin schildert sie eine postapokalyptische Welt, in der die meisten Menschen durch Verstrahlung steril geworden sind. Sie beschreibt eine zukünftige Machtergreifung christlicher Eiferer in den USA. Dabei wird insbesondere die Stellung der Frau neu definiert: Frauen dürfen kein Eigentum besitzen und haben sich dem Mann vollständig unterzuordnen. Ihr Eigentum fällt an den nächsten männlichen Verwandten. Die einzige Aufgabe und Pflicht der Frau ist das Gebären von Kindern. „Zu viele Menschen ihrer Umgebung seien zu "sorglos", warnte Margaret Atwood, damals in einem Spiegel-Artikel. Zu oft bekomme sie zu hören "so etwas könne bei uns nicht passieren". Der Roman hat so einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet zur Emanzipation der Frau. Nicht überraschend, dass im April dieses Jahres eine neue Übersetzung dieses Romans erscheint – zumal die USA immer düsterer wird.

Jetzt hat sie einen Erzählband vorgelegt, der zeigt, dass Atwood nicht nur Science Fiction kann. Großartige Frauenportraits in einer nach wie vor von Männern dominierten Welt. Zugleich geht es auch um das Altwerden.
Unser bewusstes Jetzt verläuft nämlich auf einer Zeitschiene, einer geraden Linie, in nur eine Richtung. Der Vorteil: mit unserem produktiven Geist können wir an dieser Linie in jeder Richtung entlangwandern. Der Nachteil: Der Punkt auf der Linie von dem aus wir unseren produktiven Geist auf Wanderschaft schicken, bestimmt den Sound der Geschichten, die auf dieser Linie erzählt werden. Margaret Atwood hat eine Sammlung von Geschichten vorgelegt in der ein Großteil der Protagonisten so ziemlich am Ende der Zeitschiene leben. Und so erzählen sie ihre Geschichten als Rückblick auf ein gelebtes Leben. Der Sound ist also auch eine Art Abrechnung. Constance lebt in Alphinland und erinnert sich an Gavin. Er ist dann der Wiedergänger in der zweiten Geschichte, wo er von seiner deutlich jüngeren Frau Rey zur Ikone verulkt wird. Und die Dark Lady „Marjorie“ söhnt sich zum Ende des kleinen Episodenromans zu Beginn dieser Erzählungen mit Constance aus. Doch Atwood rechnet hier auch ein wenig mit dem Snobismus der so genannten Hochliteratur ab.

Schon dieser kleine Episodenroman hat es in sich. Wir Leser werden hineingezogen in das Liebesleben von eigentlich fünf Menschen. Da ist Constance, die Trash-Autorin, die sich in ihrem eigenen Plot verrannt hat und Sein und Schein verwechselt. Während Gavin der eitle aber im Grunde zur lächerlichen Ikone versteinerte Lyriker ist, der von der jungen Wissenschaftlerin Naveena interviewt wird, nicht etwa um seines Werkes willen, sondern ausgerechnet wegen seines Verhältnisses zu jener verwirrten Constance und ihrem zum Klassiker gewordenen Alphinland – was Gavin wiederum nicht fassen kann. Wie kann man eine wissenschaftliche Arbeit schreiben über so einen Schund?

Marjorie, anfangs am Rande erwähnt von Constance, taucht in der dritten Geschichte auf und sie wird mit ihrem schwulen Bruder zu einer umgedrehten Nemesis.

Die nächste Thematik in den Erzählungen: Der Verrat in der Liebe. Zwei Geschichten werden dabei aus männlicher Perspektive erzählt: „Der gefriergetrocknete Bräutigam“ und „Die tote Hand liebt dich“. Erstere Geschichte erzählt die Geschichte von Sam, der von seiner Frau aus der Wohnung geworfen wird. Atwood beginnt mit dem Satz „Die nächste Sache ist die, dass sein Auto nicht anspringt“, und schildert dann rückblickend erst einmal den Ablauf des Morgens und die Ausgangssituation bis sie erst sieben Seiten später wieder auf den Einstieg zurückkommt: „Da ist der Moment, als das Auto beschließt, nicht anzuspringen.“

Das ist dramaturgisch perfekt gemacht. Sam, ein Filou, ein Strizzi* wie man das in Wien nennt, stößt auf eine Frau, die ihren Bräutigam versehentlich bei BDSM-Sex erwürgte. Die Geschichte endet zwar offen. Aber man kann sich denken, wem Sam da auf den Leim gegangen ist. Ähnlich wie Bob (der Titel gebenden vorletzten Story) nicht ahnt, dass er gleich von einem Stromatolithen (steinerne Matratze) erschlagen wird. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck im Moment des Totschlags ist herrlich. Während Jack in der Geschichte „Die tote Hand liebt dich“ aus der Not heraus einen Horror-Klassiker schreibt. Eine absurd-lächerliche Vorlage für all die späteren Splatter-Storys über Untote.Auch hier rechnet Atwood mit dem Genre ab. Es ist eine meiner Lieblingsstorys in dem Band, weil sie hier schon zum zweiten Mal (nach Alphinland und dem ironischen Verweis auf die Fantasie-Hysterie) den entgrenzten Literaturbetrieb aufs Korn nimmt.

Atwood schafft es, in spannender, knapper und doch tiefschürfender Sprache komplizierte Beziehungen auf den berühmten Punkt zu bringen.

Um noch einmal auf meine Zeitschiene zurückzukommen: Vielleicht haben Sie es schon erlebt. Ich ja. Man begegnet einem Menschen, den man über Jahre nicht gesehen hat. Man erkennt ihn. Und wie eine unsichtbare Folie legt sich das alte Bild das man von ihm hat auf das neue Selbst, das da vor einem steht. Und man weiß: Dem anderen geht es ähnlich. Wir entwerfen ein Bild vom anderen, und zwar meist sofort nach der ersten Begegnung. Und dieses Bild bleibt, ist konservativ im Hirn verankert und will einfach nicht weggehen. Im Grunde geht es in den Geschichten von Margaret Atwood genau darum. Wir haben uns ein Leben entworfen. Rückblickend. Aus den vielen ersten Eindrücken. Wird man älter, dann flattert unser Bild zwischen jetzt und früher hin und her. Was immer noch besser ist, als ständig auf das grausame Ende der geraden Linie starren zu müssen.

Ein wenig aus dem Schema herausgefallen erscheint die Geschichte „Lusus Naturae“. Diese Wolfsfrau, die am Ende vom Mob getötet wird, verweist jedoch darauf, dass wir nicht nur ganz persönliche Vorurteile haben und Vorbilder, sondern diese auch kulturellen Schaden anrichten.

Zum Ende erzählt uns Atwood auf charmante Art eine Horrorvision. Und es ist schon düster, wie Tobias und Wilma allein und frierend in der Laube sitzen und dabei zusehen, wie das Altenheim abbrennt. Dass dabei ihre durch das Charles Bonnet-Syndrom (siehe Oliver Sacks Drachen, Doppelgänger und Dämonen: Über Menschen mit Halluzinationen) hervorgerufenen Männchen sich freudig umarmen, macht das düstere Bild perfekt.

Neun dramaturgisch elegante Geschichten, humorvoll, sarkastisch und mit einer Spritzigkeit erzählt, welche die meisten jüngeren Autoren ziemlich blass aussehen lassen. Chapeau.

 

 


* Strizzi (vom tschechischen strýc ‚Onkel‘) ist ein Ausdruck aus dem Wienerischen und steht für einen Zuhälter.

 

Idylle mit Professor

Von Renate Feyl


erschienen im Verlag DIANA 2013
erstmals im Verlag Berlin 1988

 

Der große Meister der deutschen Stilistik Ludwig Reiners erwähnt in seiner „Stilkunst“ den Sprachpapst Gottsched gerade zweimal. Einmal nennt er Gottscheds Stil eine „aufdröselnde Geschwätzigkeit“, die man zwar historisch erklären aber „nicht entschuldigen“ könne, dann erwähnt er den Regelpapst in seinem Kapitel „verblichene Bilder“ und zwar als schlechtes Beispiel (Deines Geistes hohes Feuer / schmelzte Rußlands tiefsten Schnee / und das Eis ward endlich teuer / an dem runden Kaspisee). Doch Renate Feyl geht es nicht darum sich über Gottsched lustig zu machen – auch wenn er in dem Roman durchaus auch komisch wirkt -, sondern ihr geht es um die Engstirnigkeit des Gelehrten und seine herrische Überlegenheitsgestik gegenüber seiner jungen Frau Viktoria (geborene Kulmus). Bis zum traurigen Ende seiner Frau ist der Mann an ihrer Seite der falschen Überzeugung, sie sei sein Produkt. Der Sprachenstreit des 18. Jahrhunderts um die Anomalisten und die Analogisten dient eher als Kulisse. Dass eine gewachsene Sprache keine innere Logik habe, dass Sprache künstlich geschaffen werden müsse, diese Anschauung aber passt zu einem Mann, für den Ordnung und Genauigkeit, Sauberkeit und sittliche Reinheit so sehr zum obersten Gebot alles Menschlichen zählen, dass dabei das eigentlich Menschliche geradezu zum Pejorativ wird. Die Ungerechtigkeiten dieses Mannes gegenüber seiner wissbegierigen und klugen Frau schildert Renate Feyl als  Reaktion darauf, dass sein eigener Stern verblasst. Die intellektuelle Eifersucht zwischen den Geschlechtern ist das ahistorische Thema dieses historischen Romans. Hinzu kommt, dass Gottscheds Lehre anachronistisch wird, was auch gut zum Veröffentlichungszeitpunkt des vorliegenden Romans 1988 passt, als auch der DDR-Staat in seiner Führungsriege anachronistisch wurde. Das mag Zufall sein, oder dem literarischen Instinkt von Renate Feyl geschuldet – sei ‚s drum. Historisch wurde Gottsched allerdings rehabilitiert. Nach dem siebenjährigen Krieg war Österreich so geschwächt, dass der oberdeutsche Weg (Bodmer, Lavater) nicht mehr möglich war. Als Österreich die allgemeine Schulpflicht einführte, galt Gottscheds Sprachenlehre. Dennoch blieb nicht Gottsched, sondern Lessing und Klopstock. Dass einst das meißnerisch-sächsische als deutsche Hochsprache galt, wissen viele nicht mehr. Auch für Goethe, als dieser als junger Mann nach Leipzig kam, war dies bindend.

Feyl liefert in ihrem Roman ein stimmiges Portrait dieser beeindruckenden Frau, die in einer Zeit lebte, die den Frauen generell jegliche akademische Würde absprach. Selbst als „gelehrteste Frau Deutschlands“ (Marie-Theresia) war sie „nur“ ein Produkt ihres Mannes. Und ihre Selbstständigkeit war jederzeit ein Affront und geradezu eine Sünde. Dass ihr Mann sie dann schamlos betrügt, sogar ihre Post unterschlägt und Lügen über sie verbreitet (sie könne kein Latein), ist der Gipfel der Ungerechtigkeit. Johann Christoph Gottsched wird zum schmalbrüstigen, hartleibigen Korinthenkacker, der Hexameter und Daktylen mit dem Finger abzählt und so weit entfernt ist von der Poesie, dass man sich als Leser ziemlich gut vorstellen kann, welche Intension der Sturm und Drang dann hatte. Immer mehr entfernt sich Viktoria von ihrem Mann und so leider auch von der Welt. Ein erschütternder Rückzug in ihre Traumwelt, von der gefeierten Übersetzerin zur Taubenfütterin, die Wut und moralischen Ekel gegenüber ihrem verständnislosen Ehemann auslöst. Als sehr junge Frau gerät Viktoria in diese Ehe. Sie ist unerfahren, schaut zu ihrem erfolgreichen Ehemann auf und wünscht sich dabei nichts anderes, als ihm zu dienen. Dabei entdeckt sie zunehmend die Welt des Geistes, des Wortes für sich, entwickelt eigene Gedanken und erfährt so, dass ihr Mann sich zunehmend lächerlich macht. Sie will ihm auch da noch helfen, ihn warnen. Aber Gottsched ist zu selbstgerecht, zu sehr von sich überzeugt und gleichzeitig so voller Minderwertigkeitsgefühle, dass er nicht erträgt, wenn das Licht seiner Frau heller strahlt als seines. Noch ganz im Schatten des sittlichen Ehebegriffs der Reformation spürt man das vorsichtige Aufkommen der Idee einer Liebesheirat. In der Poesie, in der Sehnsucht nach einer erfüllenden Liebe erfährt Viktoria die harte Realität ihrer Existenz. Der Ehemann verfügt über sie. Er nimmt ihr den Schlüssel zur Haushaltskasse, er untergräbt Viktorias Karriere. So unterstützt er sie scheinbar, als Viktoria sich ziert, Voltaire zu treffen, nur um selbst sich mit diesem großen Geist zu treffen und sich in dessen Glanz zu sonnen. Diese widerliche Verlogenheit Gottscheds verringert ihn zusehends. Zum Ende verachtet Viktoria den einst Erhöhten. Sogar im Angesicht des Todes schickt sie ihn nur aus ihrem Zimmer. Aber sogar nach ihrem bitteren Tod weiß ihr Ehemann lediglich den Nutzen zu ziehen und verkauft seine tote Frau als sein Produkt. Das alles ist so abstoßend, dass man das kaum noch überbieten kann. Schlimmer: Es ist kein Sonderfall, sondern verweist auf das hierarchische Gefüge zwischen Mann und Frau wie es Jahrhunderte galt und zum Teil noch heute wirkt. Gottsched handelt abstoßend. Aber es scheint ihm gar nicht so vorzukommen. Er ist geradezu auf naive Art widerlich. Männer haben sich Jahrhunderte lang ein Frauenbild erzählt, ein Bild das phantastisch ist im Wortsinne. Um existenzielle Krisen zu umgehen, waren viele Frauen gezwungen, diese Erzählungen der Männer zu glauben. Viktoria glaubt sie nicht mehr. Aber sie erfährt eine Welt, die fest daran glaubt. Als sie ihre Geschichte der deutschen Lyrik nicht veröffentlichen kann und den lächerlichen Dichter seinen Hofstaat begrüßen sieht, wird ihr die Welt fade und schal. Sie stirbt daran. Die Macht dieser phantastischen Erzählung der Männer, was eine Frau sei, tötet Viktoria. Die Ärzte lassen sie zur Ader, geben ihr Pillen. Sie verstehen nichts. Die dramatische Ironie: Wir Leser verstehen. Und es schmerzt. Denn Viktoria geborene Kulmus wird heute weiterhin kaum gewürdigt. Renate Feyl hat zumindest wieder an sie erinnert, und an die herausragenden Leistungen dieser Frau, die sie unabhängig von ihrem Mann leistete. Sie war nicht „das Paradies seiner Augen, die Göttin seiner Lust“, sie war selbst lustvoll und schuf sich ein eigenes Paradies. Ihr Mann hatte darin dann keinen Platz mehr, er war dessen letztlich auch nicht würdig. Doch am Ende ist Viktorias selbst erschaffenes Paradies unerträglich einsam.

 

Handbibliothek der Unbehausten

Von Volker Braun

Erschienen  2016 im Verlag Suhrkamp

 

Unbehaust, zwischen den Dämonen und der Wilderness von Miltons verlorenem Paradies, zwischen China und Eisleben, zwischen der Ukraine und Santorin, waren wir nicht gefasst auf die Welt (Seite 10). Und jetzt ist diese Welt von der Schließung bedroht (Seite 47).  Die Menschen werden rausgeschmissen (Nu ma raus mitten menschlichen Wesen, Seite 56).  Schon früher schlugen wir Köpfe ab (Seite 61) und stapelten sie (Seite 40).

Kein großer Optimismus, den Volker Braun in seinem aktuellen Gedicht-Band verbreitet. Und doch ist es kein Pessimismus: „Wie reich wir geworden sind / Und andererseits wie sorgenvoll / Es ist die beste Zeit / Wir erhalten viel / und wir verlieren viel“ (Seite 21). So nah liegt Major dem Minor, wie schon zu Giurdano Brunos Zeiten (dessen Buch so hieß).
Goethe, Dante, Milton, Brecht, ein paar Chinesen (Lao Mas), Mythen, auch die urbanen Mythen eines Roland Barthes, - so breit aufgestellt ist diese elektrisierende Sammlung. Und zugleich gibt es eine entscheidende Stoßrichtung, in die nahezu alle Gedichte gehen. Es geht hier ums Ganze und dabei ist das Subjekt zum restlos verwalteten Objekt geworden. Unsere Sehnsuchtsorte wurden zum belanglosen FKK-Strand (Hiddensee) und überall ist Ausverkauf. Totale Verwertung (Das ganze Leben warfen wir inn Handel, Seite 45), zwischen Krieg und Frieden gibt es keinen Unterschied mehr (Seite 56) und der Mensch fährt bald ins Funkloch. Verfasst im Sonette, Blankvers, im Paarreim sogar, oder reines Prosagedicht, so wunderschön erfasst wie in „Steinbrech“ (Seite 31).  Aber Volker Braun, der vom Roman bis zum Schauspiel schon alles geschrieben hat, kopiert nicht nur, sondern verwandelt die Formen auch, wie in „Telephos an Papenfuss“, wo Geschichte auf hegelianische Art ineinander fährt und Lyrik zur dialektischen Kraft wird. Da wird in einem Gedicht von Publius Syrius (römischer Mimen-Autor 1. Jhdt. v. Chr.) über Tolstoi bis zum Berliner Dialekt gewandert, eben unbehaust.

Volker Braun, der politische Autor schlechthin (Hinze und Kunze), war schon immer ein formreicher, stilsicherer Kritiker der Verhältnisse. Er gehörte 1976 zu einem der ersten, die sich gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann aussprach, verließ 1982 den Schriftstellerverband der DDR,  er war jahrelang Mitarbeiter und Mitherausgeber von ARGUMENT (sozialpolitisches Magazin), und immer ein Streiter für eine bessere Welt. In seinem berühmten Gedicht „Das Eigentum“ von 1990 brachte er – noch heute gültig – die Wende auf den Punkt. Und vieles in dem Band spricht wohl auch stark aus dem Mund des gebürtigen Dresdner. Wenn er diesen kuriosen Brückenstreit um das Weltkulturerbe Elbtal aufgreift und – auch hier dialektisch in nuce – die eigene Kindheit ins Jetzt leitet und zugleich das Leitmotiv der Hass-PEGIDA dekonstruiert. 

Volker Braun erfasst hier die Welt, vom Gezi-Park bis Yukatan.

„Die Zukunft“, sagte Volker Braun 2015 in einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung einmal, „die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen“. So spricht einer der letzten autonomen und freien Autoren. So spricht also einer, der kein „beklagenswerter Mensch“ ist, „der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet als der Taglöhner mit dem schlechtesten!“ (Schiller, Antrittsvorlesung in Jena 1789). Denn das spürt man den Gedichten schon an, dass hier mehr verhandelt wird, als nur eine Evaluation der Geschichte. Hier ist ein Lyrikband, der kein „Projekt“ ist, kein „großartiges Unternehmen, das zu breit angelegt ist, als dass aus ihm etwas werden könnte“ (Daniel Defoe: Über Projektmacherei), nein, hier ist etwas geworden, aus dem was gewesen ist, auch wenn es kein Halten mehr ist, und sich abschafft (Seite 52). Denn es ist klar, dass jemand, der unkündbar ist, wie das Elend (Seite 46), der ein Wesen besitzt, das ihn einerseits heiter und andererseits trüber macht (Seite 27), dass so jemand schwer verwertbar ist. Da ist es dann schön, wenn ein Lyrikband es in die Feuilletons schafft, in diese gewitzte Verwertungsrubrik der Geistesarbeiter. Warum? Weil er so schön mit den Vogelstimmen der Zitateschätze jongliert und ein feuchtes Beben erzwitschert in jedem dieser um Humboldt trauernden Bologna-Evaluierten Goethe, Schiller und Brecht zitierenden Tagesschreiber. Hier fügt sich dialektisch das Unzeitgemäße in den Zeitgeist und hat so eine leise Sprengkraft in so Sätzen wie: „Wo will diese Menschheit hin und landen und untergehen?“ Da wird in einem Satz die kritische Vernunft lebendig, ohne Ressentiment, ohne Hass, eben heiter und trüber. Was ist aber nun diese Dialektik? Nicht nur einfach Synthese, sondern in ihr zugleich Antithese und These entfaltend, eben in eine Zukunft, die gestaltet werden sollte, und nicht verwaltet und nur vorhergesehen. Denn so eine Menschheit, die sich derart vergisst, ist Wilderness, ist unbehaust und schafft sich am Ende aus verwaltungstechnischen Gründen selber ab.

 

Der Schatten des Körpers des Kutschers

von Peter Weiß

Erscheint im Jahr 1960

 

Der 23jährige Beckett schreibt in Dante ... Bruno. Vico ... Joyce, einem Essay aus dem Buch "our  exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress" folgendes:

Hier (gemeint ist Joyce) haben Sie unmittelbaren Ausdruck, Seiten über Seiten davon. Und wenn Sie das nicht verstehen, meine Damen und Herren, so liegt es daran, daß Sie zu dekadent sind, um es zu fassen. Sie sind ja nicht eher zufrieden, als bis Form und Gehalt so säuberlich voneinander geschieden sind, daß Sie das eine verstehen können, fast ohne sich um das andere zu kümmern. Dieses schnelle Absahnen und Aufschlecken der dünnen Sinnschicht wird nur durch das ermöglicht, was ich als einen fortlaufenden Prozeß wortreichen intellektuellen Gesabbers bezeichnen möchte. Als ein eigenmächtiges und unabhängiges Phänomen kann die Form keine höhere Funktion erfüllen als die, auslösender Reiz für einen Pawlowschen, bedingten Reflex tröpfelnden Verstehens aus dritter oder vierter Hand zu sein.

Beckett warnt uns vor „der  zeilenschinderischen Vulgarität einer Literatur der Beschreibung". Gemeint ist das, was heutzutage Standard der Erzählkultur ausmacht. Auf viele Hundert Seiten aufgeblähtes Geschwätz mit dem voraussehbaren Ziel, sofort verstanden zu werden und „verschlungen“ zu werden. Instand-Literatur, Markt orientiert und luftdicht verpackt.  Die Unzufriedenheit der Autoren in den 1960er Jahren entspringt einer Sehnsucht nach Wahrheit. Im Nachwort zur Anthologie Tausend Gramm schreibt Wolfgang Weyrauch: „In der gegenwärtigen deutschen Prosa sind mehrere Schriftsteller erschienen, die versuchen, unsre blinden Augen sehend, unsre tauben Ohren hörend und unsre schreienden Münder artikuliert zu machen.“ Er nennt diese Literatur „Kahlschlag“. „Die Schönheit“, schreibt Weyrauch in diesem Nachwort „ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser.“

Laut Weihrauch gibt es  vier Kategorien von Schriftstellern.

  1. Die einen schreiben das, was nicht sein sollte.
  2. Die andern schreiben das, was nicht ist.
  3. Die dritten schreiben das, was ist.
  4. Die vierten schreiben das, was sein sollte.

Die Schriftsteller des Kahlschlags gehören zur dritten Kategorie.“

  In der Wiederauflage der Anthologie Tausend Gramm im Einheitsjahr 1989, schreibt Charles Schüddekopf im dortigen Nachwort:

Die wuchernden Müllhalden sind in Verruf geraten. Von ihren Kritikern werden sie als zivilisatorische Krebsgeschwüre diagnostiziert und als ein Symptom des allgemeinen Untergangs verstanden. Selbst die kühle Sprache der chemischen Analyseergebnisse über die verscharrten Gifte bebildert die Müllhalde heimlich mit Endzeitphantasien über eine Gesellschaft, die den Kannibalismus in der Südsee und anderswo glücklich dominiert und nun begriffen hat, dass sie selbst der Wilde wie auch ihr eigenes Opfer ist.“

Peter Weiß hat mit dieser einmaligen Prosa den Versuch des Nouveau Roman gewagt. Er hat dann eigentlich nichts Vergleichbares mehr geschrieben. Seine anderen Texte sind auch anders. Aber so entstand eine Episode in der deutschsprachigen Literatur, ohne die Peter Handke oder Ror Wolf nicht zustande gekommen wären. Alles Schnee von gestern. Die Vorbilder: Robbe Grillet, Nathalie Sarraute, aber auch Kafka, Beckett, Joyce. All das ist Literaturgeschichte. Der „Mikroroman“, wie Peter Weiß den Text selbst nannte, hat so gut wie keinen Plot. Die Dramaturgie wird allein durch einen beobachtenden, schreibenden und sich kaum einmischenden Ich-Erzähler dominiert. Der Ich-Erzähler streut sich Salz in die Augen, um eine andere Sichtweise zu bekommen. Die Genauigkeit des Beschreibens der Ereignisse mündet in einem Geschlechtsakt von zwei Schatten. Diese Passage weckt Assoziationen zu Platons berühmtem Höhlengleichnis. Davor erzählt er in zehn Abschnitten von einem Essen auf einem Landgut mit mehreren Gästen. Durch die Art der Beschreibung wird das Geschehen geradezu surreal - obwohl sich der Erzähler um Genauigkeit der Darstellung bemüht, oder gerade deshalb (wie in der Kohlen-Episode im letzten Abschnitt). Zu einer programmatischen Schlüsselszene kommt es schon zu Anfang des Textes: „…man folgt der Rede des einen und setzt dann mit der Rede eines anderen fort, man liest die Beschreibung des Schauplatzes einer Handlung und gleitet dann zum Schauplatz einer anderen Handlung über…“, erzählt der auf dem „Abtritt“ sich befindende Erzähler, während er altes Zeitungspapier beschreibt, das dort ausliegt. Die Kollage dieser Berichte dient als Toilettenpapier. Es wird immer und immer wieder gelesen, teilweise sind es Jahre alte Berichte.
Radikale Subjektivität soll größtmögliche Objektivität herstellen. Der Erzähler ist kein Konstrukteur von Ereignissen, sondern ausschließlich eine Kamera. In den vielen hypotaktisch gebauten Sätzen versucht Peter Weiß auch die Gleichzeitigkeit des Beobachteten zu fassen. Dadurch entsteht das Phänomen, dass die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit. Der Erzähler wendet eine Form der Distribution an, Dieses sprachanalytische Verfahren macht die Ereignisse so verstörend. Dazu verwendet Peter Weiß Ellipsen, die er bei den Dialogen anwendet, von denen der Erzähler immer nur Bruchstücke wahrnimmt. Die Bruchstücke deuten auf das Emotionale in den Dialogen, sind also von Weiß bewusst so gewählt worden, um den Dialog trotz der Ellipsen im Kern verstehbar zu machen.

Zusammenfassend:

  • Radikal subjektive Erzählweise
  • Größtmögliche Objektivität der Kamera
  • Gleichzeitigkeit der Ereignisse
  • Hypotaktischer Sprachbau
  • Ellipsen bei den Dialogen

Am Ende lässt sich zu dem sprachlichen Experiment sagen, dass der Text nicht länger hätte sein dürfen. Sonst wäre er ganz und gar unerträglich geworden. Es sind in dem Text aber so viele wunderbare Sprachperlen enthalten, dass dieser Mikroroman zu Recht in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Ganz anders ist ja das große Werk „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiß. Dieser ist ein klassischer Gesprächsroman mit essayistischem, intellektuellem Anspruch.
Die Kollagen in dem Mikroroman sind weniger überzeugend. Aber sie haben in Ror Wolf einen genialen Epigonen gefunden.

 

Washington Square

Von Henry James

Ins Deutsche übertragen von Bettina Blumenberg

Erschienen zuletzt 2015 im Verlag btb

 

Der 1880 erstmals als Serie im Harpers Magazin erschienene Roman von Henry James soll auf einer wahren Geschichte basieren, die ihm die Schauspielerin Fanny Kemble erzählte. Doch die tragikomische Vater-Tochter-Geschichte könnte auch viele Anleihen aus dem privaten Binnenraum von James selbst haben. Henry James hatte neben seinen drei Brüdern auch eine Schwester, Alice. Ihr Vater Henry James Sr. war der festen Überzeugung, dass Bildung der natürlichen Würde und Aufgabe der Frau schaden könnte (ähnlich wie Austin Sloper). Während die Brüder die beste Ausbildung bekamen (William James wurde ein berühmter Psychologe und Philosoph), wurde Alice schlicht nur hysterisch, worunter sie litt, weil sie keine „richtige Krankheit“ (Diary von Alice James) hatte. Als Alice mit 43 Jahren an Krebs erkrankte, schrieb sie in ihr Tagebuch: “Dem der wartet wird gegeben! ... Seit ich krank bin, habe ich mich nach irgendeiner handgreiflichen Krankheit gesehnt, egal was für einen fürchterlichen Namen sie haben mochte.” 
Heute weiß man (am Beispiel Virginia Woolf), dass die Hysterie im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch auftaucht. Dafür gibt es im Fall von Alice keine hinreichenden Beweise, aber der hier vorliegende Roman von Henry James erzählt zumindest die Geschichte eines Missbrauchs. Nicht sexueller Natur, aber Machtmissbrauch und Manipulation. Erst zum Ende des Romans, als Catherine das erneute Angebot von Morris Townsend ihn zu heiraten endgültig ablehnt, trifft sie eine eigenständige Entscheidung. Davor ist sie mehr oder weniger das Manipulations-Objekt von Lavinia Penniman (ihrer Tante), dem Liebeswerben von Morris Townsend und dem strengen Regiment ihres Vaters Austin Sloper. Die manipulative Kraft des Arztes Austin Sloper reicht sogar, um die Schwester von Morris Townsend gegen ihre ureigene Schwesterliebe verstoßen zu lassen. Sie verrät ihren Bruder, indem sie ausruft: „lassen Sie nicht zu, dass sie ihn heiratet.“
Morris Townsend ist tatsächlich ein Mitgiftjäger und äußerst berechnend. Aber auch Catherines allzu selbstgerechter Vater Austin kam nicht anders in seine gesellschaftliche Position, als durch seine Heirat. Allerdings: der auktoriale Erzähler in dem Roman verweist uns mehrfach darauf, dass dies für viele junge Männer die einzige und eine durchaus ehrbare Möglichkeit war, ihre Talente zu entfalten. Wenn Austin Sloper also Townsend als zukünftigen Schwiegersohn ablehnt, dann sicher nicht wegen seiner materiellen Einstellung, obwohl er genau das als Argument vorbringt. Vielmehr verbergen sich dahinter eine Form der Eifersucht und ein patriarchaler Anspruch. Austin Sloper ist das ranghöchste Männchen in seiner kleinen und überschaubaren Gruppe. Morris Townsend ist für ihn eine Bedrohung. Folglich beißt er ihn weg. Parallel ist Catherine auch der Spielball einer Geschwister-Fehde. Denn Lavinia ist ja die Kupplerin und will Catherine auf ihre Seite ziehen, trifft sich heimlich mit Morris, und strickt an ihrem romanhaften Weltbild. Austin Sloper ist daher auch als Beschützer seiner Tochter zu sehen. Und der unbekannte Erzähler wird ja nicht müde darin, Sloper zu loben, als intelligenten und gerechten Mann. Austin Sloper macht es sich nicht einfach (Seite 64/65, da ringt er mit sich). Er will Townsend ja eine Chance geben. Aber zugleich spürt der Leser des Textes, dass das irgendwie geheuchelt ist. Vielleicht, weil der unbekannte Erzähler den Arzt ein oder zwei Mal zu oft lobt.
Als Austin mit seiner Tochter die Europatour macht, sagt er ihr einmal sehr deutlich: „Ich bin kein guter Mensch.“ Damit widerspricht Austin dem Erzähler. Catherine hält dennoch weiter stoisch zu ihrem Vater. Sie könnte eine unabhängige Entscheidung treffen, denn das Erbe von ihrer Mutter reichte aus, um mit Morris ein sorgenfreies Leben zu führen. Aber für Morris und wohl auch Catherine wäre es eine gesellschaftliche Demütigung, wenn der Vater sie des väterlichen Teils enterbt. Es geht also mitnichten ums Geld. Es geht um gesellschaftliche Anerkennung, welche über das Geld kanalisiert wird. Hier ist die Analyse im Nachwort der Übersetzung ein wenig zu verkürzt und auch zu banal. Denn zu allen Zeiten tragen wir unsere gesellschaftlichen Verhältnisse in der Geldbörse mit. Hier ist es komplizierter, denn Name und Ehre sind noch enger mit dem Geld verknüpft. Heutzutage reicht Geld. Name und Ehre wurden längst Archaismen. Der Hinweis der Übersetzerin auf den Rechtsphilosophen  John Austin (als möglicher Vornamensgeber), der in seiner Philosophie positivistischer Rechtsauffassung Recht und Moral trennt, genügt mir auch nicht, um Austin Slopers kompliziertes Innenleben zu beschreiben. Einerseits ist er selbstgerecht bis zum Hochmut, andererseits hat er auch einen hohen Anspruch an sich und andere. Er ist zugleich Patriarch und liebender Vater. Während seine Tochter von geradezu entwaffnender Direktheit ist, kann der Arzt seine Tochter nur hinter einem prätentiösen Schleier wahrnehmen. Er will das Höchste für seine Tochter und hält doch so wenig von ihr. Er spürt auch, dass er sie unterschätzt, und will sie doch als Patriarch an der Stelle haben, wo er sie hingestellt hat.
Entlarvend für das Scheitern an der eigenen Prätention ist ein Gespräch zwischen Austin Sloper mit seiner Schwester Mrs. Almond:
„Wirst du denn nicht einlenken?“
„Lässt sich ein geometrischer Lehrsatz zum Einlenken bewegen? Ich bin nicht so oberflächlich.“
„Handelt die Geometrie nicht von Oberflächen?“, fragte Mrs. Almond, die, wie wir wissen, sehr gescheit war; und sie lächelte dabei.
(Seite 149)
Sloper versucht sich zu retten, indem er das Gleichnis weiterführt (Ja, aber sie befasst sich tiefgründig mit ihnen, Catherine und ihr junger Mann sind meine Oberflächen; ich habe bei ihnen Maß genommen). Der „gerechte Patriarch“ Sloper als Urbild des Gruppenführers, dessen Maß allein gerecht ist. Das könnte auch der Vater der James gewesen sein. Henry James Sr., der mit 13 Jahren beim Versuch ein Feuer mit den Füßen auszutreten ein Bein verlor, der sich trotzdem durchsetzte und Theologie studierte (später zur New Church übertrat), mit den amerikanischen Größen seiner Zeit befreundet war (Thoreau, Ralph Waldo Emerson, Thomas Carlyle), der mit Mary Walsh (die Tochter eines Princeton-Gelehrten) ebenfalls in höhere Kreise einheiratete und mit eben dieser Mary in Washington Square lebte, mit deren Kinder, Henry, William und Alice. Und Alice wurde ähnlich unterdrückt, wie Catherine in dem vorliegenden Roman. Zwei Jahre nach Alice‘ Tod bekam William ihr Tagebuch zugeschickt. William schrieb an seinen Bruder Henry: “Das Tagebuch hinterläßt einen einmaligen und tragischen Eindruck von persönlicher Stärke, die sich an nichts auslassen konnte.” Womit er im Wesentlichen das übliche Schicksal weiblichen geistigen Strebens im 19. Jahrhundert genau erfasst hat.
Im Roman findet Catherine ihren kleinen Machtbereich in der Wohltätigkeit. Dort – im Rahmen eines VG-Tarifs (Vergelts Gott Tarif) – durften sich die Frauen noch austoben (ein sicher hier ironisch zu verstehendes Verb). Catherine erlebt einen kleinen Sieg über ihre Tante, weil ihr die jungen Mädchen die  Liebesgeschichten erzählen, nicht Lavinia. Das liegt daran, dass Catherine einfach ernster ist und emanzipierter, während ihre Tante eher noch wie ein Kind das Leben spielt.

Washington Square gilt als einer der einfacheren Romane von Henry James, relativ klar und chronologisch erzählt, keineswegs so verschachtelt wie zum Beispiel Portrait of a young lady, welcher nur ein Jahr später veröffentlicht wurde. Aber so einfach wie er geschrieben ist, ist der Roman auch wieder nicht. Warum der Autor ihn selbst nicht besonders schätzte, weiß ich nicht. Vielleicht ist wirklich zu viel privater Binnenraum darin. Dann wäre es auch ein Stück Abrechnung mit dem eigenen Vater. Das kann für einen Schriftsteller nie so befriedigend sein, wie für den Leser.

 

 

Hier spricht Guantánamo

Von Roger Willemsen

Erschienen 2006 im Verlag Fischer

 

Was tun? Anzeige erstatten wegen Körperverletzung, ganz klar. (Briefe von Ulrike Meinhof aus der Isolationshaft)

 

Die Camera silens ist eine kleine Zelle, in der Tag und Nacht die Neonbeleuchtung eingeschaltet ist, erfüllt von einem ständig gleichlauten Summen. Der Delinquent leidet an Bewegungsmangel, Sauerstoffmangel, psychischer und physischer Deprivation. Ulrike Meinhof verbrachte 237 Tage in einer Camera silens. Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 besagt: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Niemand!

Besonders neu und originell sind die Beschreibungen von Roger Willemsen daher eher nicht. Denn weder die BRD, noch die USA, noch Russland, China, oder die angeblich sicheren Herkunftsländer der Maghreb-Staaten hielten bzw. halten sich an diese Erklärung der vereinten Nationen (immerhin 193 Staaten). Es mag sein, dass der literarische Wert von fünf Interviews, die kaum oder gar nicht redigiert wurden, zunächst marginal erscheint. Doch die Definition, dass Literatur ein sprachlich fixiertes Zeugnis ist, macht diese Interviews zur Literatur. Wir erfahren von fünf Menschen, dass sie ohne Gerichtsverhandlung, ohne nachweisbare Gründe entführt wurden, gefoltert und – unbrauchbar geworden für was auch immer  – wieder auf freien Fuß gesetzt. Diese Freiheit wurde für diese Menschen total. Denn sie wurden ihrer sozioökonomischen Grundlagen beraubt. Verwirrt und traumatisiert wurden sie einfach zurückgelassen. Der Verdienst dieses Buches ist es also nicht, die Brutalität des Guantánamo Bay Naval Base in Kuba zu belegen. Das war bekannt. Das IKRK gab bereits im März 2004 bekannt, dass dort gefoltert würde. In Deutschland sorgte 2005 der Fall Murat Kurnaz für Aufsehen und seine Biografie (Fünf Jahre meines Lebens) wurde vor wenigen Jahren (2013) verfilmt. Damals fragte sich die ZEIT „Wie viele Folterszenen mutet man dem Zuschauer zu? Zeigt man zu wenig Gewalt, setzt man sich dem Vorwurf der Verharmlosung aus. Zeigt man zu viel, drohen eine hohe Alterseinstufung und wenige Besucher im Kino.“ Was für eine zynische Fragestellung. Was man bei den Interviews von Roger Willemsen mit den ehemaligen so genannten Häftlingen (denn es sind Entführungsopfer) erfährt, ist aber nicht der süße Schauer des Schreckens durch Folter, nicht jene Katharsis, die in jedem billigen Horror-Film zu haben ist, sondern die Ohnmacht von einzelnen Menschen. Eine Ohnmacht, die jeder von uns kennt. Wir leben in einer zunehmend anonymisierten Welt, einer Maschine, die funktioniert. Plötzlich ein Ereignis wie 9/11! Die Maschine stottert kurz, und dann funktioniert sie auf beängstigende Weise weiter: auf höchstem effektiven Niveau. Empathie-frei. Die Charta für die Menschenrechte haben auch US-Amerikanische Politiker unterschrieben. Als Obama Präsident wurde, stand er unter besonderer Beobachtung aufgrund seines Versprechens, das illegale Lager in Kuba binnen einen Jahres zu schließen. Es ist ihm nicht gelungen. Denn die Maschine funktioniert. Erschreckend an den Interviews ist einerseits die Ungerechtigkeit, die beispielsweise einem jordanischen Religionslehrer (Youssef Mustafa) widerfuhr, erschreckend ist die innere Logik der Handlungskette, die bei allen von Willemsen interviewten Menschen gleich ist. Die Willkür der Auswahl, die Methode der Entführung durch bezahlte Söldner, das faktische Fehlen jeder Beweisaufnahme und das Ausspucken der Betroffenen ins Nichts. Das sind Insignien des Terrors. Laut Resolution 1566 des UN-Sicherheitsrates sind „terroristische Handlungen solche, die mit Tötungs- oder schwerer Körperverletzungsabsicht oder zur Geiselnahme und mit dem Zweck begangen werden, einen Zustand des Schreckens hervorzurufen, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder etwa eine Regierung zu nötigen und dabei von den relevanten Terrorismusabkommen erfasst werden“ Und wenn der Staat selbst zum Terroristen wird, liegt der Skandal ja nicht mehr nur in der Brutalität. Denn von einem konservativen Standpunkt aus kann der Staat durchaus sein brutales Handeln legitimieren (der Fall Deschner / Gäfgen von 2002  als Beispiel). Der Skandal liegt eben in der Willkür. Willkür bezeichnet ursprünglich wertneutral die Entscheidungsfreiheit im Gegensatz zur Notwendigkeit, in bestimmter Weise zu verfahren. Bezogen auf den Staat besteht allerdings aufgrund der Bindung auf das Gemeinwohl auch dann keine eigentliche Entscheidungsfreiheit, wie sie Privaten zusteht. Auch die Ausübung von Staatsgewalt innerhalb eines Ermessensrahmens oder Beurteilungsspielraums ist nicht frei. Der Staat (im Gegensatz zu Privaten) darf mithin nicht willkürlich entscheiden, sondern nur aus sachlichem Grund, bezogen auf das öffentliche Wohl (salus rei publicae). Im Deutschen Grundgesetz ist dies im Artikel 20 festgehalten. „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige  Ordnung gebunden.“

Wenn nun Roger Willemsen im Vorwort das Schweigen des journalistischen Mainstream beklagt und insbesondere den Spiegel, dann verweist er letztlich genau darauf. Nicht die Interviews selbst, sondern die Art und Weise der Interview-Führung ist hier gemeint. Was der Spiegel und andere Zeitungen versäumten, war genau diese Diskussion. Vielmehr verlegten sich alle auf den Schauer-Effekt der Brutalität. Denn das macht ja vor allem Quote. Roger Willemsen schreibt mehrfach „Über Guantanamo  ist alles gesagt. Bis auf das, was die Häftlinge zu sagen hätten.“ Damit meint Willemsen nicht etwa Folterschilderungen oder PTPS-Anamnese. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, dass die Entführten Opfer eines Terroranschlag durch die USA wurden. Von daher war es wohlfeil von Obama, die Auflösung des Lagers zum Wahlkampfthema zu machen. Originär stimmig wäre es gewesen, die nicht vorhandene Rechtsstaatlichkeit der Vorgänge zum Thema zu machen. Nochmal: Auch Ulrike Meinhof wurde gefoltert. Aber ihr wurde ein öffentlicher Prozess gemacht. Die RAF hatte ihr Forum und Deutschland zeigte sich hier als Rechtsstaat. Und das ermöglichte vielen radikalisierten Linken die eigene Rückkehr in die Rechtsstaatlichkeit. Wer Opfer von Terror und Willkür wird, der kehrt nicht mehr zurück, denn er wurde existenziell in den Abgrund gestoßen. In diesem Sinn hat sich die USA bis auf Weiteres als Rechtsstaat diskreditiert. Nicht, weil die USA sich als Heilsbringer der Demokratie aufspielt und diesem Anspruch an sich selbst nicht gerecht wird, sondern vor allem, weil die USA irgendwelche völlig unschuldige Menschen einfach herauspickte, dabei weder Beweisführung noch irgendeine Sorgfalt an den Tag legte. Die unschuldigen Opfer schildern ja in den Interviews immer wieder, dass die Entführer sie gar nicht für schuldig hielten. Sie waren eben Geiseln. Das komplette Versagen jeder Rechtsstaatlichkeit und dies bei im Ausland entführten Geiseln, gilt es zu diskutieren.

Der literarische Wert dieser Interviews als „Zeugnis“!
„Bei den meisten handelte es sich um Zufallsverhaftungen“, berichtet zum Beispiel Timur Ischmuradow, ausgebildeter Ingenieur. Zufall! Stellen Sie sich vor, sie werden nach den Regeln eines alten Kinderspiels ausgewählt, weggesperrt, gefoltert, isoliert, und nach einem Jahr wieder irgendwo in der Wüste ausgespuckt. Würden Sie sagen: Das war die Tat eines Rechtsstaats? Nein, das waren einfach Verbrecher. Verbrechen ist die subjektiv objektive Verletzung des Rechts, in seiner gesetzlichen Geltung in einem Maß, dass die rechtliche Selbstständigkeit der betroffenen Person oder Gemeinschaft grundlegend verändert wird,  lautet in Deutschland der formelle Verbrechensbegriff. Das ist hier geschehen.

 

Das harte Leben

Von Flann O’Brian

Aus dem Irischen übertragen von Annemarie Böll und Heinrich Böll

Erschienen im Original „The Hard Life“ im Jahr 1961

 

So hätte Joyce geschrieben, wäre er nicht bescheuert gewesen. (Das irische Volk über Flann O’Brian)

 

In einer Szene aus der US-amerikanischen Serie Ray Donovan über einen irisch-stämmigen Fixer (Problemlöser) in L.A. gibt es eine hübsche Szene, die von Flann O’Brian selbst stammen könnte. Zwei Iren sehen sich im Fernsehen eine Dokumentation über die Hungersnot in Irland im 19. Jahrhundert an. Bekanntlich wurde diese durch eine Kartoffelmissernte ausgelöst. Der eine Ire blickt skeptisch und frägt den anderen Iren: „Irland ist doch eine Insel oder?“ Der andere bejaht dies.
„Warum haben die dann nicht einfach Fische gegessen?“
„Du verstehst überhaupt nichts“, sagt der andere Ire und schaltet etwas gekränkt den Fernseher aus.

Der irische Schriftsteller Flann O’Brian hieß eigentlich mit bürgerlichen Namen Brian O’Nolan. Doch unter diesem Namen hat er bestenfalls amtliche Schriftstücke unterzeichnet, im Rahmen seiner Tätigkeit als Verwaltungsbeamter im öffentlichen Dienst. Als Cruiskeen Lawn schrieb er bissige Zeitungskolumnen, als Myles na Gopaleen schrieb er Theaterstücke, als George Knowall verfasste er gelehrte Texte zur irischen Landeskunde. Und als Stephan Blakesley soll er sogar Kriminalromane verfasst haben. Und auch die Namen  Lir O’Connor oder Bruder Barnabas lassen sich mit dem Iren in Verbindung bringen. Nennen wir ihn also der Einfachheit halber schlicht Brian. Der erste literarische Satz von Brian soll ein Graffiti an einer Häuserwand gewesen sein: Kauft keine englischen Blazer. Der gälisch sprechende Ire war naturgemäß kein Freund der Engländer. Englisch lernte er gegen den Widerstand des katholischen Vaters auf der Straße.  Sein erster Roman „At-Swim-Two-Birds“ handelt von dem angehenden Romanschreiber Flann O’Brian, der einen Roman schreibt, in welchem ein Dubliner Germanistik-Student einen Roman schreibt, in dem ein irischer Literat namens Trellis einen Roman schreibt, dessen Figuren mit ihren Rollen und Charakteren unzufrieden sind, woraufhin sie sich ausgiebig über das Schreiben von Romanen unterhalten, bis sie auf die Idee kommen, einen aus ihrer Mitte zu beauftragen, einen Roman zu schreiben, in dem sie alle auftreten, dessen Hauptfigur aber ihr Autor Dermot Trellis ist, dem sie dann in einem ausgedienten Kino den Prozess machen. Auch einen Faust hat Flann O’Brian geschrieben: Faustus Kelly. In der travestierten Paraphrase auf Goethes Faust geht es um einen provinziellen Stadtverordneten-Vorsteher, der sich dem Teufel verschreibt um Mitglied des Dail, des irischen Nationalparlaments zu werden. Kellys Gretchen ist die Witwe Margaret Crockett, deren Bruder Valentin den Namen Bernhard Shaw trägt. Shaw liefert sich nun ein Duell mit Kelly um die Wahl, verliert und betrinkt sich anschließend besinnungslos. Am Ende des Dramas hat der sogar der Teufel genug und zerreißt eigenhändig den Pakt. Er zieht seine Hand von Irland ab_ Dies ist kein Land für ihn, da ist die Hölle ein angenehmerer Ort. Und geradezu satanisch erscheint ihm die Vorstellung, die Iren – und dann noch auf ewig – in seiner höllischen Gesellschaft ertragen zu müssen. Das Stück wurde sogar im Abbey Theatre am 25. Januar 1943 aufgeführt, lief aber nur zwei Wochen.

Und dem Angloiren James Joyce hat er in „The Dalkey Archive“ (1964) ein herrlich ironisches Denkmal gesetzt. Darin lebt Joyce noch als ältlicher Bierzapfer, der zu den Jesuiten möchte und behauptet, dass er nicht einen dieser „unzüchtigen“ Romane geschrieben habe, die man ihm unterstellt.

1961 erschien sein zweiter Roman „The hard life“ in London. Es ist die fiktive Autobiografie eines irischen Weisenknaben aus dem viktorianischen Dublin der Jahrhundertwende. Es spielt also in einem ausgebluteten Irland. Vor wenigen Jahrzehnten hatte eine große Hungersnot (Kartoffel-Missernte) zu einer großen Auswanderungswelle der Iren geführt. 1916 kam es dann zu dem berühmten Osteraufstand gegen die Briten, in der fast die ganze Stadt Dublin verwüstet wurde. In „The Dalkey Archive“ erinnert Brian der Hungersnot in der Schottin Crawford McPherson, die in Irland Sago-Bäume pflanzen will, deren Stärke intensiver ist als bei der Kartoffel, dies aber würde das Klima dort in eine Art Sumatra verwandeln. In „The hard life“ wachsen zwei Brüder bei Mr. Collopy auf, der sich immer mit dem deutschen Jesuitenpfarrer Kurt Fahrt trifft und mit ihm über sein heimliches Projekt plaudert: öffentliche Damentoiletten in Irland. Tatsächlich gab es im Irland dieser Zeit keine öffentlichen Damentoiletten. Dies ist für Mr. Collopy ein Skandal. Dabei aber wird im Roman das skandalöse Wort „Toilette“ selbstverständlich nie erwähnt. Die beiden Weisen werden von Mr. Collopy bei verschiedenen Priestern erzogen. Der ältere Bruder entschließt sich, nach London auszuwandern und gründet dort eine Akademie. Schon hier sind die wesentlich Hintergründe zu finden, die für eine der sonderbarsten Gestalten der Weltliteratur sorgte: den Wissenschaftler de Selby, der in vielen englischsprachigen Romanen immer wieder auftaucht, unter anderem in den Illuminaten von Anton Robert Wilson, oder auch in Pynchons Enden der Parabel. Als Mr. Collopy an einer Arthritis erkrankt, schickt ihm der nach London ausgewanderte Bruder ein Medikament namens „schweres Wasser“. In „The Dalkey Archive“ wird de Selby an diesem Wasser weiterforschen, das seiner Meinung nach immer noch nicht leicht genug ist. Man versteht dies nur, wenn man „the hard life“ gelesen hat. Es ist diese Art von Wissenschaftssatire (in der Tradition eines Jonathan Swift) die Brian als Autor auszeichnet. Aber auch die Charakterisierungen dieser irischen Typen. Die herrlichen Dialoge. Mr. Collopy, der das schwere Wasser zu sich nimmt, wird nun tatsächlich so schwer, dass man ihn meist tragen muss. Mit Priester Kurt Fahrt und dem ausgewanderten Bruder reisen sie nach Rom um dort eine Audienz beim Papst zu bekommen. Doch als der Papst von dem heimlichen Projekt von Mr. Collopy erfährt ist dieser entsetzt. Die Audienz scheitert und Mr. Collopy ist inzwischen so schwer, dass er durch den Boden bricht und an seinen Verletzungen stirbt. Mit der Eröffnung des Testaments endet der Roman. Und damit, dass sich der Erzähler übergeben muss.
Es wird geredet, getrunken und auf hiberno-englisch geflucht. Vom Aufbau her ist „Das harte Leben“ wohl Brians konservativstes Buch. Anbei meine Gastautorin Krimhild Pöse, die sich Brians Wissenschaftssatire verpflichtet fühlt:

Der Irrtum der Praxis an der Theorie, Teil I (von Krimhild Pöse)

Selbst jene, die ihr ganzes Leben der Gesundheit gewidmet haben, sind am Ende gestorben. Und es gibt jährlich mehrere Tausend Tote allein durch unleserliche Rezepte. Hätten die Ärzte also mehr Geisteskraft auf das Erlernen der Schrift verwandt als auf Anatomie, so könnten viele Menschen heute noch leben. Dies soll aber nicht unser heutiges Thema sein. Denn wie Le Clerque in seinen Extensions and Analyses bezugnehmend auf De Selbys Dialektik klar darlegt, ist Gesundheit mit viel Lärm verbunden. Allein die Percussion erzeugt ein scharfes Geräusch, welches auf atmosphärische Kugeln zurückzuführen ist. Es sollte in diesem Zusammenhang das berühmte De Selby Compendium nicht unerwähnt bleiben. Zweitausend Seiten Kanzleipapier beidseitig eng mit der Hand beschrieben. Auffälligstes Merkmal des Manuskripts ist der Umstand, dass kein einziges Wort der Schrift lesbar ist. Versuche verschiedener Kommentatoren, gewisse Passagen, die weniger furchterregend als andere erschienen, zu entziffern, waren durch phantastische Meinungsverschiedenheiten gekennzeichnet, die sich nicht an der Bedeutung der Passagen entzündeten, sondern an dem blühenden Unsinn, der sich dabei entfaltete. Im Zürcher Tagblatt bezog sich Le Clerque auf diesen Umstand mit einigen sehr scharfsinnigen Bemerkungen. Später distanzierte er sich jedoch von seinem Artikel und beschäftigte sich jahrelang mit der Verdünnung von Wasser, das seiner Meinung nach zu stark sein. Bassett deutet an, dass De Selbys Theorie, die Nacht sei nur eine Akkumulation schwarzer Luft, selbst den leichtgläubigen Kraus nicht überzeugen konnte, und dass die Idee, Schlaf sei nur eine Folge kontinuierlicher Synkopen, wenn überhaupt, dann einer sehr intrinsischen Logik folge. Als überzeugte Feministin fehlt mir hier ebenso der linguistische Aspekt! Heißt es Doch die Nacht und der Schlaf. Mangelnde historische Genauigkeit, das Fehlen jeglicher narkotischer Quote und das beständige Vorurteil, Gesundheit beträfe ausschließlich beide Geschlechter, all dies ist purer Populismus. Hier wird die Theorie der Praxis geopfert. Gesund ist das nicht! Lesbar schon gar nicht! Und politisch korrekt dreimal nicht! In diesem Sinne kann ich Le Fournier nur beipflichten, der den Schlaf generell nicht als Wissenschaft anerkannte. In seinem Kommentar DE Selby – Dieu ou Homme? Gibt es geradezu brillante Passagen, die trotz des Alters der Schrift (sie ist nur noch hinter drei Meter dickem Panzerglas zu lesen) nichts von seinem eindringlichen und berückenden Charme verloren haben.

 

Die Reise des Elefanten

Von José Saramago

Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis

Erschienen 2010 im Verlag Hoffmann und Campe

 

Das Gehirn eines ausgewachsenen Elefanten wiegt ca. fünf Kilogramm und beinhaltet 250 Milliarden Nervenzellen, dreimal so viele Nervenzellen, als der Mensch. Der Elefant Salomon, dessen unfreiwillige Reise von Lissabon nach Wien in diesem Roman beschrieben wird, ist ein solcher „Dickhäuter“, der seine hohe emotionale Intelligenz immer wieder unter Beweis stellt. Aber auch sein Appetit und sein Durst sind eines Dickhäuters würdig. Sein Mahut Subhro (später vom Erzherzog in Fritz umbenannt), erscheint - wie der Sekretär des Kaisers - dem Elefanten zu dienen. Auf Salomon muss vielfach Rücksicht genommen werden. Am Morgen ist er oft schlechter Laune und braucht unbedingt seine Ruhe. Was sich der Elefant denkt, bleibt ungewiss, aber gewiss ist, dass er sich etwas denkt, was bei 250 Milliarden Nervenzellen nicht überrascht. Heute wissen wir, dass Elefanten nicht nur enorm soziale Tiere sind, sondern tatsächlich von hoher Intelligenz. Inzwischen haben sie auch den berühmten Spiegeltest bestanden. Elefanten können sich selbst in einem Spiegel erkennen.
Das zu Lebzeiten des Nobelpreisträgers (1998) letzte Buch (2010), ist ein kleines Juwel.  José Saramago wurde vor allem mit dem Roman „Die Stadt der Blinden“ berühmt. Er war aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch als Mitarbeiter im Bildungsministerium Portugals (dritte Republik) tätig, beteiligt an der berühmten Nelkenrevolution und Zeit seines Lebens ein überzeugter Kommunist.
Tatsächlich gibt es (wie Saramago auch in einem kleinen Nachwort schreibt) historische Belege für diese Reise des Elefanten. Johann der Dritte, war 15. König Portugals, stammte aus dem Hause Avis und war seit 1548 verheiratet mit Katharina von Kastilien, einer Schwester Karl V., aus dem Hause Habsburg. Katharina ist allerdings nicht glücklich, als ihr Gatte ihr mitteilt, dass er beabsichtigt ihrem Vetter aus dem Hause Habsburg, Erzherzog Maximilian, einen Elefanten zu schenken. Für sie selbst ist es schmerzhaft, aber politisch war es ein sehr weiser Akt. Denn Maximilian folgte schon 1563 seinem Vater Ferdinand I. auf den Kaiserthron. Die Verkettung der beiden wichtigsten Familien von Portugal und Österreich spielen dann auch an der Grenze zu Spanien (Castello Rodrigo) eine wichtige Rolle, denn die Soldaten Portugals stehen den Österreichern gegenüber. Einen Krieg gibt es nicht, einfach weil er nicht möglich ist. Die Länder sind miteinander verheiratet. Eine Friedenspolitik, die der Fortschritt inzwischen abgeschafft hat. Stellen Sie sich vor, man hätte Raghad Hussein mit Georg W. Bush verheiratet. Die USA hätte nicht in den Irak einmarschieren können, ohne einen erheblichen Familienstreit auszulösen. Das hätte an Thanksgiving Ärger gegeben.

Aber im Ernst: Saramago erzählt ziemlich detailgetreu eine beschwerliche Reise. Ich konnte mir diese Ochsenkarren richtig vorstellen und die Langsamkeit der Reise war teilweise beklemmend. Der Regen und der Schlamm waren spürbar. Es gibt keine ausgebauten Straßen im 16. Jahrhundert.  Und die Reisegesellschaft mit einem großen militärischen Tross und einem ausgewachsenen Elefanten muss auf jeden portugiesischen Bauern ziemlichen Eindruck gemacht haben. Beeindruckend geschildert ist vor allem auch die Alpenüberquerung in Memoriam Hannibals. Die Menschen wurden von den Schneemassen regelrecht erdrückt. Der Brennerpass ist noch weit weg vom Schengenabkommen und die großen Füße eines nicht behuften Elefanten mussten sehr trittsicher sein.

Die Menschen des 16. Jahrhunderts sind von Aberglauben durchtränkt, Im Gegensatz zu dem geradezu aufgeklärt wirkenden Subhro. Einmal versucht ein Dorfpfarrer dem Elefanten die Dämonen auszutreiben, während Subhro die Geschichte des Gottes Ganesha eher metaphorisch versteht. Im 16. Jahrhundert war die Inquisition, das Inquisitionstribunal (die übrigens Katharina 1536 einführte) allgegenwärtig. Wir befinden uns ja im Zeitalter der Gegenreformation. Gerade in Portugal war sie sehr mächtig. Daher scheuten sich die Soldaten, offen zu sprechen. Die Angst vor dem Unbekannten, Fremden wird an dem Elefanten Salomon offensichtlich, und Saramago verknüpft das überzeugend, dieses Tuscheln und heimliche Staunen.
Saramago hat viele kleine Binnenerzählungen eingebaut, die sich ganz natürlich in den Fluss der Gesamterzählung einfügen. So erzeugte er eine Tiefendimension und eine Binnenspannung. Die Auseinandersetzung mit dem portugiesischen Kommandanten und dem Mahut, die am Ende zu einer tiefen Freundschaft wird, die erniedrigende Namensänderung durch den Erzherzog verweist auf den paternalistischen Charakter der Herrschaftsformen im 16. Jahrhundert.
Immer wieder erzählt Saramago auch die Beziehungen der Menschen zu den Tieren. Sei es die Beziehung des Kommandanten zu seinem Pferd, die des Mahut zum Elefanten, die irrationale Angst vor Wölfen, oder die wunderbare Geschichte von der tapferen Kuh, die sich gegen Wölfe wehrt um ihr Kalb zu schützen.

Der auktoriale Erzähler, der gerne die Pluralis kommunes verwendet, mag etwas ungewohnt sein, da er heutzutage nicht mehr üblich ist, aber in dieser ein wenig märchenhaften Erzählung finde ich ihn doch sehr passend. Auf diese Weise kann sich der Erzähler auch immer wieder allerlei Gedanken machen und im Stile eines Cervantes seine Figuren betrachten. Der Ritterepos ist ja noch ganz lebendig, was auch in dem Verweis auf die Reconquista angedeutet wird. Die Kreuzzugsidee leitete dann auch den Untergang des Hauses Avis ein. König Sebastian, der Nachfolger von Johann III (sein Sohn), starb bei der Schlacht von Alcácer-Quibir. Dies löste den so genannten Sebastianismus aus, weil die Leiche des Königs nie gefunden wurde. Ähnlich wie bei unserem König Barbarossa, dem Kyffhäuser. Entscheidend war, dass Sebastian keine Nachfolger hatte und so fiel der Thron an die spanischen Habsburger. Am Ende hatte sich also mal wieder das Haus Habsburg durchgesetzt. Mehrfach erwähnt Saramago, dass Johann III mit Katharina 16 Kinder hatten. Auf Wikipedia.org zählte ich sogar 18 Kinder. Aber egal. Eine Leistung, die man sich erst mal vorstellen muss. Eine Frau, die praktisch dauerschwanger ist. Insofern hat sich die Spanierin am Ende den Thron verdient.

Saramago erzählt uns aber gar nicht die Geschichte Portugals. Dennoch ist sie als Subtext immer spürbar. Dass Saramago in Salzburg auf einer Vortragsreise auf die Geschichte von der Reise des Elefanten im Salzburger Retaurant bzw. Hotel „Der Elefant“ (wie im Nachwort erwähnt) stößt, verweist noch einmal auf die tiefe historische Beziehung zwischen Portugal und Österreich. Und natürlich auch zu Brasilien. Nur so als kleines Detail. In Rio gibt es eine ganze Anzahl an Horwatitsch. 

Am Ende überlebt der Elefant nur zwei Jahre in Wien. Über das weitere Schicksal des Mahut ist nichts bekannt. Ein Glück, dass Saramago diese Geschichte ausgegraben hat und uns wiedererzählte.

 

Wählt Mr. Robinson für eine bessere Welt

Von Donald Antrim

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

Erschienen 2015 in Rowohlt Verlag

(original 1993 bei Viking)

 

In den letzten 15 Jahren sank in den USA die Anzahl der Toten durch Verkehrsunfälle pro Jahr von 43000 auf 35000 ab, während die Anzahl der Todesopfer durch Schusswaffengebrauch von 28000 auf 35000 stieg (Quelle: US-National Center for Injury Prevention and Control). Solche Zahlen sprechen für sich. In der großartigen HBO-Serie „The Newsroom“ frägt eine Studentin den Anchorman McAvoy, warum Amerika das großartigste Land sei. Der Nachrichtensprecher antwortet darauf wütend: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass wir die Großartigsten sind. Bei der Bildung sind wir auf Platz sieben in der Welt, in Mathematik 17., in Naturwissenschaften 22., bei der Lebenserwartung 49., bei Kindersterblichkeit 147. ... Wir sind nur in drei Bereichen führend: Bei der Zahl der zugelassen Autos pro Kopf, der Zahl der Menschen, die an Engel glauben, und beim Verteidigungshaushalt.“ Und bei der Todesrate durch Schusswaffengebrauch, könnte man hinzufügen. Ebenfalls in dieser HBO-Serie wird klargestellt, dass Obama in seiner ersten Amtszeit mehr Beschränkungen der Waffengesetze gelockert hat, als George W. Bush in seiner gesamten Amtszeit.
In Antrims Roman steht der Bürgerkrieg in einer kleinen Vorstadt im Zentrum des Geschehens, heben die Bürger einer US-amerikanischen Kleinstadt Gräben aus und füllen diese mit Glasscherben oder alten Tierfallen. Nachts ziehen verfeindete Nachbarn bewaffnet und in Tarnanzügen durch die nahe gelegenen Wälder. Gleichzeitig finden geordnete Bürgerversammlungen statt, die nach basisdemokratischen Prinzipien Tagesordnungspunkte abarbeiten, bei Venusmuscheln und Meeresfrüchtesalat. Überspitzte esoterische Selbstfindungskurse ironisieren das Gefälle von Wunsch und Wirklichkeit zusätzlich. Meredith, die Frau des Erzählers Pete Robinson verwandelt sich in einen Quassenflossler. Das ist nicht so abstrus, wie es sich anhört, denn Antrim erzählt hier die Methode von Timothy Leary, der die molekulare Neuprogrammierung erfand und sich als „Psychonauten“ bezeichnete. Immerhin hat auch John Lennon in mehreren Liedern (Come together, und give Peace a Chance) diesen Timothy Leary zitiert. Einige Zeit war dieser Leary der Staatsfeind Nr. 1 in den USA. Der Trance-Trainer Bob, ein verhinderter Professor, der nur an der JC lehren darf, ist der Psychonaut von Meredith. In einer Rückführung leitet der Professor sie an. Dabei wird auch Pete zurückgeführt. Es zeigt sich, dass Pete ein Bison ist. Alle anderen sind Fische, Quastenflossler, Thunfische oder Muscheln. Genau genommen ist Pete damit das Nashorn (Ionescos Behringer).
So surreal also die Bilder in Antrims Roman erscheinen, so hysterisch real sind sie – in einem Land das mit der Tea-Party-Bewegung eine politische Formation hat, die an Dinge glaubt, die glaubt man nicht. Ganz ähnlich wie unsere PEGIDA. In Dresden wäre ich wohl ein Bison.
Pete Robinson ist eigentlich Lehrer, aber es gibt in der Stadt keine funktionierende Schule mehr. Die Gelder für Bildung wurden gestrichen. Die Mütter gehen mit ihren Kindern in die städtische Bibliothek. Robinson hat sich zur Aufgabe gemacht, eine Privatschule aufzubauen. Gegen Ende des Romans gelingt ihm dies. Aber der Unterricht entgleitet völlig. Im Keller seines Hauses versucht Pete den Kindern Diversität und Toleranz beizubringen. Die lockenköpfige Sarah bezeichnet einen Mitschüler als „Monster“, worauf sie selbst zum Opfer wird. Die anschließende Folterszene der lockenköpfigen Sarah wird zur Hyperbel in Anspielung auf ein Land, das die Folter legitimiert hat. Diese Folterszene schließt logisch den Anfang ab, wo der ehemalige Bürgermeister gevierteilt wurde. Und sie ist auch das eigentliche Zentrum des Romans. Pete ist ein Kenner der mittelalterlichen Foltermethoden. Seine Vorschläge werden umgesetzt, als man den Bürgermeister vierteilt, und er selbst leitet die Streckung von Sarah an, während seine Frau Meredith verzweifelt versucht, in den Keller vorzudringen.
Es geht nicht um Bildung. Bücher werden in erster Linie als Wurfgeschosse benutzt,  und die sprichwörtliche Freundlichkeit der Amerikaner ist nur noch eine hohle Phrase. Das Vorwort von Jeffrey Eugenides trägt als Überschrift „Die Barbarei der Gegenwart“. In diesem Vorwort beschreibt Eugenides – der zusammen mit dem Autor studierte – den Roman als eine Dystopie. Doch so weit weg von der Realität ist der Roman gar nicht. Immerhin sind amerikanische Schulen immer wieder in den Schlagzeilen, weil es dort zu Massakern kam. Die Zahl der Amokläufe ist einer FBI-Studie (2014) zufolge von durchschnittlich 6,4 pro Jahr (von 2000 bis 2006) auf 16,4 (von 2007 bis 2013) gestiegen. Die Bundespolizei hat insgesamt 160 Zwischenfälle, bei denen Privatpersonen zwischen 2000 und 2013 in den USA in eine Menschenmenge schossen, untersucht. Andere Schießereien - etwa im Drogen- oder Gangmilieu - berücksichtigt die Studie nicht. Insgesamt gab es bei den 160 Schießereien 1043 Opfer - alte und junge Menschen, Männer und Frauen. 486 von ihnen starben, 366 allein in den vergangenen sieben Jahren. In der großen Mehrheit der Fälle waren die Täter männlich (154) und agierten allein (158), wie beim schlimmsten Angriff dieser Art auf dem Campus der Technischen Hochschule von Virginia. 2007 tötete der 23-jährige Student Cho Seung-hui in Blacksburg 32 Menschen und verletzte 29.

Sogar die Kinder sind schwer bewaffnet und trainiert in Selbstverteidigung bzw. bereits kampferprobt. Die Gewalt bleibt dennoch immer latent, Teil einer Normalität, die den Alltag scheinbar kaum stört. Die Mütter sind fürsorglich, die Väter leben die Verantwortung, niemandem fällt auf, dass etwas gar nicht in Ordnung ist. Einzig Pete Robinson. Er ist auch der einzige Nicht-Fisch der Stadt, einer Kleinstadt irgendwo in Florida, am Meer gelegen. Die Lage dieser Stadt hat damit auch einen gewissen Insel-Charakter, abgeschnitten vom Rest der Welt schildert der Roman den allmählichen Zerfall einer Zivilisation. Dabei wirkt vor allem das Zusammenspiel von Mad Max Szenen mit den alten bürgerlichen Verhaltenscodizes skurril. Die meiste Zeit in dem Roman ist der erlebende Erzähler unterwegs, verschmutzt und übernächtig. In seiner erzählenden Ebene sitzt er in seiner Dachkammer verschanzt, wartet auf ein Ende.
Die Frage ist: Lässt sich Gewalt durch Gewalt eindämmen? Immerhin funktioniert ein Staat nur, wenn er auch das Gewaltmonopol inne hat. Und aktuell in einer von Terror bedrohten Welt, ist dies eine entscheidende Demarkationslinie. Wer hat das Sagen? Und um das Sagen durchzusetzen bedarf es der physischen Überlegenheit. Leider sind Vernunft und physische Überlegenheit nicht immer kongruent. Das Geld war bislang (kapitalistisches Prinzip) der Garant für ein ziviles Leben. In Antrims Roman ist die Macht des Geldes allerdings nur als Negativum geschildert. Es wurde das Bildungsbudget gestrichen. Ansonsten taucht das Geld nicht weiter auf. Konsum bleibt allerdings erhalten, und zwar in Großbuchstaben: GROSSER WOCHENDEND-RÄUMUNGSVERKAUF! JEDER HERRENARTIKEL ZUM HALBEN PREIS! ALLES MUSS RAUS! (S. 152). Aus dem Geldopfer wurde ein reales Menschenopfer: Pete verteilt die Einzelteile von Bürgermeister Jim Kunkel und vergräbt sie. Mit sich führt er das ägyptische Totenbuch. Das ist eine Sammlung von Zaubersprüchen in denen auch 82 negative Schuldbekenntnisse notiert sind, von denen der Leichnam freigesprochen werden muss, ehe sich seine Ba-Seele wieder mit seinem Leichnam vereinigen kann. Schuld! Opfer und Schuld. Doch Pete ist „kein Ägyptologe“. Er kann die Sprüche nicht deuten (S. 75). Die Ereignisse in dieser Kleinstadt sind längst aus den üblichen moralischen Regulativen heraus gehebelt. Sie haben längst eine eigene Dynamik. Es ist durchaus denkbar, dass die Atrophie unserer Zivilisation den Point of no Return überschritten hat.

 

Frans de Waal

Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote

 

Aus dem Amerikanischen von Cathrine Hornung

Erschienen im Verlag Klett-Cotta 2015

 

Ein Sein-Sollen-Fehlschluss wird begangen, wenn aus einem Seinsatz (A ist Q) unmittelbar ein Sollenssatz (A ist gut) gefolgert wird. So lautet der allgemein anerkannte „Humes-Satz“, auch naturalistischer Fehlschluss genannt. Aus der Tatsache, dass nach § 211 StGB das Töten strafbar ist, folgt nicht logisch der Schluss, dass Töten schlecht ist. Und umgekehrt, dass nicht zu töten gut ist. Im Falle von Notwehr oder auch beim in Bayern gebräuchlichen finalen Rettungsschuss, oder im militärischen Verteidigungsfall gilt ein anderes Sollen. Ein Soldat, der sich weigert zu töten, kommt vor ein Kriegsgericht. Frans de Waal, der wohl prominenteste Primatenforscher zeigt sich einmal mehr als ein Vertreter des Naturrechts. Moral, schreibt er, kommt von innen, und ist kein Ergebnis einer rationalen, intellektuellen Anstrengung. Seine These stützt er mit zahlreichen Beobachtungen von Primaten aber auch anderen Tieren (Elefanten, Wale, Hunde), deren Verhalten nur erklärt werden kann, wenn man ihnen einen Gerechtigkeitssinn zubilligt, oder Empathie-Fähigkeit. Dabei setzt sich der Verhaltensforscher mit holländischen Wurzeln vor allem mit der Religion auseinander. Da vielfach die Religionen als Urheber unserer Moralität gilt, ist es für einen Biologen, der so viele Ähnlichkeiten zwischen Affe und Mensch erkannte, eine besondere Aufgabe, die nicht nur dazu dient, den Menschen von einem lang gehegten Irrtum zu befreien, sondern auch den Tieren ein Recht zu verschaffen, das sie nicht nur als ein moralisches Subjekt erkennt, sondern durchaus auch als ein Moraladressat. Bis in das 17. Jahrhundert waren Tiere durchaus auch Moraladressaten. Im Sachsenspiegel (Rechtssystem des MA) wurden dem Tier gewisse Grundrechte zugebilligt. Wurde zum Beispiel eine Frau im Beisein von Tieren (einem Schwein, einer Kuh) vergewaltigt, herrschte die Sitte, die Tiere zu schlachten, weil sie nicht helfend eingegriffen hatten. Da diese Sitte überhandnahm, führte man im Sachsenspiegel eine Rechtsordnung ein, die den Tieren einen ordentlichen Prozess ermöglichte. Was uns heute verrückt erscheint, ist es vielleicht gar nicht – zumindest wenn man den Aussagen von Frans de Waal folgen möchte. Herrlich ist schon der Anfang des Buches, wo De Waal sein Treffen mit seiner Herrlichkeit dem Dalai Lama schildert und dieser von ihm wissen will, wie es um die Empathie der Schmetterlinge bestellt sei. Nachdem ihm der Biologe erläutert, dass Schmetterlinge nicht das nötige neuronale Netzwerk dazu haben, ist de Waals Schluss doch wieder ein ganz anderer, denn er begreift, worauf der Dalai Lama hinauswollte: Alles Leben ist fürsorglich. Jedes Lebewesen tut das, was am besten für es ist. Und dies ist kein chauvinistischer Pseudo-Darwinismus im Sinne einer Zweckethik. De Waal erläutert sehr genau, dass zwischen Egoismus und Altruismus gar kein Widerspruch existiert. So wissen wir heute, dass Menschen, die spenden, sich glücklicher fühlen, als solche, die nicht spenden. Geben ist seliger denn nehmen. So steht es in der Apostelgeschichte 20.35. Die Bibel hat also im Grunde nur aufgeschrieben, was uns ohnehin in der Natur liegt. Natürlich ist das auch wiederum kein Ponyhof. Das Leben ist ein harter Kampf um Ressourcen. Aber wie de Waal nicht müde wird zu zeigen, uns gelingt ein besseres Leben, wenn wir zusammenarbeiten. Auch über Gruppenzugehörigkeit hinaus zusammenarbeiten. Was (wie de Waal am Beispiel der Buckelwale, die einer Grauwalkuh zur Hilfe kamen, zeigt) auch bei Tieren vorkommt. Mein Vater sagte es immer so: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Dieser Spruch geht bis zur Antike zurück („Mit Athena und bewege deine Hände!“). In der Bibel wiederum (bei Mt. 4.1) wird dies als Versuchung Jesu durch den Teufel dargestellt (Hilf dir doch selbst indem du aus Steinen Brot machst). Hier setzt eben dann auch meine vorsichtige Kritik an De Waals Naturrecht an. Denn – zum Ende des Buches räumt er es selbst ein – die Herausforderungen einer komplexen, hochtechnisierten Massengesellschaft sind ohne intellektuelle Anstrengungen nicht zu bewältigen. De Waal hat sicher Recht, dass die Religionen vielfach nur aufgeschrieben haben, was uns ohnehin in der Natur liegt, aber in den Religionen wurden auch Werte formuliert, aus denen sich inzwischen die säkularen Werte unserer Menschenrechte speisen. Dass der Anstoß dazu auch in uns liegt, ist aber die wesentliche Erkenntnis, die uns der Primatenforscher mitteilt. Der Mensch ist nicht böse und benötigt ein strenges Korsett moralischer Regeln, sondern der Mensch ist fähig zu Empathie und dieses Mitgefühl erläutert De Waal einmal sehr schön am Beispiel des Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Seite 193). Kants Pflichtenethik geht jedoch weit über die goldene Regel hinaus: Angenommen, ein Mörder steht vor Ihrer Tür und will wissen, wo Ihre Kinder sind, damit er sie töten kann. Kant sagt nun, dass man diesen Mörder nicht belügen darf. Die Antwort Kants: Ich weiß, wo meine Kinder sind, aber ich sage es dir nicht, weil du sie sonst töten würdest. Damit opfert man sein Leben für die Wahrheit. Man hätte den Mörder ja in die Irre schicken können. Dafür hätte jeder Verständnis gehabt. Bei Kants Pflichtenethik geht das nicht. Mich würde interessieren, wie dieses Problem von einem Bonobo gelöst wird. Kant glaubte, dass Kinder von Natur aus nicht lügen, dass das Lügen Ergebnis falscher Anreize sei. Und was ich in dem starken Buch von De Waal gelesen habe –würde ich sagen - ist eine Bestätigung Kants. De Waal liefert zahlreiche Beispiele dafür, dass  Säugetiere einer Art natürlichem, kategorischem Imperativ folgen. Da die meisten Tiere in Gruppen leben und von Gruppen abhängig sind, folgt rein organisatorisch eine Art Verhaltensregulativ. Impulse müssen unterdrückt werden, sonst ist die Gruppe nicht überlebensfähig. Aber es geht weit darüber hinaus. Denn das Überleben ist eine Folge des Mitgefühls, nicht umgekehrt. Da wir Menschen und Tiere Mitgefühl zeigen, auch wenn das Überleben grade nicht bedroht wird, ist dieses Verhalten ein Kernelement unseres Seins. Die sprachliche Formulierung von Regeln als Moral, so verstehe ich De Waals Folgerung, sollte daher von innen nach außen stattfinden, als ein Bottom-Up Prozess und nicht als Topdown Prozess. Aber hier bin ich nicht ganz bei dem Biologen. Denn Natur ist das eine, Kultur wiederum etwas anderes. Und die beiden Systeme sind nicht kongruent. Es gibt Schnittmengen, sicher, aber auch sehr viele Abweichungen. So wäre es fatal, würden wir Menschen uns wie die Schimpansen in hierarchisch strukturierten Clans bewegen. Die Religionen sind daher Wertegemeinschaften, die aus der Sesshaftigkeit und der Arbeitsteilung heraus entstanden sind. Grundrechte, wie zum Beispiel die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, finden in der Natur kein Äquivalent. Der Schutz der Ehe, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Recht auf Bildung, all dies sind Grundrechte die durchgesetzt werden müssen und die daher auch ein Gewaltmonopol benötigen. Es ist das Vorrecht von Naturwissenschaftlern, Reduktion zu betreiben. Aber – um es philosophisch auszudrücken – eine biologische Funktion in einem Organismus ist kein Zweck im Sinne teleologischer Handlungserklärungen. Hier muss es immer noch etwas darüber hinaus geben. Und bei De Waal riecht es ein wenig nach Reifikation. Er gibt es ja selbst zu (Seite 320) „In der Philosophie herrscht die Meinung vor, dass wir nicht von der Art und Weise, wie Menschen oder Tiere sind, auf moralische Ideale schließen können, denn, so heißt es, Ersteres ist deskriptiv, Letzteres präskriptiv. Das ist ein echtes Dilemma…“. Und auch de Waals Buch findet dafür keine Lösung. Es gibt eben nicht diese Überschreibung von Natur auf Kultur. Das ist ein Grundirrtum Moral treibender Biologen. Aber was De Waal in seinem Buch leistet, das ist, dass er die Schnittmengen benennt und daraus auch eine gewisse Hoffnung schöpft. Und so macht es natürlich Sinn, weiter unsere Natur zu erforschen, sowie die Natur unserer tierischen Verwandten. Aber vor Analogie-Schlüssen sei gewarnt.  Dass Frans de Waal eine Lanze bricht für unsere tierischen Verwandten, das ist absolut legitim, bedenkt man, das pro Jahr 56 Milliarden Nutztiere getötet werden, 3000 Tiere pro Sekunde in den Schlachthöfen weltweit. Ein Wesen, das einen derartigen Massenmord begeht als fähig zur Empathie zu bezeichnen, das ist zumindest gewagt. Ein paar düstere Zahlen auf http://www.animalequality.de/essen. Jedes Buch, das unsere tierischen Verwandten als vollständige und komplexe Lebewesen darstellt, gilt es daher zu loben, und eigentlich nur zu loben. Ob aber der Mensch auch so friedfertig ist, so voller Mitgefühl, das muss eher bewiesen werden. De Waal meint, dass es eine Fehleinschätzung war, den Menschen als böses Tier zu sehen, nach der einfachen Psychologie: Wem man lange genug einredet, dass er böse ist, der wird es an Ende auch. Vielleicht hat er damit Recht. Vielleicht wird es einfach Zeit, dass wir uns tatsächlich wieder auf unsere Natur besinnen. Ernst Bloch bezeichnete das Naturrecht einmal als revolutionär. Vielleicht hat auch er Recht. Dennoch halte ich es für verfrüht, die normative Ethik zu begraben und sie vollständig durch die deskriptive Ethik zu ersetzen. Wir müssen immer noch darüber nachdenken, inwieweit unser Handeln eine Legitimation hat. Unser Handeln auf die Natur zu reduzieren, ist zu wenig. Abgesehen davon, dass wir noch längst nicht geklärt haben, was überhaupt „gut“ ist. Zumal die „Macht unseres menschlichen Tuns eine ganz neue Ethik erfordert“ (Hans Jonas, Prinzip der Verantwortung).

 

Stoner

Original von John Edward Williams 1965 / 2003

Aus dem Amerikanischen übertragen von Bernhard Robben
2013 erschienen im Verlag dtv

 

Im Deutschen gibt es ein schönes und schlichtes Adjektiv: karg. Es kommt aus dem althochdeutschen karag für „betrübt, besorgt“ und entwickelte sich über eine Synkope zum mittelhochdeutschen Wort karc (g), für „zäh (auch im Geld ausgeben)“, aber auch „klug, schlau“. Und so könnte man den Romanhelden Bill Stoner als einen „kargen Menschen“ bezeichnen. Sobald Stoner sich als Mensch öffnet, sobald er der Erde die er beackert zu viele Emotionen schenkt, zeigt diese Erde ihre widerspenstige und unberechenbare Natur. Der Farmerssohn erlebt im klassischen Sinne eine Epiphanie und studiert gegen seine Natur englische Literatur. Er wird Lehrer an der gleichen Universität, an der er auch studierte. Er beackert diese englische Literatur mit der Liebe eines Bauern zu seinem Stück Land. Die gleiche stoische Liebe hat er zu seiner widerspenstigen Frau Edith. Seine Tochter Grace könnte man – um im Bild zu bleiben – als eine Ernte dieser stoischen Liebe bezeichnen. Doch Edith (als Metapher wäre sie der Ackerboden) nimmt ihm diese Frucht wieder ab. Doch Edith ist keine Bäuerin. Sie kann mit dieser Frucht nicht umgehen. Grace wird Alkoholikerin. Auf dem Ackerboden der Universität bekommt Stoner mit Lomax einen harten Konkurrenten. Die beiden „Sturköpfe“ bekriegen sich dann über zwanzig Jahre. Als Stoner noch einmal auflebt und mit der jungen Doktorandin Driscoll seine große Liebe erfährt, muss er zugleich wieder diese Frucht seiner stoischen Liebe abgeben. Nicht etwa weil Stoner die Universität und Edith bzw. Grace (seine Ernte) nicht alleine lassen kann, sondern weil er (Seite 270) weiß, dass diese zarte Liebe vernichtet werden würde, wenn er sie behalten wollte. Schließlich stirbt Stoner an Darmkrebs. Soweit die Story, die John Edward Williams uns erzählt. Dabei erzählt er so ruhig und erdig, wie es einem Mann von der Art des Bill Stoner zukommt.

Als die Studenten anfangen, sich über den immer kauziger werdenden Stoner Witze zu erzählen („Für Stoner sind Konjugation und Kopulation dasselbe…“), hält uns der Erzähler dagegen: „William Stoner kannte die Welt jedoch, wie sie nur wenige seiner jüngeren Kollegen kannten. Tief drinnen, tiefer als sein Gedächtnis reichte, war das Wissen um Hunger und Not, Ausdauer und Schmerz verborgen.“ (Seite 275) Tiefer, als sein Gedächtnis reichte. Damit ist seine Herkunft gemeint. Und dass sich Williams in den1960er Jahren ein Thema vornimmt, das eine gute Generation vorher spielt, ist auch kaum verwunderlich. Es geht ja um eine sehr archaische Gemütslage und er porträtiert eine Gesellschaft, die noch sehr formale Grenzen kennt.
Gegen Ende des Romans will Stoner das Stück Land seiner verstorbenen Eltern verkaufen, doch er bekommt kaum mehr etwas dafür. Das Land aus dem er kommt, auf dem er aufgewachsen ist, ist nichts mehr wert.
„Was hast du denn erwartet?“ fragt sich der sterbende Stoner am Schluss. Diese Sterbensszene gehört auch zum stärksten Abschnitt des Romans. Denn noch im Sterbeprozess behält der Erzähler diesen elementaren Innenblick bei, weist sich selbst zurecht und belächelt seine allzu großen Erwartungen an das Leben.
Die erzählerische Wucht erinnert durchaus an Bücher wie Segen der Erde oder Die Blendung. Auch wenn sich John Williams einer weit weniger expressionistischen Sprache bedient und seine Metaphern stiller sind, nicht auf Effekte aus. Einmal beschreibt Williams Stoners bäuerlich geprägte Eltern: „Ein- oder zweimal setzte er an, sah dann aber die sonnenverbrannten Gesichter, die rosig und nackt aus den neuen Kleidern ragten.“ Das erkennt Stoner wie eine Schwäche die ihn weich macht. Das Weichheit kann er sich nicht leisten. Oder „…und sah dabei das Gesicht seines Vaters, auf das diese Worte einhieben wie der wiederholte Schlag einer Faust auf einen Stein.“  Nichts ist so hart wie das Leben, könnte man scherzhaft sagen, oder kein Leben ist so zäh wie der Ackerboden, den man beharkt.

So entwickelt Williams eine Figur, deren Innenperspektive gar nicht nach außen dringt, durchdringt. Das gibt dem Roman diese dramatische Ironie in der Erzählhaltung. Vor sich sieht man also einen „wortkargen“ Mann, dessen Gesicht seine Geschichte erzählt, wie man so manchen Landwirt anschaut. Williams schildert zunächst an Sloane (dem Mentor Stoners) den Gesichtsverlauf eines Lebens, und später auch an Stoners Gesicht. Am Ende bringt er sein Spiegelbild gar nicht mehr in Zusammenhang mit seinem inneren Gefühl. Stoner ist gewiss nicht unsympathisch. Aber man ärgert sich manchmal doch über dieses passiv aggressive „Nicht-Verhalten“ dieses Helden. Wenn Edith ihre Spielchen mit ihm spielt, ihren Krieg gegen ihn führt, dann wünschte ich mir als Leser mehr Gegenwehr. Edith – so mein Verdacht – wollte nur endlich eine Regung erleben von diesem nach außen so emotionslosen Mann. Und Stoner? Ich glaube, er wusste das. Denn er hat ja immer Mitleid mit Edith, liebt sie zärtlich, aber eben kaum wirklich sichtbar. Und es war dann auch psychologisch stimmig, dass Stoner schließlich seinen Stellvertreterkrieg gegen Walker und Lomax führte. Den er allerdings auch verlor. Und selbst gegenüber Walker verhält sich Stoner nicht wirklich so, als sei er von seinem eigenen Tun restlos überzeugt („Es wäre, dachte Stoner, ja amüsant, zeigte sich in Walkers Wut und Widerwillen nicht so etwas Nacktes.“ Seite 174). Walker zeigt Schwäche, die Stoner kaum aushält. Stoner ist ein Stoiker vom allerfeinsten Kaliber. Und schaut man sich das Umschlagsbild des Autors John Williams an, könnte man doch vermuten, dass auch er ein kleiner Marc Aurel gewesen ist. Immerhin hat Williams eine ähnliche Vita wie sein Held. Seine Großeltern waren Farmer und er lehrte viele Jahre an der gleichen Universität, allerdings „Creative Writing“. Aber auch bei dieser modernen Variante um der Literatur zu begegnen, hat man es mit Studenten zu tun. Da konnte ich dem Helden ja gut folgen. Ich kenne diese innere Begeisterung und ich kenne auch die Schwierigkeiten, diese innere Begeisterung, dieses Wissen, das sich auftut und diese Liebe zur Literatur zu vermitteln. Manchmal bin ich im Unterricht so begeistert und enthusiasmiert und habe doch am Ende nur wenige erreichen können. Ein äußerst merkwürdiges Gefühl, muss ich zugeben. Allerdings habe ich nicht dieses stoische Gemüt eines Stoner, dazu bin ich wiederum zu verspielt. Doch ich bewundere die Stoa, den Gleichmut des Gefühls, das nach außen jedoch wie eine allmähliche Versteinerung wirkt. Schließlich ist das Leben doch noch etwas mehr, als nur ein Acker. So wollte ich dem armen Stoner immerzu den dringenden Rat geben, auch mal mehr aus sich herauszugehen. Das gelang ihm ja dann auch mit seiner Liebe zu Driscoll. Aber er zieht es nicht durch. Das Ideal dieser bäuerlichen Stoa ist wie eine lähmende Überzeugung die sein kultureller Rumpf (das Bäuerliche) zu ertragen hat.

Insgesamt ein starker Roman, eine Heldenreise, psychologisch stimmig und aufwühlend. Und im Sterben des Helden kommt es für den Leser zu dem, was jeden wirklich guten Roman auszeichnen sollte: zur Katharsis, ganz im aristotelischen Sinne.

 

Irre

Von Rainald Goetz

Erschienen 1986 im Verlag Suhrkamp

 

Der Debüt-Roman des aktuellen Büchner-Preis-Trägers 2015 Rainald Goetz spielt Mitte der 1980er Jahre in der königlich-bayrischen Psychiatrie in München. Einige Jahre später verbrachte ich selbst ganze sieben Jahre als Krankenpfleger dort. Allerdings gab es dann zu meiner Zeit keine Bettensäle mehr, diese befanden sich noch im Altbau der Klinik. Der sehr persönliche Doku-Montage-Stream von Goetz vermittelt ein kritisches Bild der Psychiatrie, das innerhalb der gesellschaftlichen Diskussionen geradezu mit Mythen überladen ist. Vom „schönen Wahn“ bis zur kapitalistischen „Disziplinierungsanstalt“, vom Wunschdenken einer biologischen Lösung für seelische Erkrankungen bis zu den schillernden Beschreibungshypertrophien der psychiatrischen Nomenklatur wird von Goetz alles aufgenommen. Goetz teilte seinen Roman in drei Kapitel ein: Sich entfernen, drinnen und Ordnung. Im ersten Teil erfahren wir vielstimmig die Psychiatrie hauptsächlich durch die Stimmen der Patienten im Dialog mit dem System der Psychiatrie. Im zweiten Teil – sprachlich dem geordneten, konventionell erzählten Teil – versucht sich der junge Arzt Dr. Raspe in das Anstaltsleben einzugliedern und lernt, ein guter Arzt zu werden, scheitert und verlässt die Klinik. Im dritten Teil zerfällt die Persönlichkeit des Arztes, um zu einer Selbstheilung anzusetzen. Ich habe diesen Irrsinn, den Goetz beschreibt selbst sieben Jahre erlebt. Zwar nicht im Altbau, sondern im Neubau. Als ich gerade zwei Wochen als Pfleger auf der geschlossenen Männer-Abteilung gearbeitet hatte, wurde von höherer Stelle beschlossen, dass die Einteilung von Männer und Frauen unnatürlich sei. Ich war derjenige Pfleger, der damals auf die Frauenstation ging und mit vier Kontingent-Frauen  auf die Männerstation zurückkehrte. Ein anderer Kollege brachte vier Kontingent-Männer auf die Frauenstation. Ich weiß noch, wie verschreckt die vier Frauen versuchten, sich hinter mir zu verstecken, und wie verschreckt aus den spaltbreit geöffneten Patientenzimmern Männeraugen lugten. Natürlich kam mir das nicht vor. Später hat sich das eingelebt. Und es kam keineswegs zu einem Sittenverfall auf der Station.

Literarisch ist der Roman von Goetz vermutlich schwer zu verorten, weshalb der unsympathische Maxim Biller ihn als „den Auftakt der literarischen Ich-Zeit“ beschrieb. Dass das Quatsch ist, weiß jeder halbwegs gebildete Mensch, der schon mal von Tristram Shandy gehört hat, jenem Meisterwerk von Laurence Sterne aus dem 18. Jahrhundert. Oder denken wir an weniger Fernes, an den Werther. Was Biller also sagen wollte ist: Er hat keine Ahnung von Literatur und darf deshalb im Fernsehen über Literatur sprechen. Um aber nun nicht mehr darüber zu sprechen, ob es für literarische Experimente irgendeine Diagnose im ICD gibt, möchte ich aufzeigen, warum Goetz so schreibt wie er schreibt. Aus meiner Zeit in der Psychiatrie gibt es folgende Aufzeichnung von mir, die den Roman von Goetz auf den Punkt bringt. Immerhin habe ich beim Wiederlesen dieses Romans einiges auch wieder erlebt, sind doch viele Namen der Ärzte (Hippius, Nedopil, Reiter, Meien) mir noch sehr bekannt und verknüpfen sich für mich damit Gesichter. Hier meine Story mit dem Titel „Metaphorisch“:

Und dann einer mit hochrotem Gesicht, schon angekettet im Bett „bist du schon mal in Scheiße gestorben?“ und der Pfleger „meinen sie das metaphorisch?“ und der Delirante, hochrot im Gesicht, hundertsechzig zu neunzig und delirantes Fieber „metaphorisch?“ ist vielleicht was in der Windel denkt der Pfleger, lüftet die Bettdecke, sieht nach, „metaphorisch wäris moana du Arschloch“, aber die Windel trocken, das Gesicht hochrot, angekettet, strampelnd, sich immer wieder aufrichtend, „du Arschloch“ brüllend, „metaphorisch du Arschloch, du Drecksau, metaphorisch wäris moana“, und der Pfleger steht da mit einer Tavor „nehmen Sie das“, und der Delirante hundertsiebzig zu neunzig, delirantes Fieber, „die drucka mas Bluat ob“, sich immer wieder aufrichtend, und ein anderer, einer der sich für heilig hält, Kontakt zu Engeln hat, „das ist Nötigung, Kopf Haar und Paragrafen“ und der Pfleger inmitten dieses Gebrülls, bewaffnet mit einer, nur einer zweikommafünf Tavor Expidet, „nehmen Sie die?“, und der Heilige im Kontakt mit den Engeln, immer einen Block bei sich in den er eifrig notiert „Nötigung, du kennst doch das Gesetz, das Blut, das Haar der Kopf“, und der Delirante, hundertsiebzig zu neunzig, hundertdreizehn Puls und delirantes Fieber, „metaphorisch du Arschloch, dich kenn ich doch, du Drecksau“ und der Pfleger im Halbdunkel des Patientenzimmers, sein zweikommafünf Tavor in der Hand, „nehmen Sie das?“ und der Delirante „die drucka mas Bluat ob“ sich immer wieder aufrichtend und der Pfleger „wissen Sie wo sie sind?“ und der Heilige „Nötigung, Kopf Haar Paragrafen, du musst das doch wissen“ und der Delirante, hundertsiebzig zu neunzig, delirantes Fieber „Wos?, Wos? Du Drecksau, metaphorisch wäris moana“, und ein dritter Patient erwacht „das hält doch keiner aus“, der Delirante brüllt „metaphorisch wäris moane“, und der Pfleger und der Heilige und der dritte Patient der zu Unrecht „ich bin nicht krank“ hier ist, „das hält doch keiner aus“ und der Delirante richtet sich wieder auf, brüllt, Kopf hochrot, der Heilige, steht jetzt hinter dem Pfleger, ganz nahe, haucht „Nötigung“ ins Ohr des Pflegers, legt seine Hand auf dessen Schulter, der Pfleger erschrickt „nehmen Sie das jetzt?“ und fahl leuchtet das Ganglicht in das dunkle Patientenzimmer, ein Buckliger richtet sich auf, mit nur noch einem Arm, den anderen vor Jahren durch Sprengstoff – selbstgebastelt - weggesprengt, schweigend, stellt sich neben den Pfleger, hat nur noch einen Arm,, „metaphorisch, du Arschloch“ und im Gebrülle, eingekreist von den Dämonen der Irr=Realität der Pfleger, der Weißkittel mit seinem zweikommafünfnehmen-SiedasjetztTavorexpidet, eingekreist von einem Heiligen, einem Deliranten und einem schweigenden, einarmigen Buckligen, zitternd „nehmen Sie das jetzt?“ und der Delirante sich aufrichtend „metaphorisch du Arschloch“ und „Nötigung Kopf Haar Paragrafen“ und Bucklige Einarmige Dämonen, Nacht, fahles Licht, Expidet, metaphorisch, nehmen Sie das jetzt, Nötigung, zweikommafünf, hundertsiebzig, die kenn I doch, du Arschloch, Nötigung, Paragrafen, delirantes Fieber, Arschloch, Drecksau, Nötigung, Tavor und ...

Eine übliche Szene. Davon habe ich eine ganze Sammlung unveröffentlichbarer Einzelobjekte. Was ich damit aber klar machen will ist, dass die Traumatisierung durch das ver-Rückte, dass diese Unordnung in der dunklen Wahrheit des Wahns dämonisch erscheint und es vermutlich – wenn auch reiner Zufall – stimmig erscheint, dass Priester und Psychiater beide mit einem „P“ beginnen. Hunderte von Symptomen und Zustandsbilder und fünf Medikamente, heißt es einmal im zweiten Kapitel von Goetz‘ Roman. Und das ist ja so geblieben. Vieles allerdings hat sich schon gebessert. Der Einfluss der Sozialpsychiatrie war zumindest Anfang des 21. Jahrhunderts sehr stark. Hier ist es natürlich eine Frage der gesellschaftlichen Ressourcen, ob die Inklusion seelisch derart herausgeforderter Menschen weiter gelingt. Aber es gibt derzeit eine – meiner Ansicht nach – problematische Rückkehr der biologischen Psychiatrie kombiniert mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften. Hier regiert sehr stark der Funktionalismus. Ein Gehirn ist wie eine Maschine: sie funktioniert oder sie funktioniert nicht – so sieht es dieser Funktionalismus. Daher werden die Dämonen jetzt als Defekte begriffen. Doch ist das so? Auch darüber denkt Goetz ja nach in seinem Debüt-Roman. Dr. Raspe fragt sich ja immer wieder, ob mit ihm auch alles in Ordnung ist. In den 1980er Jahren war noch die Kritik von Michel Foucault lebendig: Eine Einheitspathologie, die dieselben Methoden und dieselben Begriffe auf psychologischem wie auf physiologischem Gebiet anwenden würde, „gehört heute unter die Mythen“, schrieb Foucault in seinem Essay über die Geisteskrankheit (Psychologie und Geisteskrankheit 1968). Die Mythen sind zurückgekehrt. Psychophysischer Parallelismus – auch wenn die Einheit von Körper und Seele eine Wirklichkeit darstellt – erschöpft sich schnell, wie wird aus einer Hirnstromaktivität ein Wahnbild? Das Gehirn übersetzt also Bits und Bytes in Symbole. Das Gehirn kann sich irren. Errare cerebrum est. Irren ist hirnlich. Wahrnehmung ist also immer noch eine recht offene Sache. Und welches Gehirn die Wahrheit kennt und welches nicht, darüber entscheidet der Fitteste oder? Survival of the fittest als Parameter? Dann wäre so manche Wahrheit keine mehr. Ist es das Leiden? Oder wie es Raspe seinem marxistischen Freund zu sagen versucht, das Leiden sei eine sinnliche Evidenz, und in der linken Theorie seines Freundes käme das Leiden gar nicht vor (Seite 155). Auch die Beinbruch-Metapher (die Dr. Bögl anwendet, und die ich selbst noch vielfach von den Doktoren hörte) bringt nichts, ist schon wieder in diesem Parallelismus verfangen. Etwas stimmt jedenfalls hinten und vorne nicht, mit den Grahns, Stelzers, Wörmanns und Kieners in Goetz‘ Roman. Diese Patienten sind nicht normal und ja, sie leiden auch.  Und ja, sie brauchen Hilfe, Fürsorge und Empathie. Das ist eine weitere gesellschaftliche Herausforderung. Und auch hier werden wir uns verändern, wenn wir uns damit beschäftigen. Aber wie viel Wahnsinn lasse ich in meinem Leben zu? Wie vielen Dämonen gewähre ich Zutritt?

 

Das bessere Leben

Von Ulrich Peltzer

Erschienen 2015 im Verlag S. Fischer

 

…so eine Scheiße behält man, während alles andere im Strudel der Zeit verschwindet… Jochen Brockmann (S. 345)

 

In meinen Schreibkursen erkläre ich den Kursteilnehmern gerne, dass die Kunst des Erzählens auf der Beherrschung der Zeit basiert. Und die Kunst des Lesens? Frage ich nach dieser Lektüre. Die Dekonstruktion zeitlicher Normen gelingt dem Subjekt am ehesten in der Meditation. Aber diese Figuren sind das, was Deleuze einmal als „tanzende Partikel im Staub des Sichtbaren und wechselnde Plätze in einem anonymen Gemurmel“ nannte. Es gibt das Subjekt, ja. Fleming, Brockmann, Elisabeth Gerlach, Angela Volkhart, sind einige davon. Doch sie kommen nicht zur Ruhe, der Alltag zerfällt in nervöse Fragmente und um die Geschichte als Geschichte zu retten, bedarf es der Konstruktion. Denn diese tanzenden Partikel treffen immer wieder aufeinander. Manche dieser tanzenden Partikel fliegen nur kurz vorüber, wie Roland Prader, andere (Fleming, Brockmann) sind dafür schon festeres Gestein. Und diese beiden Figuren retten dann die Geschichte. Subtext wiederum ist das System des Kapitalismus, das die Protagonisten fest im Griff hat. Sie haben gekifft und trotzdem ist „was aus ihnen geworden.“ Andere Zeiten, andere Regeln. Survivals of the fittest. Was diese Figuren in ihrem Bemühen nach Rendite (dem aktuellen Axiom Nummer Eins) nicht wissen ist, dass sie 150 Millionen Kilometer entfernt vom Zentralgestirn auf einem klimatisierten Geröllhaufen leben, inmitten eines -273° C kalten Universums. Das heißt: Sie wissen es. Aber es nutzt ihnen ja nichts. Und es ist ihnen egal. Ein wenig zu leben, in dieser verschwindenden, sich autopoetisch zerfressenden Wirklichkeit, ein richtiges Leben im Falschen zu leben, auf der Flucht ein paar Geschäfte zu machen, sinnstiftende Eitelkeiten, Selbstgefälligkeiten, um sich dann als abgeleitete Funktion in den Affekten aufzulösen.
Und darüber einen Roman schreiben? Und Leser finden? Vor allem Leser, die dem Roman folgen? Wohin nur? Schon auf den ersten Seiten spürte ich diese Richtungslosigkeit und wusste, dass ich jetzt nur noch die Sprache habe, an der ich mich festhalten kann.
„Mit jener Überspitzung und Vereinfachung, die erforderlich ist, um eine komplexe Wahrheit sichtbar zu machen, könnte man sagen, dass in der Welt der Gegenwart, in der Lebenssituation der sogenannten Industriegesellschaft, genau drei Philosophien wirklich funktionieren, d.h. nicht: vertreten werden, sondern Theorie und Praxis des Lebens faktisch vermitteln: Marxismus, Existenzialismus und Pragmatismus.“ So schreibt Kar-Otto Apel einmal in den 1970er Jahren und erklärt weiter, dass man sich in Europa (vor allem in Deutschland) noch weigere die pragmatischen Spielregeln anzuerkennen. Nach der Chicagoer Schule bestimmen die Konsequenzen unserer Handlung die Bedeutung unserer Gedanken. Am Anfang war die Tat, sagte der Pragmatiker Faust dazu. Aber was passiert, wenn unsere Lebenswirklichkeit unsere Handlungen bedeutungslos macht? Wir könnten vor jeder Handlung auch eine Münze werfen (eine gefälschte, wie in The Dark Knight). Ist es das, was einen Sylvester Fleming an das Schicksal glauben lässt, dass seine Handlungen noch zu etwas führen? Hat er es „im Griff“?
Peltzers Verweise auf kulturelle Hintergründe (vom Studentenaufstand bis zum linken Widerstand) sind aus pragmatischer Sicht (der Pragmatismus stellt die Tradition in Frage), unsinnig. Sie kommen wie selbstreferenzielle Monstren daher. Plötzlich ist ein Bild von einem Tarantino-Film (zum Beispiel S. 349 bei Prader) in meinem Bewusstsein, oder der Refrain eines Paul McCartney Liedes, manchmal treffend, manchmal blitzartig einfach so. Und sind wir ehrlich zu uns: Wie oft reißt der Faden mitten im Gespräch, wir tagträumen uns weg (sind wieder auf der Flucht) um dann aus reiner Höflichkeit unserem Gesprächspartner verstehend zuzunicken. Ein partnerzentriertes und gesprächstherapeutisch wertvolles Gespräch führen wir seltener. Und wenn wir es führen, ist es oft nur gespielt.
Aber gleichzeitig, während wir tanzende Partikel auf einem Geröllhaufen sind und uns um Aufmerksamkeit bemühen, geschehen Dinge, die uns betreffen, stürzen ganze Volkswirtschaften, werden Geschäfte eingefädelt, die unsere sozialen Verhältnisse umkrempeln, sei es in Krieg (dramatisch) oder einfach nur in Arbeitslosigkeit.
Peltzer hat in seinem Roman die Figuren ausgesucht, die solche Geschäfte einfädeln, und er zeigte uns, dass sie ebenso eine humanoide Lebensform sind wie wir. Sie tagträumen, verflüchtigen sich in Affekten und tanzen im anonymen Gemurmel. Bemüht darum, zu glauben, es sei ihr eigener Tanz, den sie da tanzen. Es sind Subjekte, die sich in einer oszillierenden Wirklichkeit zwischen Noch nicht und nicht mehr an den glitschigen, von Meerwasser benetzten Geröllhaufen namens Erde festhalten.  Natürlich liefert uns die Kunst des Erzählens, die griffiger ist, die wo beginnt und wo endet und dazwischen geschehen romanhafte Dinge, die alle ganz logisch sind und am Ende gar nicht anders sein konnten, natürlich liefert uns so eine Geschichte einen dankbareren Hintergrund.

Trotzdem wird aus dem Roman eine Geschichte. Erzählt mit vielen Abwegen, Schluchten, Spalten, auch so manche Fäden die nirgends hinführen. Stimmungsbilder: früh morgens auf einem Laufband, in einem ruckelnden Flugzeug, beim Sushi-Essen in Sao Paulo, in einer Ausstellung in Turin, das Flackern von Bildschirmen,  nachts wachliegen in einem anonymen Hotel (Hotelkette). Immer im Sound des erlebenden Bewusstseins geschrieben, so dass immer Zeit vergeht, wir uns immerzu in irgendeinem Zustand befinden (affiziert sind). Und legen wir uns schlafen, dann spielt unser Gehirn diesen ganzen Mist mit Replaytaste und Preplaytaste noch mal durch, vor und zurück, zurück und wieder vor, Variationen des Erlebten, das uns dann am hellen Tag unser Handeln bedeutsam macht.

Das alles ist der Gewinn dieses Romans für mich. Das wusste ich zwar schon. Aber es wurde mir neu erzählt und bestärkt mich in meiner Verlorenheit.

Der sprachliche Genuss auf der einen Seite und die Diskurs offene Art des Erzählten auf der anderen Seite, lassen für mich nur den Schluss zu, dass Peltzer auch ein wenig beabsichtigte, den Leser zu reizen. Die Figuren sind Globalplayer im höheren Einkommenssegment, die ganz üble Sachen machen. Aber das erschüttert mich kaum. Peltzer verrät mir auch keine detaillierten Hintergründe, so dass ich nach dem Roman sagen könnte: So funktioniert Kapitalismus. Nein. Da hätte ich das falsche Buch gelesen, hätte ich das gewollt. Nein. Was das Buch für mich gewinnend machte, ist, dass diese Alpha-Männchen in einem poetischen Raum so verloren wirken, wie ich in einem kapitalistischen Raum. Sie werden nicht greifbar, weil ihre Handlungen zerstreut sind, überlagert von schwarzem, gesättigtem Bewusstseins-Torf. Dafür wird ihre Lebenswirklichkeit, die Mooren, wo ihr Bewusstseins-Torf sic h bildet, greifbarer. So möchte ich nicht leben! Daher bin ich ja auch eine arme Kirchenmaus, dem ein Globalplayer höchstens mal in einem Roman begegnet. So weit weg von diesen Flemings und Brockmanns, dass ich froh war, in dem Roman auf bekannte Zitate zu stoßen und einen kulturellen Hintergrund erkannte, der mich als Leser ein wenig erdete. – Sonst wäre ich im Moor der Flemings und Brockmanns abgesoffen.

Alles ist gut, sehr gut geschrieben. Mancher Leser wird Probleme bekommen, weil es viel Kraft kostet, im Moor zu schwimmen. Feste Substanz, und doch kann man darin untergehen. Peltzers Roman besteht aus Sätzen und Handlungen, und doch kein festes Land. Es ist am Ende ein Bild das bleibt, oder Bilder. Ein Großstadtbild, modern, postmodern. Eine Freundin von mir (Fotografin) stellte mal ein Foto aus, wo die Kamera in den Spiegel eines Badezimmers blickt. Aber es sah aus, als würde man die Silhouetten von Hochhäusern irgendwo in New York sehen, die Zahnbürsten, Zahnpasten, Becher, Schminkutensilien wurden zu einer Stadt. Ein bisschen so ist der Roman.

War es ein Genuss? Absolut. Anstrengend? Auch. Aber so ist das eben mit dieser Erzähltechnik, vor allem wenn es in dieser Konsequenz erzählt wird. Auch wenn hier der Erzähler schon noch spürbar da war, so wird der Erzähler durch die Dynamik von Sprechen, Denken und Reizakkumulation selbst zum sirrenden Strom. Eine Kamerafahrt, die stromauf, stromab heiter vom Panoramabild bis zum mikroskopischen Verdauungsprozess des Erlebten einem eigenen Plan folgt. Aber Sie wissen ja: Wie bringt man Gott zum lachen? Mach dir einen Plan…

Und wer jetzt in dem Roman den Plot nacherzählt, erheitert mich noch mehr, als der bodenlose Text. So mancher Rezensent in den Feuilletons war die heillose Überforderung anzumerken. Aber da diese Rezensenten alle so furchtbar klug sind und sich auch dafür halten, traute sich keiner von ihnen, das zuzugeben. Das nennen die Feuilletonisten dann: „Kulturelles Gepäck“ und staunen. Dadurch wirken sie eigentlich ein wenig lächerlich. Wer also in dieser „Geschichte“ den Humor verliert, hat eigentlich nichts verloren. Was ist hier lustig? Fragen Sie mich. Nun. Ein Globalplayer mit einem Hobbykeller als Archiv seiner Schandtaten, ein Globalplayer mit kaputtem Meniskus und Schwindelattacken, eine Globalplayerin mit Torschlusspanik, eine Heerschar nützlicher Idioten, Lemminge, nichts als Lemminge. Finden Sie Wühlmäuse nicht irgendwie lustig? Abgesehen von ihrem Schicksal?

 

Sand

von Wolfgang Herrndorf

 

Gleich wie Philosophen behaupten, dass ohne den Zweifel keine wahre Philosophie möglich ist, lässt sich behaupten, dass kein Menschenleben ohne Ironie authentisch ist, hat Kierkegaard einmal gesagt. Das dürfte Wolfgang Herrndorf wohl unterstreichen und hat deshalb einen Roman geschrieben, den man auch als Lehrbuch der Ironie lesen könnte. Dabei ist Ironie nicht zwangsläufig ein Spaß. Ironie beginnt mit einem Konflikt, einer wahrgenommenen Differenz zwischen Prätention und Realität. Und wenn Griechenlands berühmtester Ironiker Sokrates meinte, er wisse nur, dass er nichts wisse, dies diene ihm bei seiner Suche nach Erkenntnis, auch dann würde Herrndorf nicken. Aber nicht etwa, weil Herrndorf der Meinung des Sokrates war, sondern weil es ironisch ist. Carl weiß, dass er nichts weiß. Das ist genau die Ausgangslage des Romanhelden in Herrndorfs aktuellem Roman. Aber leider führt ihn dieses Nichtwissen ins Unglück, von einem bösen Zufall zum nächsten. Das Problem ist nämlich, dass alle anderen Protagonisten glauben, etwas zu wissen. Und wie in der griechischen Komödie tragen alle Protagonisten eine Maske – Persona. Ein Rollenspiel beginnt, in dem alle möglichen Denkfiguren der Ironie durchgespielt werden, die tragische Ironie, die Selbstironie, die komische, rhetorische, die Ironie des Schicksals.

Der leider 2013 verstorbene Autor Herrndorf hat hier einen wunderbaren, witzigen und spannenden Roman vorgelegt. Worum geht es? Erst mal zum Titel, der ja so simpel ist und doch so sprechend: Wir streuen jemandem Sand in die Augen, setzen etwas in den Sand, es kann auch mal Sand im Getriebe sein, oder wie Sand am Meer unzählbar, man kann den Sand in den Kopf stecken, auf Sand bauen und alles verläuft im Sande, oder rinnt einem wie Sand durch die Finger.
Oder es handelt sich einfach nur um eine öde Gegend, in der sich kein Mensch aufhalten will. Herrndorf hat nach seinem Adoleszenz-Roman Tschick ein weiteres Meisterwerk vorgelegt. Einen Spionagethriller der das Nichtwissen ironisch auf die Spitze treibt.

Der Roman spielt im Jahre 1972 in Nordafrika. Es ist damit eine Art historischer Roman, aber eben auch ein Roman, der in der Hochphase des kalten Krieges spielt. Das Ereignis in München im Jahr 1972 spielt ebenfalls eine gewisse Rolle. Aber welche? Erst mal treten zwei Polizeibeamte auf, Polidores und Canisades, die einen Mord aufklären müssen, ein Massaker an einer Gruppe Hippies, die an der Grenze zur Westsahara eine Kommune gegründet hatten. Die beiden Polizisten sind eher mit sich selbst beschäftigt und von der Situation überfordert. Der Täter scheint schnell ermittelt. Ein gewisser Amadou Amadou. Ein junger Mann, der nicht wirklich wie ein Massenmörder wirkt, aber alle Indizien sprechen gegen ihn. Der Hauptheld des Romans tritt erst im zweiten Buch auf. Das Buch ist auf fünf Bücher angelegt, unterteilt werden Sie jeweils durch ein Motto von Herodot, das ihnen vorangestellt wird. Auch jedes einzelne Kapitel hat ein Motto vorangestellt, Zitate aus Film und Literatur, mit gewissem Bedacht gewählt. Alle Zitate sind für sich schon originell und lohnend.

Der Hauptheld nun, kommt im zweiten Buch. Er ist gleich in einer schwierigen Lage. Er hat eins über den Schädel gezogen bekommen, und weiß nicht wo er ist, wer er ist und was er tun soll. Nur fliehen, geht ihm durch den Kopf. Was geschehen ist, weiß er nicht. Und so erleben wir wie Carl (wie er sich später der Einfachkeit halber nennt) von einem surrealen Abenteuer ins nächste rutscht. Er weiß nicht, was los ist, wir Leser werden auch ziemlich im Dunkeln gelassen. Wir wissen, es hat irgendwie mit dem Geheimdienst zu tun, man ist auf der Suche nach etwas, das aber stets im Dunkeln bleibt, ein so genannter MacGuffin. Alfred Hitchcock, Quentin Tarantino und John le Carre haben dieses Buch gemeinsam geschrieben. So erscheint es.

Es ist erstaunlich! Man weiß ja nicht wirklich, worum es geht, es ist ein literarisches Rätsel, aber man bleibt dran, fiebert mit dem Helden mit, es ist spannend und herrlich witzig, vor allem in den Dialogen. Herrndorf war ein Meister des witzigen, aberwitzigen Dialogs. Das zeigte er schon in seinen Erzählungen „Diesseits des Van Allen-Gürtels“, in der sich der moderne Mensch vergeblich darum müht, zu verstehen, was um ihn herum geschieht.

So wird Carl zum Beispiel entführt von einem Mann, der als „König der Schieber“ gilt und dieser scheint Carl zu kennen. Carl ist in einer dummen Lage. Stellen Sie sich jetzt noch vor, sie haben ihr Gedächtnis verloren und damit auch ihr Geheimnis. Nur, alle anderen glauben Ihnen nicht, halten das für eine Finte ihrerseits. Gleichzeitig tun Sie gut daran, nicht zu verraten, dass Sie nichts zu verraten haben. Schließlich wissen Sie, dass ihr Geheimnis ein Faustpfand ist. Wenn Sie dieses Geheimnis aufgeben indem Sie verraten, dass es gar nicht existiert, sind Sie tot. So ist ihr Geheimnis, dass Sie kein Geheimnis haben. Carl sagt später: „Ich hatte den Eindruck, dass ich nichts weiß, was er nicht auch weiß. Er wusste nur nicht, dass ich nichts weiß.“
Wobei die Ironie fälschlicherweise gerne als ein postmodernes Phänomen gesehen wird. Natürlich hat Herrndorf einen „postmodernen“ Roman geschrieben, wie die Kritiker das gerne sagen. Aber eigentlich erinnert der Roman auch an Sophokles Ödipus. Aber nicht in der Deutung Freuds, sondern in der Deutung Deleuze. Ödipus war ja gar nicht ödipal. Da er weder Vater noch Mutter kannte. Er hielt Polybos und Merope für seine Eltern. Die Ironie: Laios der Kinderschänder, wird doppelt bestraft. Schließlich tötet ihn sein Sohn und beschläft auch noch seine Frau. Für den Sohn ist es tragisch, als er erfährt, wer Laios und Iokaste wirklich sind. Die Ironie des Schicksals. Zufall? Böse Sache. Aber nicht ödipal. Denn so wie in Ödipus wechseln auch die Protagonisten in Sand die Rollen auf dramatische Weise. Die schöne Amerikanerin Helen, die Carl zur Seite steht, ihm in der Not hilft und ihn begleitet, entpuppt sich als ziemlich fiese Folterin. Carl ist ein Spielball der Mächte.
Keine Zeit in der Geschichte hat dieses verrückte Spiel besser dokumentiert, als die Zeit des kalten Krieges. In einem Meer aus falschen Informationen, oder Informationen wie Sand am Meer, die alle etwas bedeuten könnten, aber nicht müssen, fischten die Agenten. Und dabei ging es immer um alles. Geht es ja noch heute. Haben die Iraner die Bombe? Oder nicht? Wir haben nicht wirklich Fortschritte gemacht in der Art, wie wir die Welt begreifen.
Wenn man nun bedenkt, unter welchen Voraussetzungen der Roman entstanden ist, passt das irgendwie. Herrndorf wurde mitten in Berlin in einem Pinguinkostüm aufgegriffen und in die Psychiatrie verbracht. Erst einige Zeit später stellte man fest, dass er nicht verrückt ist, sondern einen Hirntumor hat, und nicht mehr so viel Zeit. Gegen diese Zeit schrieb er diesen Roman. Und der Roman ist damit noch einmal beschrieben – auf einer Metaebene. Wenn die Halluzination so perfekt wirkt, dass sie real scheint, wie kann man sie von der Realität trennen? Das ist mehr als ein solipsistisches Problem. Es ist unser Problem! In einer Welt der Medien (so die unsere) tappen wir so blind herum wie Carl in dem Roman Sand. Und alle Protagonisten in den Medien (Zeitung, Fernsehen) tragen Masken, Persona. Das ist die Lehre – was man auch als phonetisches Homonym lesen kann – das ist die Leere.

 

Twelve Years A Slave

Von Solomon Northup

 

Erstmals erschienen im Jahr 1853

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johannes Sabinski und Alexander Weber

 

Stellen Sie sich vor, zwei freundliche Gentlemen ködern Sie mit einem lukrativen Geschäft, um Sie dann in Wirklichkeit an einen üblen Burschen zu verkaufen. Dieser verkauft Sie weiter und Sie müssen ohne Entgelt, unter zahlreichen Entbehrungen für Fremde in der Fremde ganz zwölf Jahre Sklavenarbeit verrichten. Sie gelten als verschollen. Unwahrscheinlich? Keineswegs. Der frei geborene Afroamerikaner Solomon Northup erzählt uns diese Geschichte. Und sie ist wahr.

Sklaverei wird heute weltweit schwer bestraft. Es handelt sich dabei nach heutigem Recht um Freiheitsberaubung und Nötigung und vor allem um eine schwere Verletzung menschlicher Grundrechte. Was so selbstverständlich klingt, war lange Zeit, bis in das 19.te Jahrhundert hinein ein weit verbreitetes ungeahndetes Übel. Ein Übel, das trotz weltweiter Ächtung immer noch existiert.  Nach UN-Schätzungen werden 50 Prozent des globalen Reichtums als unbezahlte Reproduktionsarbeit erbracht. Zumeist von Frauen. Zwangsarbeit existiert auch in Deutschland, in Form von Prostitution, Land- und Forstwirtschaft, Bergbau, aber auch in der Privatwirtschaft (häusliche Pflege zum Beispiel). Die Auftraggeber von Zwangsarbeit erwirtschaften jährlich ca. 200 Milliarden Euro. Zahlen, die aber nur die bekannte Oberfläche zieren. Unter dieser bekannten Oberfläche existiert weiteres Übel.

Seit es Hochkulturen gibt, gibt es auch Sklaverei. Das Wort stammt unter anderem von dem griechischen Wort skyleúo ab, übersetzt: Kriegsbeute. Denn mit Hochkulturen geht auch die Sitte einher, sich gegenseitig zu überfallen, auszurauben, tot zu schlagen und die überlebenden Unterlegenen zu versklaven. Menschenhandel ist das älteste Gewerbe der Menschheit. Der atlantische Sklavenhandel, der das Leben in Nordamerika bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmte, geht zurück in das 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der Kolonialisierung. Die Niederlande, Spanien und das Vereinigte Königreich beteiligten sich dabei rege. Der Unabhängigkeitskrieg der vereinigten Staaten (13 Kolonien), wurde finanziert durch Tabakhandel. Der auf Virginias Plantagen geerntete Tabak wurde an das postrevolutionäre Frankreich verkauft. Die Stimmen der patriotischen Abgeordneten, die prahlerisch von Freiheit und Gleichheit sprachen, und das Rasseln der Ketten an den Gliedern der armen Sklaven mischten sich beinahe. Ein Sklavenhof direkt im Schatten des Kapitols (Seite 39), beschreibt es Solomon Northup im Jahr 1853. Kurz davor wurde der Roman Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher Stowe veröffentlicht. Northups Schilderungen ähneln dem Roman sehr. Die Rechtfertigung derjenigen die Sklaverei betreiben, ist seit den alten Griechen immer die Gleiche: Die Menschheit wird unterteilt in Griechen und Barbaren. In Nordamerika waren „Neger“ eben keine richtigen Menschen. In Deutschland waren „Juden“ keine richtigen Menschen. Sie wurden Tieren gleichgesetzt. Der amerikanische Historiker Ira Berlin unterscheidet dabei jedoch zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Formen von Sklaverei: nämlich zwischen „Sklavengesellschaften“ und „Gesellschaften mit Sklaven“. Die Gesellschaft der Plantagenbesitzer der amerikanischen Südstaaten vor dem Sezessionskrieg sei (Generations of Captivity) eine typische Sklavengesellschaft gewesen, die sich von Gesellschaften mit Sklaven, wie sie z. B. in der griechischen und römischen Antike bestanden, charakteristisch unterscheide. Erstens beruhen in Sklavengesellschaften die zentralen Produktionsprozesse – im Fall der Südstaaten der Anbau von Zuckerrohr, Tabak, Reis und Baumwolle – auf der Arbeitskraft von Sklaven, während in der Ökonomie von Gesellschaften mit Sklaven die Sklaven nur eine marginale Rolle spielen. Ein zweiter wichtiger Unterschied besteht darin, dass das Verhältnis „Herr – Sklave“ in Sklavengesellschaften Modellcharakter annimmt und auch auf alle sonstigen sozialen Beziehungen (Mann – Frau, Eltern – Kind, Arbeitgeber – Arbeitnehmer) übertragen wird; in Gesellschaften mit Sklaven ist dies nicht der Fall. Infolgedessen bilden die Sklavenhalter in Sklavengesellschaften die herrschende Klasse, während sie in Gesellschaften mit Sklaven nur einen Teil der – umfassenderen – begüterten Elite ausmachten. (Wikipedia.org)

Solomon Northup beschreibt dies auch genauso. Der Sklavenhalter Epps ist ein herrischer, in Hierarchien denkender Großgrundbesitzer. Und auf den Plantagen, an denen Northup Sklavenarbeit verrichtete, erwirtschafteten ausschließlich Afroamerikaner den Ertrag. Ohne die Sklaven wäre nichts mehr gegangen. Die Hierarchien: Der Aufseher ist immer weiß, die Treiber sind schwarz. Plantagenbesitzer sind weiß und sie sind nicht liberal. Die alten Griechen waren liberal. Und daher gibt es viele erfolgreiche Assimilationsgeschichten unter den Griechen und später auch unter den Römern. Ein demokratisches System führt zwangsläufig zu sozialen Überwerfungen mit Sklavengesellschaften, ohne dabei immer den Widerspruch zu erkennen, eine Gesellschaft mit Sklaven zu sein (Zwangsarbeit, Leibeigenschaft etc.).

Es war William Wilberforce, der in England im 18. Jahrhundert immer wieder gegen die Sklaverei kämpfte. Der überzeugte Darwinist ist ein Abolitionist der ersten Stunde. 18 Jahre dauerte sein Kampf. Erst 1807 war er erfolgreich und es kam zum „Slave Trade Act“, der den Sklavenhandel im vereinigten Königreich unterband.

Northups Geschichte schildert die Brutalität, die Verrohung, aber auch die kleinen Freuden. Es ist kein einseitiger Bericht, denn sein erster Besitzer (Ford) war ein anständiger Mann. Man konnte auch anders. Die längste Zeit jedoch verbrachte Northup alias Platt auf der Plantage von Epps. Tägliche Auspeitschungen, billige Nahrung (nur Speck und Maisbrot – immer), ein Brett zum Schlafen, kein eigener Besitz, keine Chance auf Bildung, nur schwerste Arbeit unter dauernden Drohungen und übelsten Züchtigungen. Und das Ganze grade mal vor 150 Jahren in einem Land, das seinen Rassenhass immer noch nicht überwunden hat. Solomon Northup schreibt ergreifend, packend aber auch mit seiner eigenen Note. Es ist ein differenzierter Bericht, der - mit scharfem Auge beobachtet – sogar Zeit findet, die komplexen Vorgänge auf den Plantagen zu schildern, die Unterschiede zwischen Zuckerrohr- und Baumwollernte, die Lebensbedingungen detailliert darstellt. All die namenlosen Sklaven bekommen ein Gesicht, eine Persönlichkeit. Vor 150 Jahren, tief im Süden Nordamerikas, irgendwo in diesem Sumpfgebiet, Mücken, Hitze, Peitschenknallen – wir kennen diese Bilder aus unzähligen Filmen. Und doch zeigt Northups Bericht über diese Farbfilm-Bilder in unserem Kopf hinaus. Wenn er zum Beispiel erzählt, wie er sich ein Stück Papier besorgt unter größter Gefahr, wie er sich selbst Tinte macht und mit einem Entenfederkiel einen Brief schreibt, heimlich, nachts bei Kohlenfeuer. Und diesen Brief aus Angst entdeckt zu werden, verbrennen muss, dann streicht das jedem halbwegs zu Empathie fähigen Menschen einen Schauder über den Rücken. Ein emotionaler Peitschenhieb. Die Würde des Menschen ist unantastbar! Northup schreibt ganz konkret, was es heißt, diese Menschenwürde anzutasten.

Im Jahr 2013 entdeckte Steve McQueen (Regisseur) den Stoff und verfilmte ihn. Der Film bekam einen Oskar als bester Film 2014. Und so kam es dazu, dass endlich auch eine deutsche Übersetzung vorliegt.

Sunset Park

Von Paul Auster

Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz

Erschienen im Verlag Rowohlt 2012

 

Paul Auster wurde 1947 in Newark ( Newark, das ist ja auch die Gegend von Philip Roth) geboren, als Sohn jüdischer Einwanderer. Mit galizischen Wurzeln. Aus Stanislau kam sein Vater, in der heutigen Westukraine gelegen. Iwano-Frankiwsk. Polnisch, österreichisch, russisch. Das sind einfach auch die Wurzeln von Paul Auster, der viel europäische Literatur in seinen Romanen verarbeitet, so auch zum Beispiel Dostojewski. Der Roman Schuld und Sühne soll ihn laut eines Interviews dazu bewogen haben, selbst Schriftsteller zu werden.

Der Hauptprotagonist in seinem neuen Roman, Miles Heller, Sohn des Verlegers Morris Heller, hat seiner Familie in New York den Rücken gekehrt. Er arbeitet im Sunshine State Florida für ein Entrümpelungsunternehmen, das Wohnungen und Häuser durchgebrannter Mieter ausräumt und ihren ehemaligen Besitz entsorgt. Miles Arbeitskollegen bedienen sich an den zurück gelassenen Wertsachen der ehemaligen Bewohner. Schon hier baut Auster die Kulisse eines anderen Amerika. Flucht! Als läge dies wie ein Fluch auf dem ehemaligen Einwandererland. Miles ist geflohen, die Mieter sind ausgeflogen, haben alles zurückgelassen. Der Roman spielt im Jahr 2008 vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Immobilienkrise (Subprime-Krise). Daher ist es nicht verwunderlich, dass in dem Roman mit Ellen Brice auch eine Immobilienmaklerin vorkommt, die dann auch naturgemäß an Depressionen leidet.

Es sind die alltäglichen, zerbrochenen, verlorenen, vergessenen, verschwundenen, diese letzten Dinge, die aufgegebenen Dinge, die Miles beschäftigen und die auch Paul Auster seit über zwanzig Jahren schriftstellerischer Tätigkeit umtreiben. Im Gegensatz zu seinen Arbeitskollegen bedient sich Miles nicht an den zurück gelassenen Dingen, sondern fotografiert sie lieber. Mit den alten zerbrochenen und vergessenen Dingen beschäftigt sich auch Miles‘ Kumpel Bing Nathan in seiner Klinik für kaputte Dinge. Schreibmaschinen, Röhrenradios, Plattenspieler, Aufziehspielzeug, Kaugummiautomaten und Telefone mit Wählscheibe. Und Alice Bergstrom beschäftigt sich auch mit den alten Dingen, einem alten Nachkriegsspielfilm, der von Kriegsheimkehrern handelt.

Wir werden in dem Roman vielen Listen begegnen. Wie ein Memento mori wird das Amerika aufgelistet, wie eine letzte verwaltungstechnische Bestandsaufnahme eines untergehenden Kontinents.

Miles lernt nun in Kalifornien eine junge Frau kennen. Ihre Intelligenz und Aufmerksamkeit fasziniert ihn. Leider ist die Dame minderjährig und nach einem Glück verheißenden Beginn der Affäre muss Miles wieder fliehen, den Bundesstaat verlassen. Die einzige Adresse die ihm Zuflucht bietet, ist ein Holzhaus am Sunset Park. Sein alter Freund Bing Nathan hat es zusammen mit zwei Freunden, der Doktorandin Alice Bergstrom und der depressiven Wohnungsmaklerin Ellen Brice besetzt. Hierher flieht Miles und arbeitet nun auch sein bisheriges Leben auf. Wir erfahren endlich, warum er aus New York geflohen ist, wir lernen das Leben der Protagonisten kennen, die in dem besetzten Haus um ihr Überleben kämpfen, ihre verzweifelten Versuche, das bisschen Bürgerlichkeit noch aufrecht zu erhalten. Wir lernen Miles Vater kennen, einen Verleger (auch dies sind schon alte Sachen – Bücher), seine Mutter, eine erfolgreiche Schauspielerin, die ihrerseits durchgebrannt ist mit ihrem Regisseur. Wir lernen einen zurückgezogen lebenden Schriftsteller kennen, den Freund von Morris Heller (Miles Vater). Alle Figuren sind furchtbar in sich selbst verstrickt und merken kaum, wie alles zusammenbricht.
Austers postmoderne Helden, postkapitalistische Helden, haben etwas Geisterhaftes. Es sind selbstreferenzielle Reminiszenzen, durch die sie ihr Leben in einen Kokon spinnen. Das vom Kapitalismus durch Konsum etablierte Cocooning (Verpuppung ins Private) funktioniert in der Krise nicht mehr. Moral muss man sich eben leisten können. Die dunkle Bedrohung hat die meisten Figuren erfasst. Morris Hellers Verlag ist von der Pleite bedroht. Simons Produktionsfirma ist schon pleite. Bing Nathan ist durch die überhöhte Ladenmiete gezwungen, ein Haus zu besetzen.

Miles fotografiert Grabsteine. Auch das ist eine Auflistung. Wie ein Archäologe streift Miles durch das liegen gebliebene, vergessene Wunderland Amerika.

Insgesamt mag der Roman sprachlich konventioneller wirken, als andere Bücher von Auster. Aber er bleibt sich absolut treu. Wieder gibt es diese Selbstreferenz, da die Familienverhältnisse von Miles durchaus an die von Paul Auster erinnern (seine Mutter lebt in zweiter Ehe, wie Miles Mutter). Der Zufall spielt wieder eine Rolle und das kennzeichnet ja Austers Werk insgesamt. Der Mensch ist grundsätzlich gut, von innerer Güte beseelt, sagen die Transzendentalisten beeinflusst vom deutschen Idealismus (Walt Whitman, Nataniel Hawthorne), denen sich Paul Auster verbunden fühlt. Die Zufälle in seinem Leben wirken sich dann tragisch aus und damit ist nichts Böses an der Tragödie.  Das Motiv des „verlorenen Vaters“ spielt in mehreren Büchern von Paul Auster eine große Rolle (vor allem in einem seiner bekanntesten Bücher Die Erfindung der Einsamkeit) und kommt auch hier vor, da zwischen Miles und Morris einfach kein Kontakt zustande kommen will. Obwohl sie sich sehr ähnlich sind oder vielleicht gerade deshalb. Hier wirkt sich der Einfluss von Jacque Lacan aus, einem französischen Psychoanalytiker, der die Realität als das Unfassbare, das Traumatische begreift.  
Viel Baseball natürlich, wie immer bei Paul Auster. Und ganz langsam verstehe ich das Spiel. Obwohl ich selbst keinen Bezug zu diesem Spiel bekomme. Aber die Erzählungen über ehemalige Baseballspieler sind ein weiteres Grundmuster in den Auster-Romanen: das Anekdotische. 

Die Vielstimmigkeit des Romans, in dem Auster die Figuren wie in einem Bilderbuch aufblättert schafft ein soziales Panorama des modernen New York. Eine Einzimmer-Wohnung in Manhattan mit Kochnische (ohne Fenster) kostet heute im Monat 1800 Dollar. Studien-Gebühren 28.000 Dollar pro Jahr. Daher ist die Wohngemeinschaft inzwischen die übliche Lebensform in dieser Stadt. Studenten müssen Darlehen aufnehmen; wenn sie fertig sind, lasten auf ihren Schultern Schuldenberge. Schulden aber machen Leute furchtsam. Sie beengen die Aussichten, wo sich für die jungen Menschen die Straße öffnen sollte. Ich rede von Millionen junger Leute, erzählt Paul Auster in einem Interview der ZEIT.

Paul Auster selbst lebt in einem viktorianischen Haus im Prospekt Park. In diesem Park gibt es sieben Baseball-Felder. Das Haus im Sunset-Park gibt es nicht mehr. Es ist ausradiert, verschwunden. 

 

 

Aller Tage Abend

Von Jenny Erpenbeck

Knaus-Verlag 2012

 

Im Alter von etwa zwei Jahren, habe ich mal ein Stückchen Apfel in die Luftröhre bekommen. Als meine Mutter mich entdeckte, war ich bereits blau angelaufen. Meine Mutter schrie nach meinem Vater. Und dass mein Vater an diesem Tag zu Hause war, war ein besonderer Zufall und keineswegs selbstverständlich. Mein Vater war als Handlungsreisender viel unterwegs. Aber an diesem Tag war er zu Hause. Und er packte mich, drehte mich und hielt mich an den Füßen über das Treppengeländer. Durch die Schwerkraft (und wohl auch einen kräftigen väterlichen Schlag auf den Rücken) glitt das tückische Apfelstück wieder aus meiner Luftröhre und giemend und pfeifend sog ich Luft in meine Lungen. Was wäre geschehen, wenn mein Vater verreist gewesen wäre?

In der Philosophie spricht man von der so genannten Kontingenz ((von lat. contingere „(sich) berühren, (zeitlich unvorhergesehen) zusammenfallen“). „Kontingent“ bezeichnet den Status von Tatsachen, deren Bestehen gegeben und weder notwendig noch unmöglich ist. Daran anknüpfend beziehen sich Redeweisen wie „kontingentes Sein“, auch etwa im Kontext der Religionsphilosophie, auf eine Abhängigkeit von Vorursachen dafür, dass eine Sache bzw. ein Sachverhalt überhaupt ist und so ist, wie diese bzw. dieser ist. Dies hat nichts mit wahr oder falsch zu tun, sondern mit möglich oder unmöglich. Es ist möglich, dass ich grüne Haut hätte, oder an einem Stück Apfel erstickt wäre. Aber es ist unmöglich, dass ein eckiger Kreis existiert.

Jenny Erpenbeck hat nun die Biografie einer Frau geschrieben, die sich in fünf Todesfugen entwickelt. Grundlage ihrer Hauptfigur ist ihre Großmutter Hedda Erpenbeck-Zinner, deren Leben sie in fiktiven Schüben nachzeichnet.

Hedda Erpenbeck-Zinner, die unter ihrem Geburtsnamen und verschiedenen Pseudonymen (Elisabeth Frank, Hannchen Lobesam, Hedda) publizierte, wurde in Lemberg geboren. Sie besuchte dort 1923 bis 1925 die Schauspielakademie. Engagements führten sie nach Stuttgart, Baden-Baden, Breslau und Zwickau. Ab 1929 lebte sie in Berlin, wurde KPD-Mitglied, arbeitete als Schriftstellerin und Rezitatorin. Bei politischen Kundgebungen trug sie eigene Gedichte vor.

Ab 1930 publizierte sie politisch-satirische und gesellschaftskritische Gedichte u.a. in der ‚Roten Fahne‘, der ‚Arbeiterstimme‘, , in der ‚AIZ‘, im ‚Weg der Frau‘ und dem ‚Magazin für Alle‘. 1933 emigrierte sie zunächst nach Wien und Prag, wo die das politische Kabarett "Studio 1934" gründete und leitete; ab 1935 lebte sie in der Sowjetunion. Sie arbeitete als Hörspielautorin für den Moskauer Rundfunk und für verschiedene Literaturzeitschriften.

1945 kehrte sie nach Berlin zurück, wo sie während der Teilung der Stadt im östlichen Teil der Stadt lebte. Sie wurde Spielleiterin im Hause des Rundfunks (seit 1946) und wirkte bis zu ihrem Tode 1994 als Schriftstellerin.

Jenny Erpenbeck montiert das Leben ihrer berühmten Großmutter geschickt in die historischen Bezüge ein. Im ersten Buch stirbt die Tochter noch vor der Vollendung des ersten Lebensjahres. Erpenbeck zeichnet nun nach, was bei einem so frühen Tod ihrer Protagonistin alles hätte geschehen können. Es erinnert an den Schmetterlingseffekt und erinnert uns daran, wie wertvoll und wie entscheidend ein einzelnes Leben ist. Zugleich erzählt Erpenbeck ergreifend die Lebenswelt galizischer Juden.

Im zweiten Buch stirbt die Protagonistin als Jugendliche. Im dritten stirbt sie in russischer Gefangenschaft, im vierten Buch durch einen unglücklichen Treppensturz und erst im fünften Buch stirbt sie als alte Frau im Altenheim. Fünf Tote ergeben fünf Leben. Erpenbeck hat ein Gespür für originelle Plot-Strukturen. Schon in dem Roman Heimsuchung hatte sie dafür einen originellen Protagonisten: ein Haus als Hauptcharakter der Erzählung.

Die namenlosen Helden in dem Roman werden zunächst nur in ihrer Rolle benannt. Sie heißen Vater, Mutter, Tochter. Später werden die Helden mit dem ersten Buchstaben ihres Namens gekennzeichnet. Erst im letzten Buch hat die Hauptheldin einen Namen. Es ist die berührende Geschichte der dementen Frau Hoffmann im Altenheim. Jenny Erpenbeck ist gelernte Theaterautorin und das merkt man. Sie ist rhetorisch enorm stilsicher und weiß, wie man eine Szene aufzubauen hat. So kann man die Handlung gut verfolgen, obwohl die Protagonisten Vater, Mutter, Tochter heißen. Und wenn die Mutter die Rolle der Tochter spielt, da sie ja auch eine Mutter hat und damit Tochter ist, dann weiß man als Leser trotzdem, wer gemeint ist. Und das muss man schon können. Es mag ungewohnt sein, auch weil es eine merkwürdige Distanz schafft, aber gerade hier wird durch das Exemplarische erzählerische Dichte aufgebaut. Die Geschichte hat dadurch etwas Archaisches an sich. Gerade dieses fast schon mythologische Galizien wird so besonders tief empfindbar und nachvollziehbar. Und dass die Genossen nur einen Buchstaben als Namen haben, das finde ich auch in der Nachbetrachtung sehr passend.

Jenny Erpenbeck weiß auch sehr gut Bescheid über die ehemalige DDR. Ihr Vater John Erpenbeck war ein leitender Wissenschaftler (arbeitete für das Wissenschaftsministerium der DDR) im so genannten Unrechtsstaat. 

So wandert in fünf Todesfugen ein Jahrhundert an uns vorüber und endet fast naturgemäß im Vergessen – in der Demenz. Mit viel Gefühl und Einfühlungsvermögen schildert Erpenbeck die alte Frau Hoffmann und Herrn Zabel, der stets nach seiner (in Wahrheit bereits verstorbenen) Frau sucht. Diese Verlorenheit, dieses halbe Bewusstsein und doch so viel mehr!

Und dann: „Bilder, vielleicht die Summe all dessen, was irgendwann einmal irgendwo auf der Welt gesagt wurde und wird, ein lebendiges Ganzes, das nur manchmal nach dieser, manchmal nach der anderen Seite Auswüchse hat, am Ende aber sich wieder ausgleicht? Dann wäre also dieses das Ende? Eine rechts, eine links. Genau. Und dann umdrehen, und es geht wieder von vorn los. Das ist die ganze Kunst? Das ist die ganze Kunst.“ (Seite 262/263)

Kann man es besser auf den Punkt bringen? Der Roman von Jenny Erpenbeck ist eine kunstvolle Montage: Leben als Versuchsanordnung. Wie das Aufnehmen und Fallenlassen von Maschen in einem Strickmuster. Und zwischen den Zeilen schwebt - wie unbeabsichtigt - Ingeborg Bachmanns „Todesarten-Projekt“ in dem der Krieg im Zwischenmenschlichen mit den Motiven Erinnerung, Gewalt, Geschichte, Angst und Identität verknüpft wurde.

Aller Tage Abend

Von Jenny Erpenbeck

Knaus-Verlag 2012

 

Im Alter von etwa zwei Jahren, habe ich mal ein Stückchen Apfel in die Luftröhre bekommen. Als meine Mutter mich entdeckte, war ich bereits blau angelaufen. Meine Mutter schrie nach meinem Vater. Und dass mein Vater an diesem Tag zu Hause war, war ein besonderer Zufall und keineswegs selbstverständlich. Mein Vater war als Handlungsreisender viel unterwegs. Aber an diesem Tag war er zu Hause. Und er packte mich, drehte mich und hielt mich an den Füßen über das Treppengeländer. Durch die Schwerkraft (und wohl auch einen kräftigen väterlichen Schlag auf den Rücken) glitt das tückische Apfelstück wieder aus meiner Luftröhre und giemend und pfeifend sog ich Luft in meine Lungen. Was wäre geschehen, wenn mein Vater verreist gewesen wäre?

In der Philosophie spricht man von der so genannten Kontingenz ((von lat. contingere „(sich) berühren, (zeitlich unvorhergesehen) zusammenfallen“). „Kontingent“ bezeichnet den Status von Tatsachen, deren Bestehen gegeben und weder notwendig noch unmöglich ist. Daran anknüpfend beziehen sich Redeweisen wie „kontingentes Sein“, auch etwa im Kontext der Religionsphilosophie, auf eine Abhängigkeit von Vorursachen dafür, dass eine Sache bzw. ein Sachverhalt überhaupt ist und so ist, wie diese bzw. dieser ist. Dies hat nichts mit wahr oder falsch zu tun, sondern mit möglich oder unmöglich. Es ist möglich, dass ich grüne Haut hätte, oder an einem Stück Apfel erstickt wäre. Aber es ist unmöglich, dass ein eckiger Kreis existiert.

Jenny Erpenbeck hat nun die Biografie einer Frau geschrieben, die sich in fünf Todesfugen entwickelt. Grundlage ihrer Hauptfigur ist ihre Großmutter Hedda Erpenbeck-Zinner, deren Leben sie in fiktiven Schüben nachzeichnet.

Hedda Erpenbeck-Zinner, die unter ihrem Geburtsnamen und verschiedenen Pseudonymen (Elisabeth Frank, Hannchen Lobesam, Hedda) publizierte, wurde in Lemberg geboren. Sie besuchte dort 1923 bis 1925 die Schauspielakademie. Engagements führten sie nach Stuttgart, Baden-Baden, Breslau und Zwickau. Ab 1929 lebte sie in Berlin, wurde KPD-Mitglied, arbeitete als Schriftstellerin und Rezitatorin. Bei politischen Kundgebungen trug sie eigene Gedichte vor.

Ab 1930 publizierte sie politisch-satirische und gesellschaftskritische Gedichte u.a. in der ‚Roten Fahne‘, der ‚Arbeiterstimme‘, , in der ‚AIZ‘, im ‚Weg der Frau‘ und dem ‚Magazin für Alle‘. 1933 emigrierte sie zunächst nach Wien und Prag, wo die das politische Kabarett "Studio 1934" gründete und leitete; ab 1935 lebte sie in der Sowjetunion. Sie arbeitete als Hörspielautorin für den Moskauer Rundfunk und für verschiedene Literaturzeitschriften.

1945 kehrte sie nach Berlin zurück, wo sie während der Teilung der Stadt im östlichen Teil der Stadt lebte. Sie wurde Spielleiterin im Hause des Rundfunks (seit 1946) und wirkte bis zu ihrem Tode 1994 als Schriftstellerin.

Jenny Erpenbeck montiert das Leben ihrer berühmten Großmutter geschickt in die historischen Bezüge ein. Im ersten Buch stirbt die Tochter noch vor der Vollendung des ersten Lebensjahres. Erpenbeck zeichnet nun nach, was bei einem so frühen Tod ihrer Protagonistin alles hätte geschehen können. Es erinnert an den Schmetterlingseffekt und erinnert uns daran, wie wertvoll und wie entscheidend ein einzelnes Leben ist. Zugleich erzählt Erpenbeck ergreifend die Lebenswelt galizischer Juden.

Im zweiten Buch stirbt die Protagonistin als Jugendliche. Im dritten stirbt sie in russischer Gefangenschaft, im vierten Buch durch einen unglücklichen Treppensturz und erst im fünften Buch stirbt sie als alte Frau im Altenheim. Fünf Tote ergeben fünf Leben. Erpenbeck hat ein Gespür für originelle Plot-Strukturen. Schon in dem Roman Heimsuchung hatte sie dafür einen originellen Protagonisten: ein Haus als Hauptcharakter der Erzählung.

Die namenlosen Helden in dem Roman werden zunächst nur in ihrer Rolle benannt. Sie heißen Vater, Mutter, Tochter. Später werden die Helden mit dem ersten Buchstaben ihres Namens gekennzeichnet. Erst im letzten Buch hat die Hauptheldin einen Namen. Es ist die berührende Geschichte der dementen Frau Hoffmann im Altenheim. Jenny Erpenbeck ist gelernte Theaterautorin und das merkt man. Sie ist rhetorisch enorm stilsicher und weiß, wie man eine Szene aufzubauen hat. So kann man die Handlung gut verfolgen, obwohl die Protagonisten Vater, Mutter, Tochter heißen. Und wenn die Mutter die Rolle der Tochter spielt, da sie ja auch eine Mutter hat und damit Tochter ist, dann weiß man als Leser trotzdem, wer gemeint ist. Und das muss man schon können. Es mag ungewohnt sein, auch weil es eine merkwürdige Distanz schafft, aber gerade hier wird durch das Exemplarische erzählerische Dichte aufgebaut. Die Geschichte hat dadurch etwas Archaisches an sich. Gerade dieses fast schon mythologische Galizien wird so besonders tief empfindbar und nachvollziehbar. Und dass die Genossen nur einen Buchstaben als Namen haben, das finde ich auch in der Nachbetrachtung sehr passend.

Jenny Erpenbeck weiß auch sehr gut Bescheid über die ehemalige DDR. Ihr Vater John Erpenbeck war ein leitender Wissenschaftler (arbeitete für das Wissenschaftsministerium der DDR) im so genannten Unrechtsstaat. 

So wandert in fünf Todesfugen ein Jahrhundert an uns vorüber und endet fast naturgemäß im Vergessen – in der Demenz. Mit viel Gefühl und Einfühlungsvermögen schildert Erpenbeck die alte Frau Hoffmann und Herrn Zabel, der stets nach seiner (in Wahrheit bereits verstorbenen) Frau sucht. Diese Verlorenheit, dieses halbe Bewusstsein und doch so viel mehr!

Und dann: „Bilder, vielleicht die Summe all dessen, was irgendwann einmal irgendwo auf der Welt gesagt wurde und wird, ein lebendiges Ganzes, das nur manchmal nach dieser, manchmal nach der anderen Seite Auswüchse hat, am Ende aber sich wieder ausgleicht? Dann wäre also dieses das Ende? Eine rechts, eine links. Genau. Und dann umdrehen, und es geht wieder von vorn los. Das ist die ganze Kunst? Das ist die ganze Kunst.“ (Seite 262/263)

Kann man es besser auf den Punkt bringen? Der Roman von Jenny Erpenbeck ist eine kunstvolle Montage: Leben als Versuchsanordnung. Wie das Aufnehmen und Fallenlassen von Maschen in einem Strickmuster. Und zwischen den Zeilen schwebt - wie unbeabsichtigt - Ingeborg Bachmanns „Todesarten-Projekt“ in dem der Krieg im Zwischenmenschlichen mit den Motiven Erinnerung, Gewalt, Geschichte, Angst und Identität verknüpft wurde.

 

Atlas eines ängstlichen Mannes

Erschienen 2012 S. Fischer Verlag

Autor: Christoph Ransmayr

 

Es war einmal ist die klassische Formel, mit der das Märchen beginnt und sich als Märchen zu erkennen gibt.  Ich sah ist die Formel der Offenbarung, etwas sichtbar machen, aus dem Verborgenen heraus lösen. Die Erzählungen von Ransmayr beginnen mit dieser Formel: Denn „auf dieser Welt ist auf Dauer nichts zu verbergen.“ So jedenfalls weiß es Mrs. Christian zu berichten. Sie ist eine Nachfahrin von Fletcher Christian, dem berühmten zweiten Offizier der Bounty. Sie lebt seit ihrer Geburt auf der Insel Pitcairn. Das verlorene Paradies ist eines der 70 Offenbarungen von Christoph Ransmayr. Und die Geschichte der Meuterer, die uns der Autor da erzählt, muss sich vor den Geschichten des Höhlenbewohners aus Patmos nicht verstecken.

Von der chinesischen Mauer bis zu einer oberösterreichischen Uferwiese an der Donau, spannt sich der Bogen der Reise-Gesichter.

Ransmayrs‘ Offenbarungen sind aufgehängt an einem ganz persönlichen Atlas. Das griechische Wort Atlas für Träger meint vieles. Der erste Halswirbel, der die Last unseres Kopfes trägt. Ihn nennen wir Atlas. Benannt nach dem Titanen, der auf seinen Schultern die Welt trägt. Am westlichen Rand des Seins lebend, den Himmel auf seinen Schultern. Eine Anspielung auf diesen Mythos ist die 30. Geschichte  Im Säulenwald.  Der ängstlich reisende Icherzähler befindet sich im versunkenen Palast westlich der Hagia Sophia. Zwölf Reihen von 28, insgesamt also 336 jeweils acht Meter hohe Säulen schaffen diesen Säulenwald wie ein Symbol der Monate und Tage eines Jahres. Der Icherzähler beobachtet nun einen Mann, der – einem Brauch folgend – eine Münze in das Zisternenwasser wirft. Dort ruhen die Säulen umgedrehter Medusenhäupter. Der Mann steigt in den Brunnen, um die Münze zu wenden und damit auch sein eigenen Schicksal. Perseus, ebenfalls ein Reisender, kämpfte auch um sein Schicksal, als er die Gorgone enthauptete. Auf seiner Reise kam Perseus am Palast des Atlas vorbei. Atlas verweigerte dem Reisenden den Zutritt zu seinem Garten, aus Angst, dass Perseus ihm seine Töchter rauben könnte. Dies machte Perseus wütend und er zeigte dem Atlas das Haupt der Medusa, worauf dieser versteinerte. Steht man in Marrakesch auf einem Balkon, dann kann man im himmelsblauen Hintergrund den Stein gewordenen Atlas immer noch thronen sehen.  Ein Schatten am Ende der Welt. Vor vielen Jahren (1982) war ich selbst einmal in Beni Mellal am Westrand des Mittleren Atlas. Unser Ziel: Dem Dades in den Hohen Atlas zu folgen. In den Schluchten der Passstraße sahen wir ausgebrannte Autowracks. Ich saß auf dem Dach unseres Hanomag, genoss den warmen Wind und holte mir einen Sonnenstich, der mich tagelang außer Gefecht setzte. Berber versorgten uns mit Opium. Das linderte die schwere Diarrhö.

Noch heute lässt uns die Angst zu Stein erstarren. Und noch heute gibt es die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur. Auch wenn der Mensch die Natur zurückdrängt, was Ransmayr gut zu erzählen weiß, wenn er zum Beispiel versucht, eine ferne Galaxie zu beobachten, was vom Streulicht einer Bergstation verhindert wird. Die Schönheit der Finsternis, das Haar der Berenike kann er aber dann doch erblicken. Doch er bekommt einen gehörigen Schrecken, weil sein Fluch auf das künstliche Licht sich plötzlich erfüllt und er von Dunkelheit eingehüllt wird. Doch dann taucht am Himmel der Mond auf und sein natürliches Licht hüllt die Finsternis wieder ein, oder drängt die Finsternis zurück.

Beeindruckend ist auch die Erzählung eines Stierkampfes in Sevilla. Der Gnadenruf eines Einzelnen aber kann den Stier nicht retten. Der Tod in Sevilla ist eine der dichtesten Erzählungen von den 70 Reisegeschichten. Impressionistische Skizzen, flüchtige Eindrücke aus vierzig Jahren Reiseerfahrung. Der schnauzbärtige Welser und studierte Ethnologie Christoph Ransmayr ist ein geübter Reisejournalist. Er schreibt unter anderem für GEO und Merian. Die Geschichte Die Arbeit der Engel  von dem alten Mann in Trebic, der dort einen alten jüdischen Friedhof pflegt, las ich relativ bald nach dem Mauerfall in der ZEIT.

Gemeinsam mit dem zweiten Halswirbel (C2), der Axis, bildet der Atlas das Kopfgelenk und beide ermöglichen so die Drehung des Kopfes. Jetzt erst wird es möglich, sich umzuschauen. Und Jäger schießen genau dort hinein, weil hier das Rückenmark leicht zu durchtrennen ist. Der Genickschuss. In Konzentrationslagern gab es Genickschussanlagen. In Buchenwald war das ein ehemaliger Pferdestall. Und bei der Medusa? Da handelt es sich um ein Pferd, das Perseus einfangen soll, um einen Pferdekopf, den Perseus dem König von Seraphis ausliefert. Und beim Tod von Sevilla ist es ein Rejoneador, ein berittener Torrero, der die Hauptrolle im Töten spielt.

Ob in Bolivien, in Kambodscha oder im Nepal, Ransmayr begegnet öfter als ihm wohl lieb ist, dem Medusenhaupt.

Ob alle Geschichten wahr sind? Aber das ist nicht die Klammer der Geschichten. Ob nun ein Pianist mit den Gesängen der Zikaden wetteifert, ob ein brasilianischer Großgrundbesitzer mit Schlangen ringt, oder ein irischer Fischer die See verflucht, Papierdrachen mit Flughunden kämpfen, ein Faultier das Dach eines Hauses durchschlägt,  – immer geht es um die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur, zwischen dem Geschaffenen und dem Geschöpften, zwischen Evolution und Geschichte. Und nahezu jedes Mal befindet sich die Natur im Rückzug.

Reiseliteratur war immer eine Literatur der Entdeckungen, von Marco Polo bis Alexander von Humboldt. Aber was gibt es noch zu entdecken? Der Ausbau der Verkehrsmittel bringt uns inzwischen in jeden erdenklichen Winkel der Erde, bei Bedarf sogar mit höchstem Komfort. Ransmayr reist in die Binnenräume dieser längst offenbarten Orte. Er sieht eine ferne Gestalt vor einem verfallenen Wachturm, er sieht ein offenes Grab im Schatten einer turmhohen Araukarie,  er sieht einen Konzertflügel hinter einer blauen Glasfront, eine rote Schwimmweste am Rand eines wogenden Treibgutfeldes, ein Mädchen mit einer Bambusangel und so weiter.

Skizzen, Miniaturen, Impressionen. Wer heute reist und sich jenseits des Baedekers bewegen will, tut gut daran, ängstlich zu sein. Sonst wird daraus bestenfalls ein Reisehandbuch. 

Reisen. Aus dem altgermanischen Wort risan, to rise. Sich erheben. Hier ist ein kriegerischer Aspekt konnotiert. In den Krieg ziehen, Beute machen. Aber die Reise bedeutet auch ganz metaphorisch „sich auf den Weg machen“. 

Und so liest sich eben der letzte Satz in Ransmayrs Reiseimpressionen: „Nun war ich angekommen.“

So lässt sich auch die Reise des Odysseus lesen. Geborgenheit, Heimat. Das ist der eigentliche utopische Raum. Auf der Suche nach dem ganz persönlichen Ithaka.

Jeder Raum will bereist, erkämpft und erschlossen werden. Vielleicht liegt darin das Geheimnis des Menschen, der sich wie ein Insekt überall verbreitet und selbst in den unwirtlichsten Orten überlebt.

 

Judas

Von Amos Oz

 

Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler

Erschienen im Verlag Suhrkamp 2015

 

"Diese [die Juden] haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet, auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen." - 1. Thessalonicher 2,15

 

In seinem neuen Roman erzählt uns Amos Oz, der israelische Schriftsteller und Mitbegründer der politischen Bewegung Schalom Achschaw (Frieden jetzt), eine Geschichte, die sich mit dem Thema „Verrat“ auseinandersetzt (es ist sein Lebensthema). Die Geschichte spielt in Jerusalem, einige Jahre vor dem Sechs-Tage-Krieg. Ben Gurion leitet noch die Geschicke des jungen Staates. Der Student Schmuel Asch setzt sich gerade damit auseinander, wie die Juden den berühmtesten aller Juden gesehen haben, Judas Ischariot. Immer wieder verweist der junge Student darauf, dass ohne Judas das Christentum gar nicht möglich gewesen wäre. Andererseits fragt er sich auch, wie es möglich sein kann, dass ein reicher Jude wie Judas (er hatte Grundbesitz) für lächerliche 30 Silberlinge einen Verrat üben konnte, der nicht einmal nötig war, weil jeder wusste, wo sich Jesus aufhält, und Jesus nicht einmal vor hatte zu fliehen oder sich zu verstecken.
Leider muss der junge Student seine Arbeit aufgeben, weil sein Vater mit seiner Firma „Möwe“  bankrott machte und ihn nicht mehr unterstützen kann. Zu allem Unglück hat ihn auch noch seine Freundin Jardena verlassen, und heiratet ausgerechnet den langweiligen Hydrologen Nescher Scharschawski. Schmuel Asch versteht die Welt nicht mehr. Auch sein sozialistischer Arbeitskreis hat sich aufgelöst und so steht Schmuel Asch recht verloren da. Der auktoriale Erzähler beschreibt den jungen Studenten mit einer spöttisch-zärtlichen Stimme. Asch hat einen gewaltigen Bart, den er sich immer mit Babypuder einreibt und er neigt dazu, leicht in Tränen auszubrechen. Er ist wie tapsiger Bär, leicht verträumt, verwirrt. …entweder wie ein begeisterter kleiner Hund, der kratzt und tobt, und sogar wenn du auf einem Stuhl sitzt, drehst du dich die ganze Zeit um deinen eigenen Schwanz, oder du bist das Gegenteil – liegst ganze Tage lang auf dem Bett wie eine ungelüftete Wolldecke, zeichnete ihn seine Freundin Jardena, bevor sie ihn verließ. Schmuel entdeckt nun eine Anzeige, wo ein kranker, alter Mann einen Pfleger bzw. Betreuer sucht. Er müsse ihn vor allem abends unterhalten. Eine vermeintlich leichte Aufgabe. Schmuel geht zu der angegebenen Adresse in der Rav-Alba-gasse und verbringt dort dann denWinter (über vier Monate). Der alte Mann heißt Gershom Wald und ist ein kauziger Krüppel, der gerne diskutiert. Mit in dem von der Restwelt isoliertem Haus lebt noch eine Frau, die Schwiegertocher, Atalja Abrabanel. Es bleibt nicht aus, dass sich Schmuel in die deutlich ältere, aber geheimnisvolle Frau verliebt. Ihr Vater (längst tot) stellt sich heraus, galt als Verräter, wie Judas einer war, und – wie es Amos Oz in einem Interview erzählt – auch der Autor selbst. Es geht nun in dem vielschichtigen Roman um die hoffnungslose Liebe des Studenten Schmuel Asch zu der älteren Atalja, es geht um die Frage des ewigen Juden, um Versöhnung, um die Legitimation des israelischen Staates. Der Vater von Atalja war Mitglied der Jewish Agency, Teil des Gründerkreises um Ben Gurion. Er aber war ein so genannter Kulturzionist und gegen eine Staatsgründung. Schüler von Hirsch Ginsberg (Achad Ha’am S. 196), der schon im 19. Jahrhundert zu der Ansicht gekommen war, dass die Errichtung eines jüdischen Staates gerade dort zu vielen, teilweise schwerwiegenden Problemen führen würde und der eine Vorgehensweise favorisierte, die erst einmal wieder die jüdische Kultur in der Gegend zu verankern forderte.
Ich kann mir vorstellen, dass solche Verweise im modernen Israel noch heute für hitzige Debatten sorgen.  Die dramatische Geschichte der Staatgründung, die Geburtsfehler aufgrund der unglücklichen Art der Teilung Palästinas (durch UNO-Beschluss), der nun über 60 Jahre währende Ausnahme-Zustand eines Staates, hinzu die tragische Gesamtgeschichte des Judentums, machen es einem bajuwarischen Bergbewohner wie mich, geradezu unfassbar schwer, eine Meinung dazu zu haben. Daher war für mich – bei doch vorhandenen Schwächen des Romans – unglaublich spannend, diesen Blickwinkel kennenzulernen. Allein die historischen Verweise auf jüdische Gelehrte, von Maimonides bis zu mir so unbekannten Autoren, wie David Kimchi (Philologe aus dem 12. Jahrhundert), oder Jehuda Halevi (sephardischer Dichter des Mittelalters), waren lehrreich. Für das gelehrte Lesepublikum in Israel mögen viele Anspielungen und Autorennamen geläufiger sein und der Diskurs darüber, was diese schrieben und dachten mag lebendiger sein, aber was Oz immerhin auch für mich hinter den sieben Bergen vermitteln konnte: Die jüdischen Gelehrten haben sich um das Thema „Judas“ herumgeschlichen, ihn nicht erwähnt oder kaum. Für das Verständnis des chassidischen und traditionellen Denkens (das ja in Israel eine wichtige politische Kraft ist) ist das schon erhellend.

Hat es mich gestört? Das fragte ich mich beim Lesen. Ein wenig. Die regelmäßigen Wiederholungen. Immer wieder wird Schmuels Asthma erwähnt, immer wieder wird beim Auftritt Ataljas erzählt, was sie für Kleidung trägt. Es gibt einige Wiederholungen in dem Text. Man hat den Eindruck Oz arbeitet geradezu mit diesen Wiederholungen. Zwischendrin beim Lesen hatte ich die Theorie, dass Oz mit diesen Wiederholungen auch eine allegorische Idee verfolgte: Das sich immer wieder wiederholende jüdische Schicksal. Günter Grass beendet seinen Roman Im Krebsgang (wo es auch um die Wiederholung der Vergangenheit geht) mit den Worten: Hört es denn nie auf?  Gut. Vielleicht lege ich das jetzt gutmütig aus. Zumindest ist mir die Wiederholung aufgefallen, sehr aufgefallen. War es Absicht, hat es gut geklappt. Aber es fordert vom Leser, diese Autorenabsicht zu erkennen. Und das ist nur im Kontext möglich, nicht im Roman selbst. Das kennzeichnet Judas als politischen Roman. Nur der politische Roman hat diesen besonderen Kontext, der sich allegorischer Stilmittel bedient. Die Allegorie verweist auf das Gemeinte. Und das zeigt mal wieder, wie schwer die Metapher von der Allegorie zu scheiden ist.

So war ich mir eigentlich nicht wirklich klar, was die eigentliche Aussage des Romans ist, wenn es denn ein politisch motivierter Roman ist.

Zum Ende gelangt Schmuel Asch nach Beer Sheva, einer der größten Städte im Süden Israels. Dort fand man bei einer Ausgrabung eine über 3000 Jahre alte Siedlung. In der Bibel wird Be’er Scheva mehrfach im Zusammenhang mit den Patriarchen Abraham und Isaak erwähnt. Im 1. Buch Mose wird geschildert, wie Abraham einen Bund mit Abimelech schließt und dadurch einen von ihm gegrabenen Brunnen ungestört nutzen kann. Nach der Darstellung der Bibel lag später bei Be’er Scheva die Südgrenze des israelitischen Siedlungsgebiets.

Die hebräische Bibel erwähnt Abimelech als ersten, der den Versuch unternahm, über das Richterprinzip hinaus eine Monarchie in Israel zu errichten. Der Versuch scheiterte nach einigen Jahren, auch umfasste er nur sehr begrenzte Teile Israels.

Ist dieses Reiseziel von Schmuel Asch als Allegorie zu verstehen? Wird man in weiteren 3000 Jahren wieder ein altes Israel ausgraben? Ist es immer eine Wiederholung? Ist die Geschichte der Juden ein ewiger Kreislauf, aus dem wir alle nicht herausfinden. Und jede neue Anekdote nur ein weiterer Verweis auf diese ewige Geschichtswiederholung?  Wer kann das wissen!

 

Aktuell ist ein kleines Gebiet in Garmisch eine Art Staat im Staat. Abgeschirmt von Tausenden von Polizisten, von Hubschraubern überflogen, von Drohnen überwacht kuscheln eine Handvoll Politiker wie König und Kaiser und „scheißen“ auf den Rest der Welt. Spezialgefängnisse für Demonstranten auf der einen Seite. Fünf-Sterne-Hotel-Suiten für die Feudalherrscher auf der anderen Seite. Wir alle fiebern mit, ob diese kleine Schar Superpolitiker tatsächlich unsere Welt retten werden.

Wenn ich Karen Duves Essay recht verstanden habe, dann glaubt die Hamburger Autorin, Tierschützerin und Vegetarierin nicht daran. 2014 erschien von ihr das Essay:

 

Warum die Sache schiefgeht

Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen

 

Von Karen Duve

im Verlag Galiani Berlin

 

Manager, Politiker, Physiker, Mediziner, sogar die Landwirte, schließlich die Männer (und auch die Frauen, die nur seltener) und zum Schluss eigentlich die gesamte Menschheit bekommen in diesem zornigen Rundumschlag ihr Fett weg.

Karen Duve hat ein wunderbares und erschreckend unterhaltsames Essay verfasst, unterfüttert mit Fakten. Fakten, die eindeutig belegen, dass man es besser wissen kann, als die meisten Menschen heutzutage vorgeben es zu tun. Die Führungsetage der Wirtschaft ist fest in der Hand von egoistischen, risikobereiten und nicht selten sogar psychopathisch gestörten Männern (und Frauen, aber Frauen eher seltener), verbal aggressiv, auf kurzfristigen Gewinn fokussiert und absolut mitleidlos gegenüber denen, die aufgrund ihres sozialen und ethischen Verhaltens zu den Verlierern gehören werden. Und die Politik unterstützt diese Form des Fehlverhaltens, bezeichnet sie sogar als alternativlos. Folgt man den Belegen von Karen Duve bis zum bitteren Ende, dann kann man eigentlich nur froh sein, wenn die Spezies Homo Sapiens möglichst bald von der Erdoberfläche verschwindet.

Doch bevor Karen Duve diesen ernüchternden und pessimistischen Schluss zieht, erfahren wir, wie die fehlerhaften Managergehirne aufgrund ihrer Einsatzbereitschaft 16 Stunden am Tag zu arbeiten, und ohne Rücksicht auf ihre Familie oder der Gesellschaft an Gewinnmaximierung orientiert sind, in unserer Gesellschaft den Status der Alpha-Tierchen haben, und so auch die Finanzkrise verschuldeten. An Beispielen mangelt es Karen Duve nicht. Von Milliardenbetrüger Bernie Madoff (150 Jahre Gefängnis für ihn)  über den Investmentbanker Nick Leeson, der in den 1990er Jahren die Baring-Bank von England im Alleingang ruinierte, bis zu dem französischen Finanzbetrüger Jérome Kerviel, der die Bank Societé Générale um fast 5 Milliarden erleichterte, finden sich zahlreiche Beispiele von krimineller Skrupellosigkeit, die Grundlage für eine Karriere im Bankensektor sind. Aktuell sei noch der Chef der Deutschen Bank Anshu Jain erwähnt, der die Subprime-Krise mit auslöste und kriminelle Zinsspekulationen im großen Stil betrieb (und sicher noch betreibt). So macht man bei der Deutschen Bank eine beispielhafte Karriere.

Aber Karen Duve belässt es nicht dabei. Am Beispiel von Physikern, die am CERN gefährliche Experimente durchführen und diese als harmlos hinstellen, zeigt sie auf, wie die Risikobereitschaft und das Defizit, das Wissen anderer Leute einzugestehen, unser Leben und unseren Planeten massiv bedrohen. Physiker, die unter Systemzwang leiden, wie Autisten, gefährden unser Dasein. Duve zeigt dies auch an dem Verhalten der Physiker, die einst in Mexiko die erste Atombombe zündeten. Sie konnten das nicht einschätzen. Im Gegenteil, darum testeten sie ja die Bombe, riskierten also aus reiner Neugier das Leben der gesamten Menschheit. Abenteuer Forschung eben. Sie fordert daher auch eine Neuorientierung in der Rechtsprechung. Juristen dürften nicht vor der „Komplexität der Materie kapitulieren“, sonst „werden die stetig komplizierter werdenden Wissenschaften die Bedeutung von Gesetz und Gerichtsbarkeit ausgerechnet dort aushebeln, wo wir ihrer am allernötigsten bedürfen“. Das ist ein nicht unerhebliches Argument, das dazu beiträgt, dass Gerichte in solchen schwer verstehbaren Streitfragen wie der Gefahr, die von wissenschaftlichen Experimenten ausgehen kann, lernen damit umzugehen, indem sie sich mehr an den psychologischen und sozialen Bedingungen orientieren, die mit den potentiellen Gefahren verbunden sind. Lieber zweimal auf die eigene Neugier zu verzichten und nicht wissen, was passieren könnte, bevor es einmal richtig schief geht.

Dass Mediziner, insbesondere Chirurgen feinfühlige Menschen sein sollten, würde ohnehin niemand ernsthaft in Erwägung ziehen. Duve erläutert am Beispiel des Herzchirurgen Christiaan Barnard, wie das Prinzip der Welt der Alpha-Tierchen funktioniert. Barnard war einfach skrupellos genug, und risikofreudig genug, den Tod seines Patienten zu riskieren, um so als „erster“ eine Herztransplantation vorzunehmen. Sie war nicht wirklich erfolgreich, weil der Patient kurze Zeit später an einer Lungenentzündung starb, als Folge der Abstoßung. Aber für Barnard war das erfolgreich, so erfolgreich, dass er eine mediale Karriere starten konnte, als „viertbester Liebhaber der Welt“ (gewählt von Paris Match), eine Liebesaffäre mit Gina Lollobrigida haben konnte, Audienzen beim Papst, beim Schah bei wem auch immer bekam. Sein Patient verstarb. Der Arzt war erfolgreich. Denn er war der Erste! So funktioniert das da oben.

Aber auch die weniger Erfolgreichen und medial nicht so Geeigneten, müssen unter der gerechtigkeitsgestählten Feder von Karen Duve in Deckung gehen. Die Landwirte, die sich selbst in den Kontrolleinrichtungen kontrollieren und Tausende Tonnen Antibiotika an ihre qualvoll sterbenden Viecher verteilen, um uns das nötige, billige „Qualfleisch“ zu sichern, aber vor allem, zum Zwecke ihrer eigenen Gewinnmaximierung pure Sadisten sind, sich aber wie Weltverbesserer geben, weil sie uns ja alle angeblich ernähren. Nein. Sie vergiften uns alle. Die Durchseuchung mit multiresistenten Keimen ist bei den Landwirten nahezu 100 Prozent. Und müssen sie in ein Krankenhaus, dürfen sie nicht bei einem Menschen liegen, der ein geschwächtes Immunsystem hat. Landwirte sind toxisch, tödlich, gefährlich. Und sie sind nebenbei auch noch Sadisten, verlogene Sadisten. Ihnen verdanken wir es, wenn wir in das „postantibiotische Zeitalter“ (WHO) eintreten werden – was nichts weiter bedeutet, als „Mittelalter“.

Und ob Frauen die besseren Manager, Physiker, Ärzte oder Landwirtinnen wären, steht noch in Frage. Aber grundsätzlich neigen Frauen eher weniger zu Gewalt. Jedenfalls ist die Zahl der Männer, die in heterosexuellen Beziehungen leben und von ihren Frauen krankenhausreif geprügelt wurden, verschwindend gering. Im Gegensatz zu den Frauen, die von ihren Männern krankenhausreif geprügelt wurden.

Wie auch immer! Karen Duve würde man wohl unter den Mindguards der Medien als „Wutbürgerin“ abqualifizieren. Am Ende des Essays ist man jedenfalls so informiert, dass man seine eigene Lethargie kaum noch aushält. Man möchte rauslaufen auf die Straße und die Menschen ohrfeigen, damit sie aufwachen. Man möchte in den Fernseher kriechen, wenn wieder mal eine verdummende Talkshow gesendet wird und die Tagesordnung beibehalten wird! Doch weiß man auch, wie machtlos man ist, weil man eben nicht 16 Stunden am Tag arbeitet und nicht so risikofreudig, egoman und psychopathisch ist, um genügend Macht zu akkumulieren, damit sich endlich, endlich etwas grundlegend ändert. Es wird sich nichts ändern. Karen Duves Essay endet höchst pessimistisch und wirft uns Leser nach einem kurzen Aufschrei wieder in die komplette Lethargie, in die Depression zurück. Duve ist eine jener Autorinnen, die uns die Party versaut. Denn jetzt ist die Stimmung dahin. Wir können nichts tun. Aber wenn wir nichts tun sind wir alle ignorante Arschlöcher. Wer jetzt mit den Schultern zuckt und meint: „Naja, wenn das so ist, dann vergesse ich das alles wieder“, der ist wirklich ein absolut ignorantes Arschloch.

Wer es noch nicht begriffen hat: Die Party ist vorbei. Jetzt kommen die Rausschmeißer, diejenigen, die schon mal anfangen, die Stühle hochzustellen und angeekelt die Kotze wegwischen, während noch ein paar volltrunkene Idioten eine weitere Runde bestellen. Das ist das Problem. Denn unsere Politiker erinnern stark an den Betrunkenen der ausruft „Jungs, tragt mich ins Auto, ich fahr euch alle nach Hause.“ Ja. Das werden sie, das werden sie.

Doch zuvor werden durch den maßlosen Kapitalismus verursachte Naturkatastrophen, Ressourcen-Kriege und Pandemien uns alle in eine Mad-Max-Gesellschaft verwandeln. Ausgerechnet die Verursacher aber, die Menschen, die in westlichen Industriegesellschaften zu den Babyboomern zählen, werden nicht bestraft, denn sie lebten und starben auf der Party.

Und warum ging nun Duves Essay schief?

Aber warum scheitert Karen Duve zum Ende ihres Essays so fulminant an der Idee des Humanismus? Warum zeichnet sie am Ende einen derart ohnmächtigen Menschen? Da sie das Geschehen in der Welt moralisch auflädt und die jeweiligen Eigeninteressen des Individuums an den Pranger stellt. Das kann am Ende nicht gut gehen und endet in einer Art Nihilismus. Es ist der alte und immer wieder problematische öffentliche Diskurs, der versucht, sich gegen die Interessen bestimmter Gruppen zu stellen, um Gerechtigkeit herstellen. Das gelingt diesem öffentlichen Diskurs nicht. Es gelingt nicht, weil die Logik der gesellschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen zum Zwangsagenten des Kapitals verdonnert hat. Die einzelnen Teilnehmer dann als Psychopathen und risikofreudige Draufgänger zu bezeichnen ist das Resultat einer vorkritischen Bestandsaufnahme. Es mag ja sein, dass die Madoffs, Ackermanns und Jains dieser Welt geistesgestört sind. Aber das hilft nicht wirklich weiter als Erkenntnis. Außer man würde ein CCT-Abbild zur Grundlage für die Karriere der einzelnen Teilnehmer machen. Eine absurde und eher komische Vorstellung. Warum die „Wutbürger“ letztlich immer wieder im Diskurs scheitern und warum die medialen Mindguards es daher so leicht mit ihnen haben, liegt eben darin begründet. Allerdings: Würden tatsächlich veränderte gesellschaftliche Verhältnisse wirklich zu den gewünschten Ergebnissen (gerechtere Welt, Rettung der Welt) führen? Sind es also die Verhältnisse? Oder ist der Mensch – wie bei Karen Duve – eben sündhaft? Die Agonie in der Duves Text am Ende führt, ist verführerisch. Es erinnert an das augusteische Argument: Nur Adam hatte eine Willensfreiheit. Er entschied sich für die Sünde und seit jener Zeit ist der Mensch eben sündhaft. Einen freien Willen hat der Mensch nach Augustinus nicht mehr. Und ob er errettet wird oder für ewig verdammt unterliegt allein Gottes Gnade und Gottes Gerechtigkeit. Einige werden errettet. Aber es ist willkürlich und für uns als sündhafte Wesen, gar nicht erkenn- und beurteilbar.

Hier schließt sich der Kreis. Als könnten eben die Madoffs und Ackermanns irgendetwas dafür, dass ihr Gehirn auf mehr Risikofreude programmiert ist, und derzeit die Verhältnisse gerade ihnen entgegen kommen. Sie sind Sünder, wie wir. Sie sind ebensolche Psychopathen und Hohlköpfe, wie der Großteil der Menschen, denen man an einem gewöhnlichen Wochentag beim Einkaufen in einem Lebensmitteldiscounter begegnet und die abgepackte Wurst im Einkaufswagen liegen haben, aber zugleich empört gegen Massentierhaltung eintreten. Die hübsche Verpackung, die Lust auf Fleisch und der günstige Preis mildern den Ekel, den man empfinden muss, bei abgepackter Wurst aus Massentierhaltung. Die beheizte Zweizimmerwohnung mit Internetanschluss lindert den allgemeinen Weltschmerz, den man beim Anblick hungernder und ertrinkender Flüchtlinge spürt.

Wir sind alle Teilnehmer einer gesellschaftlichen Logik, die den Fetisch des Kapitals als Fortschrittsgarantie beschreibt. Das „Pursuit of Happiness“ wäre aber mit der Garantie des Glücksstrebens des Einzelnen nicht erschöpft definiert, gäbe es nicht auch die konnektive Gerechtigkeit, die den einzelnen Teilnehmer im kantischen Sinne dazu auffordert, mit seiner ganz persönlichen Wertschöpfung zu diesem Glück des Einzelnen immer wieder beizutragen. Das Problem einer Moral, die das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum zum Maßstab ihrer Gerechtigkeit macht. Karen Duve ist also nur die andere Seite des Spannungsverhältnisses. Sie ändert in ihrem Essay nichts am bestehenden Spannungsverhältnis. Aber gerade hier sehen wir schon wieder die Logik der gesellschaftlichen Verhältnisse aufblitzen. Das Glück des Einzelnen steht in Konkurrenz zum Glück aller, auch in Konkurrenz zum Glück der kommenden Generationen. Eine Gesellschaft ohne Konkurrenz? Klar. Utopie! Meistens wünschen sich die Erfolglosen unter uns eine bessere Welt. Für die erfolgreichen Psychopathen passt es ja. 

Konkurrenz ist das Leitbild, ja das Leidbild unserer Zeit. Rivalität und Wettkampf frisst am Ende die Brüderlichkeit, die Freiheit, die Gleichheit.

Die Millionen werden verschlungen, nicht umarmt. Und warum?

 

 

Zwei Herren am Strand

Von Michael Köhlmeier

 

Erschienen 2014 im Verlag Carl Hanser

 

Die Bulldogge und der Tramp! Ein ungleiches Paar, das allerdings zwei gemeinsame Feinde hatte. Einmal einen „schwarzen Hund“ (so nannte der Dichter Samuel Johnson die Depression) und den Massenmörder Adolf Hitler.  Um die Geschichte dieser merkwürdigen, denkwürdigen Freundschaft zwischen einem Komiker und einem Politiker zu erzählen, bedient sich der Ausnahmeschriftsteller Köhlmeier einiger fiktiver Zeugen. Schon der Erzähler selbst hat nur einen mittelbaren Zugang. Er ist selbst ein Komiker und findet im Speicher einen alten Briefwechsel zwischen seinem Vater (einem Hobby-Historiker) und William Knott dem privaten Privatsekretär Churchills. Doch dieser William Knott sagt von sich, er habe 35 Jahre lang nur gelogen. Ein zweifelhaftes Interview mit Lilian Bosshart, die eigentlich Erica Southern hieß und Kellnerin war, und in dieser Funktion die beiden Herren einfach nur belauscht habe, dient Köhlmeier für Chaplins Biografie, sowie ein verschollenes Buch „Chaplins Tugend“, von einem gewissen Josef Melzer. Ob Köhlmeier hier den Verlagsgründer Joseph Melzer (Melzer-Verlag) meint, der 1958 einen kleinen Verlag gründete mit dem Ziel, den deutschen Lesern die von den Nazis verbotenen Bücher wieder nahe zu bringen – möglich.

Tatsache ist, dass die Fiktion vor allem Zeugnis liefert, während das Zeugnis selbst, Details zu Churchill und Chaplin, durchaus gut recherchiert ist. Köhlmeier ist ein guter Hobby-Historiker. Die fiktive Freundschaft der beiden Jahrhundert-Größen des 20. Jahrhunderts wird verschränkt einmal in Churchills Kampf gegen Hitler während seiner Zeit als Premierminister (1940 bis 1945) und der Arbeit Chaplins an seiner großen Hitler-Farce „The great Dictator“.

Köhlmeier hat seinen Roman in fünf Büchern und 44 Kapiteln angelegt. Und die deutsche Bildungsanstalt für Illusionskünstler und Komödianten (Schule für Clowns) von 1849 existierte genauso wenig. Aber es ist eine Hommage an „Hop-Frog“, eine Geschichte von Edgar Allen Poe (die er 1849 geschrieben hatte), über einen barbarischen Zwerg, der als Hofnarr am Königshof diente und neben seiner lustigen Art sich fortzubewegen auch das Talent besaß, immer wieder neue lustige Charaktere zu erfinden – also ganz der Tramp. Es ist eine tiefgründige Geschichte über den Humor, dem es gelingt, den Tyrannen und seine Helfershelfer in Ketten zu schlagen und zu überwinden. Und der Humor wird von Köhlmeier ja auch verwendet, und analysiert. Dabei erfindet Köhlmeier sogar ein nie geschriebenes Essay von Theodor W. Adorno. Und man könnte wirklich glauben, dass Adorno das geschrieben hätte. In der Analyse des speziellen Humors von W.C. Fields Aussage „jemand, der kleine Hunde und Kinder hasse, könne nicht ganz schlecht sein“ kommt der „schwarze Hund“ auf den „schwarzen Humor“. Der Witz funktioniert, weil W.C. Fields gar keinen Witz gemacht hat, es nicht als Witz, sondern das Bonmot als gezielten Tabu-Bruch anwandte. Darin steckt natürlich viel Sigmund Freud. Und für mich liegt im Slapstick immer auch der anarchische Humor frei. Beispielsweise wenn Stan Laurel und Oliver Hardy ganz naiv und ohne Absicht am Ende ein Chaos hinterlassen. Auch bei Loriots Sketchen ist das ein wesentliches Element.

Geschickt werden von Köhlmeier die Zeiten verrückt und vielleicht weiß man manchmal nicht ganz genau, wo man ist, aber meist weiß man woran man ist. Die beiden Freunde vereinbaren, gemeinsam gegen den schwarzen Hund vorzugehen. Oft begegnen sich die beiden Protagonisten nicht, denn die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat beide fest im Griff. Und obwohl sich Fiktion mit historischen Wahrheiten mischt erfahren wir viel über die Zeit, in der die beiden Köpfe wirkten. Ludwig Marcuse sagte einmal spitz: „Historiker sind rückwärtsgewandte Propheten.“ Eine Position, die man zu Geschichte beziehen kann.
„Halten Sie Mr. Churchill für keinen fortschrittlichen Idealisten! Er lebt in den herkömmlichen Anschauungen der englischen Aristokratie“, zitiert Heinrich Mann einen Amerikaner, den er in Frankreich traf (Heinrich Mann aus „Zur Zeit von Winston Churchill“). Und wir erleben in Köhlmeiers Roman einen Churchill, der mit sich immerzu ringt. Keinen Draufgänger, keinen begeisterten Krieger, Soldaten, Haudegen, wie ihn die herkömmliche Geschichtsschreibung (David Korn Brzoza „Sir Winston Churchill – der Mann des Jahrhunderts“; ARTE Porträt) gerne sieht.

Chaplin der Tramp, war nicht komisch. Komik ist harte Arbeit, Präzision ist erforderlich um komisch zu sein. Von dem österreichischen Kabarettisten Josef Hader gibt es eine Dokumentation über seine Vorbereitungen. Da geht es akribisch zu, da gibt es – wie es Köhlmeier über Chaplin schildert – Wutausbrüche, entnervte Mitarbeiter, sogar Tränen.

Krieg ist Friedensdienst. Humor ist humorlose Arbeit. Churchill ist außerhalb des Krieges depressiv. Chaplin ist außerhalb des Humors depressiv. Der schwarze Hund ist ein schwarzes Loch.

Köhlmeier hat mir die beiden Köpfe auf besondere Weise nahegebracht. Und ich habe mir dann auch einige Chaplin-Filme angesehen. Vor allem Kurzfilme (wer unter Zeitmangel leidet sollte Kurzfilme sehen). Einen über einen Boxkampf. Was für eine grandiose Choreografie. Chaplin versteckt sich immer wieder hinter dem Rücken des Ringrichters, und tanzt mit diesem im Duett. Zwischenzeitlich kommen alle drei durcheinander und der Ringrichter kämpft mit Chaplins Gegner, merkt seinen Irrtum und es geht wieder normal weiter. Dabei zum Ende eine tragisch Herzkomponente: der getroffene Chaplin fantasiert über seine Geliebte, die nun bei ihm ist. Er küsst ihre Hand, dann Überblendung und man sieht, wie Chaplin die Hand seines Trainers küsst.

Churchill kämpft mit seiner Vergangenheit und schreibt die Marlborough-Biografie, die seinen Vorfahren wieder ins rechte patriotische Licht zu rücken hat. Der Literaturnobelpreisträger von 1953 war Freimaurer, Mitglied des Hosenbandordens, Hüter der menschlichen Freiheit (Karlspreis 1956) und der „bedeutendste Brite aller Zeiten“ (BBC 2002 via telefonische Abstimmung). Er hat alles wieder ins rechte Licht gerückt. Der schwarze Hund kann knurren wie er will.  

Chaplin: Mitglied der Loge 134, der französischen Ehrenlegion,  Ehrendoktor von Oxford, Oscarpreisträger, Knight of Commander, Friedenspreisträger (Leninpreis), Stern auf dem Hollywood Walk of Fame.

Es ist ein Glück, dass diese Männer diese erste Hälfte des 20. Jahrhunderts überstrahlen. Von 1914 bis 1945 starben über 70 Millionen Menschen durch den Krieg. Aber: Einer Wachstumsprognose der UNO zufolge haben wir das in einem Jahr wieder aufgeholt.

Die Fakten sagen nichts. Nur „history“ als „story“ kann uns Geschichte lehren. Churchill soll (wie Köhlmeier  - Seite 143 – Ottensen zitiert) keinen „Sinn für Symbole gehabt haben. „Blut, Schweiß und Tränen“ waren nicht symbolisch gemeint, so wenig wie der Witz von W.C. Fields als Witz gemeint war. Und doch wurde daraus ein Symbol. So funktioniert das. Und das ist schon auch ein Hinweis darauf, dass wir Menschen irgendwo im Gehirn einen noch nicht entdeckten „Symbol-Nucleus“ haben müssen, ein neuronales Areal, das alles Geschehende zum Geschehenen macht.

 

La Peau de chagrin

Erstmals erschienen 1831

 

Deutsch von Emil A. Rheinhardt

 

Diogenes Verlag 1977

 

Wo Elend herrscht, gibt es keine Scham, keine Verbrechen, keine Tugenden, keinen Geist.

In einem kurzen und fast selbst romanhaften Leben (1799 bis 1850) schuf Honoré de Balzac ein riesenhaftes Werk: die menschliche Komödie. Umfasst über 90 Romane in der Balzac die erste Hälfte seines 19. Jahrhunderts einfing. So sehr einfing, dass viele ihn für viel realistischer hielten, als den Oberrealisten Emile Zola. Dabei ist Balzacs „Romanwerkstatt“ noch durchdrungen von den vielen Traditionen seiner Zeit, vom Schauerroman, vom höfischen Liebesroman, vom beginnenden Bildungsroman. Einer seiner ersten Romane ist der Roman „Das Chagrinleder“, ein Wortspiel aus dem Wort „Chagrin“, das im französischen Kummer bedeutet und auch auf das türkische Wort „sagri“ für Pferderücken zurück geht. Der Roman ist in drei Teilen angelegt. Der erste Teil (Der Talisman) beginnt damit, dass ein junger unglücklicher Mann gezeigt wird, der sein letztes Geld verspielt. Daraufhin will er sich in der Seine ertränken, gerät aber zuvor noch in einen merkwürdigen Antiquitätenladen. Dort erwirbt er ein geheimnisvolles Stück Leder, das ihm angeblich alle Wünsche erfüllen könne: Wenn du mich besitzest, besitzest du alles. Aber dein Leben wird mir gehören. Mit jedem erfüllten Wunsch wird das Leder kleiner werden bis es am Ende ganz verschwunden, und damit auch das Leben des jungen Mannes verwirkt ist. Kaum stürzt der junge Mann mit diesem sonderbaren Stück Leder bei sich aus dem Laden, da wendet sich schon sein Schicksal. Er begegnet einem alten Freund, der mit ihm eine Zeitung gründet, weil er einen Geldgeber gefunden hat. Die Freunde feiern ein rauschendes Fest. Rafael weiht seinem Freund Emile nun ein in die Geschichte seines Lebens.

Der zweite Teil mit dem Titel Die Frau ohne Herz erzählt die Geschichte einer verzweifelten Liebe. Dabei muss der verarmte Rafael große Anstrengungen unternehmen, um seiner Leidenschaft nahe sein zu können. Zunächst versucht er sich an der Wissenschaft, zieht sich zurück in ein einfaches Pensionszimmer um an einem großen Werk (über den Willen) zu schreiben. Die Wirtsleute nehmen ihn herzlich auf, besonders die Tochter Pauline, noch ganz Kind, fängt Rafael an, sie zu unterrichten. Sie verliebt sich in ihn, aber er kann ihre Liebe – noch – nicht erwidern. Aber angeregt durch diese Liebe (…schmeichelt sie allen meinen Eitelkeiten, die die Hälfte der Liebe sind) entsteht eine romantische, an die höfische Liebe anknüpfende Liebeserklärung an die Liebe selbst. Schließlich begegnet der sparsam lebende Rafael einem gewissen Rastignac, der ihn mit der russischen Schönheit Feodora bekannt macht. Rafael verfällt ihr augenblicklich und nimmt alles auf sich, um bei ihr sein zu können. Aber sie erwidert seine Liebe nicht. Eher spielt sie mit ihm. Rafael spürt dies, hofft aber weiter auf ihre Liebe. Vor allem muss er stets seine Armut vor ihr verbergen, was ihn selbst immer wieder in große Verlegenheit bringt. Pauline hilft ihm großzügig. Schließlich ist Rafael so verzweifelt, dass er beschließt, sich umzubringen. Nun sind wir wieder in der Gegenwart und die Geschichte schließt dort an, wo wir sie nach Ende des ersten Buches verlassen hatten.  Rafael erbt ein großes Vermögen, doch erschrocken erkennt Rafael, dass das Chagrinleder deutlich kürzer geworden ist. Er muss versuchen, jedem Wunsch aus dem Weg zu gehen.

Davon handelt das dritte Buch mit dem Titel Der Todesweg. Rafael lebt mit seinem alten Diener zurückgezogen in einem luxuriösen Haus. Der Diener Jonathas ist angehalten, streng darauf zu achten, dass alles ohne Wunsch von Rafael sich gestaltet. Jeder Wunsch, den Rafael gezwungen wäre zu äußern, würde ihn näher an den Tod bringen. Rafael lebt wie ein alter Mann. Rafael, der um jeden Preis leben wollte, …Inmitten alles Luxus führte er nun die Existenz einer Dampfmaschine, erzählt uns der auktoriale Erzähler über Rafael. Und: …erstickte Rafael selbst die geringsten seiner Wünsche und lebte so, dass er auch nicht die kleinste Veränderung an dem furchtbaren Talisman verursachen konnte. Doch bei einem Theaterbesuch nimmt sein Leben erneut eine Wende. Er begegnet der frisch erblühten Pauline und verliebt sich in sie. Sie ist überglücklich, dass Rafael endlich ihre Liebe erwidert. Eine glückliche Phase gemeinsamer Liebe beginnt. Doch das Chagrinleder ist unerbittlich. Rafael wird es nicht los. Er muss beobachten, wie es immer kleiner wird, sucht verschiedene Wissenschaftler auf, die ihm helfen sollen, es zu strecken, aber alle Versuche misslingen. Dann wird Rafael wieder sehr, sehr krank. Die Ärzte sind ratlos, schicken ihn schließlich auf eine Kur. Doch dort wird er bald zum Bürgerschreck der anderen Kurgäste. Rafael erscheint ihnen gefährlich krank, und die Kurgäste intrigieren gegen ihn, um ihn los zu werden.  Zum Ende kehrt der sterbenskranke Rafael nach Paris zurück in die Arme seiner geliebten Pauline. In ihren Armen stirbt Rafael schließlich.

In einem letzten zweiseitigen Epilog hört man wie ein Echo die verzweifelten Worte eines Mannes, der zwischen zwei Frauen hin und hergerissen war. Dabei ist Pauline die Königin der Träume, während die schöne Feodora zum Sinnbild der Gesellschaft selbst gemacht wird. Die Gesellschaft hat Rafael abgewiesen, also liebte er die Träume.

In  der wilden Geschichte des Rafael Valentin (der vielleicht nicht zufällig den Namen von Gretchens Bruder aus dem Faust trägt) gibt es viele Anspielungen auf Goethes Faust. Das Scheitern der Wissenschaft, der teuflische Bund – in diesem Fall mit einem Chagrinleder begründet. Das Flackern zwischen sinnlicher Lust und Begierde, und schließlich das Scheitern Rafaels. Wenn es zum Beispiel heißt: Alle Frauen kann man in einer erleben – und diese Eine erwartete ich in der ersten zu treffen, was anderes als die Szene Hexenküche spiegelt sich darin, als Mephistopheles zu Faust meint, er werde Helena bald in jedem Weibe sehen. Aber auch andere Werke verarbeitet Balzac. Aber Zentrum der Geschichte sind vor allem die realistischen Bezüge zu einem Paris, das sich durch ökonomische Zwänge auszeichnet. Immer wieder verweist Balzac darauf, dass die „gute Gesellschaft die Unglücklichen aus ihrem Kreis verbannt, wie ein Mensch von kräftiger Gesundheit einen Krankheitskeim aus seinem Körper austreibt.“ Die tiefgründige Kapitalismus-Kritik, die das Werk Balzacs auszeichnen wird, ist hier bereits angelegt.

Der Mix aus Stilen ist durchaus als wild zu bezeichnen. Und wüsste man es nicht besser, so wäre „Das Chagrinleder“ als ein postmoderner Roman einzustufen. Bei allem Pathos in der Sprache blitzt immer und immer wieder der unerhörte Realismus durch. Der Roman wirkt zuweilen wie die Dekonstruktion der schönen Träume, die sich die Literatur im 18. Jahrhundert machte. Insofern ist es schlüssig, dass oft auch auf Rabelais angespielt wird. Der Ordensbruder und Arzt schuf im 16. Jahrhundert mit seinem „Gargantua und Pantagruel“ eine brillante Wissenschaftssatire in Vorlauf zu Swifts „Gullivers Reisen“. Und Balzac ironisiert so ziemlich alles in seinem Roman. Wein- Wissens- und liebestrunken wankt sein Held Valentin durch das modern werdende Paris und sucht sein großes Glück. Der Vorläufer zu Lambard (Verlorene Illusionen) ist noch nicht ganz durchtrieben, doch zum Ende wird sein Leiden ihn zerstören und zum Hass anleiten.  Der gewünschte Zugang ist also weder gewählt noch gewollt. Und so wird dieses Wünschen zur Qual.

Seit 1973 veröffentlicht Hubert Burda Media jährlich eine „Typologie der Wünsche“. Monatlich wird in 1000 Interviews das Verlangen des Marktes und seiner darin sich tummelnden Kunden ermittelt. Was wir uns nicht alles wünschen! Von einem besseren Fernsehprogramm bis zu Gesundheit, Macht, Anerkennung, die große Liebe und so weiter. Das Institut TdW von Herrn Burda findet man in Bogenhausen in der Arabellastraße 23. Will man mit Google streetview in den Haupteingang, geht das nicht, denn der Richtungspfeil weist dann immer nach rechts oder links, also vom Ziel weg. Die rot und weiß gestreifte Schranke, die man dort sieht, gilt auch digital. Das ist natürlich kein Zufall. Macht! Jene Macht, die Rafael Valentin an sein Palais  kettet, von denen „es keine zwei in ganz Paris gibt“. Das Vermögen des Herrn Burda (Jahrgang 1940) schätzt man auf drei Milliarden. Damit gehört er mit zu den reichsten Männer Deutschlands. Was auch Herrn Burda prägt, das ist die Zukunft. Ähnlich wie Rafael Valentin von der Zukunft geprägt wird. So sehr, dass er einen alten Diener beschäftigt, der ihn so komplett versorgt dass er sich nie etwas wünschen muss. Valentin hat dabei nicht etwa Angst vor der Zukunft, sondern Angst vor seinem Verlangen. Wünsche, sagt sein Freund Emile einmal: Der Wunsch dehnt aus. Rafael glaubt seinem Freund nicht recht. Das ist die Ironie, dass sich mit jedem Verlangen, jedem Bedürfnis, das wir uns erfüllen, sich unser Leben verkürzt. Aus mehreren Gründen! Einmal wegen der Zeit und dann deshalb, weil jedes Stillen von Verlangen uns auszehrt. Esse ich, muss ich verdauen und verbrauche Lebensenergie. Man könnte nun Herrn Valentin fragen: Warum wünscht er sich nicht ein langes Leben? Aber das ist es eben. Nicht ein langes Leben, sondern Unsterblichkeit wäre ein Wunsch, der dieses Chagrinleder herausforderte. Genau das wünscht er sich ja! „Rafael, der um jeden Preis leben wollte…“, heißt es im Text. Ergo: Wer um jeden Preis leben will, der vegetiert. Und stirbt zuletzt im letzten großen Wunsch, den Valentin nicht steuern kann. Pauline merkt, dass sie sich selbst opfern muss, damit Valentin leben kann. Doch wie soll sich der Wunsch (Pauline) selbst opfern können? Unsere Bedürfnisse (modernes Wort  aus der humanistischen Psychologie für Wünsche) sind Grundbedingung unserer höchsten Erfüllung, der Selbstverwirklichung und darüber hinaus der Transzendenz. Wir müssen also davon ausgehen, dass ohne Balzac Sartre gar nicht denkbar ist. Ohne Balzac kein Existenzialismus. Denn die Ökonomie in Balzacs menschlicher Komödie geht weit über Karl Marx hinaus und stellt die kardinalen Fragen. Balzac war kein Royalist oder Carlist, wie er historisierend dargestellt wird. Er suchte nach dem Rezept zur Überwindung des Elends und fand es nicht, ohne es beschreiben zu müssen. Dabei ist Balzac ja selbst ein Aufsteiger, bzw. sein Vater. So wird es auch im Roman angedeutet. Diese biografischen Anteile sind das eine. Das andere sind Sätze, die ich nicht mehr missen möchte: Ihn schauderte vor der Gesellschaft, vor ihrer Höflichkeit und ihrer Tünche… seine Bescheidenheit dünkte alle diese niedrigen und oberflächlichen Menschen Hochmut. Er erriet nun das verborgene unverzeihliche Verbrechen, dessen er sich ihnen gegenüber schuldig gemacht hatte: er hatte sich der Gerichtsbarkeit dieser Welt der Mittelmäßigkeit entzogen. Er hatte sich gegen die Despotie ihrer Neugier empört und hatte es verstanden, ihnen allen auszuweichen. Nun wollten sie sich für sein Königsgebaren rächen, und alle hatten sich instinktiv verbündet, um ihn ihre Macht fühlen zu lassen, ihn einem Scherbengerichte zu unterwerfen, und ihm zu zeigen, dass auch sie ihn entbehren könnten.

Entbehren ist eben das Gegenstück zum Wünschen. Da Rafael durch sein Entbehren fast auf die Spur eines Heiligen gerät, grätscht die Gesellschaft dazwischen. Wunschlos? Was sollte Herr Burda dann noch für Interviews führen? Hätten wir keine Wünsche mehr, wäre Herr Burda bald sehr arm. Denn unsere Wünsche ernähren ihn. Es ist Pauline, jene Ersatzbefriedigung, weil Rafael Feodora nicht bekommen kann. Die Traumfabrik (Pauline) als Ersatz für wirkliche Gesellschaft.

 

Fahrenheit 451

von Ray Bradbury

 

Original (1953) aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger

 

Während draußen Schlapphüte durch die Straßen streichen, auf der Suche nach unamerikanischen Umtrieben, während in der ganzen Welt die Angst vor dem Ostblock umgeht, die Welt in zwei Lager gespalten ist und wie ein düsteres Phantom die Atombombe weitere unbegreifliche Ängste schürt, sitzt ein junger Mann von gerade 30 Jahren im Keller einer Universitätsbibliothek. Er raucht, den Hemdkragen hat er gelockert, es ist drückend, es ist schwül. Ray hackt so schnell er kann auf die Tastatur einer Schreibmaschine. In seiner Hosentasche klimpert das Kleingeld. Denn immer wieder muss er in die Münzschreibmaschine zehn Cent einwerfen, um weiterschreiben zu können. Am Ende kostete ihn das Gesamtmanuskript 9,80 US-Dollar.
The Fire Man, wie Bradbury dieses 9,80 US-Dollar teure Manuskript anfangs nannte, besser bekannt unter dem Titel Fahrenheit 451, hat das Geld sicher wieder reingespielt. Es wurde übersetzt in viele Sprachen, 1966 von Francois Truffaut verfilmt und gehört sicher den wenigen Science Fiction Werken, die es zu höheren literarischen Weihen gebracht hat.

Kurz vor seinem Tod 2012 fragte Dennis Scheck den 91jährigen Ray Bradbury: „In Ihrem berühmten Roman Fahrenheit 451 ist der Feind des Lesers der Staat. Wer ist der Feind von uns Lesern heute? Immer noch der Staat oder eher die Großkonzerne oder die Medien?“
Ray Bradbury antwortete: „
Eine Mischung aus allem. Die Erfindung des Computers, der Medien, von all dem, was über Leitungen oder drahtlos durch die Luft zu uns in unser Heim eindringt, all diese Spielzeuge, nach denen wir süchtig geworden sind; im Zentrum von all dem steht einfach ein bedauerlicher Mangel an Grips, an Intelligenz. Wenn wir noch mehr Kino und Fernsehen und noch mehr E-Mail wollen, müssen wir dafür sorgen, dass dahinter auch Grips steht.“
Und den hatte der Autor zahlreicher Romane, Erzählungen und Drehbücher, obwohl er nie einen Hochschulabschluss gemacht hat. "Die Bibliotheken haben mich erzogen. Ich glaube nicht an Hochschulen und Universitäten“, sagte er zum Beispiel in einem anderen Interview.
Bradbury hat immer schon zu den literarischsten Science Fiktion Autoren gehört, was wohl auch daran liegt, dass er eigentlich gar kein Science Fiction Autor war, sondern eher der Fantasy zugerechnet werden kann. Und auch das greift zu kurz. Ich erinnere mich da an eine Kurzgeschichte von ihm aus dem Band „Medizin für Melancholie“, dort erzählt er die Geschichte von sechs Mexikanern, die sich einen Anzug teilen. Sie sind alle gleich groß und von gleicher Statur. Daher können sich die sechs armen Mexikaner zusammen einen schönen neuen Eiskrem farbigen Anzug leisten. Am ersten Abend teilen sie sich auf. Jeder darf ihn zwei Stunden tragen, kommt dann zurück und erzählt von seinen Erlebnissen. Der Anzug wirkt wie Magie und gibt den armen Mexikanern ihren Stolz zurück. Sie merken dabei gar nicht, dass sie selbst es sind und nicht etwa der Anzug, wie eine kleine Episode aus der Kurzgeschichte zeigt. Einer der Mexikaner lernt ein Mädchen kennen und glaubt natürlich, es habe an dem Anzug gelegen. Aber es stellt sich heraus, dass sich das Mädchen in dessen blendend weiße Zähne verliebt hat und den Anzug gar nicht registrierte.
Ray Bradbury war auch ein Moralist – so heißt es immer. In seinem Roman Fahrenheit 451ist die zentrale Szene die, wo der Held Guy Montag den Freundinnen seiner Frau zu deren Schrecken aus einem Buch vorliest. Es ist ein Gedicht. Ray Bradbury bedient sich dort am Prometheus-Mythos aus Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums. Und Prometheus brachte den Menschen bekanntlich das Feuer. Eine der Frauen, Frau Phelps fängt zu weinen an. Sie hat vor kurzem ihren Mann im Krieg verloren. Die anderen Frauen beschimpfen Guy Montag nun, und meinen, dies würde ja beweisen, dass Bücher schlecht seien und nur für Unfrieden sorgen würden.
Die Gefühllosigkeit der Menschen in Bradburys Dystopie ist Ergebnis einer Dauerbeschallung und permanenten Ablenkung der Menschen. Langsamkeit ist verpönt, Spaziergänger werden von rasenden Jugendlichen zum Spaß tot gefahren. Und hier zeigt sich, wie modern, wie erschreckend modern dieser Roman ist, der sich überhaupt nicht auf das Autodafé der Nationalsozialisten bezieht, sondern auf die Zerstörung der Lesekultur durch die Bildermedien. "Die Bibliotheken haben mich erzogen“, sagte Ray Bradbury. Und dieses Lesen ist eine besondere Leistung. Stets muss man mit Metaphern arbeiten, muss man symbolisieren. „Die Unfähigkeit zu symbolisieren“, schreibt Jan Philipp Reemtsma in seinem großartigen Essay Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit „ist ein Kennzeichen tiefgreifender seelischer Störungen und geradezu ein Ausweis gravierend beeinträchtigter Realitätstauglichkeit.“
Reemtsma kritisiert hier ebenfalls die schwindende Lesekultur.
Es ist heute nur etwas anders gekommen. Denn Bücher, Bücher gibt es zu Hauf. Aber kaufen alleine und ins Regal stellen? Das hilft ja noch nicht. Man muss das Buch lesen. Und das ist Arbeit. Harte Arbeit, wenn auch irgendwann vergnüglich und fast selig machend, denn das hat gute Arbeit an sich, dass sie befriedigt und glücklich macht. „Breite Bettelsuppen“, wie Goethe den Schund nennt, den es schon zu Goethes Zeit gab, macht nicht selig, sondern so stumpf wie das Fernsehen. Das oberflächliche Glück der Menschen in Bradburys Roman lässt sich mit ein paar Zeilen zerstören. Beatty kritisiert dagegen den Mangel an Wahrhaftigkeit bei Büchern, vor allem am Ende des zweiten Kapitels. Eine Kritik, die schon in Platons Politeia an den Büchern geübt wird. Platon hielt die meisten Mythen für unwahr und schrieb ihnen verheerende Auswirkungen auf die Charakterbildung zu. Vor allem missfiel ihm, dass die Dichter den Göttern oft Eigenschaften und Handlungen zuschreiben, die unter Menschen allgemein als schimpflich gelten, etwa Unaufrichtigkeit, Anstiftung zum Wortbruch und Gewaltanwendung gegen die eigenen Eltern. Auch die Erzählungen, in denen Götter untereinander streiten und kämpfen oder Menschen ins Unglück stürzen, hielt er für Lügen. Traditionell haben Thomas von Aquin und auch Immanuel Kant diese Kritik übernommen. Dadurch wirkt Literatur parasitär. Sie zerstört die Kommunikation, weil sie unwahrhaftig ist. Wem kann ich noch trauen? Und genau das zelebriert Beatty mit seiner Wucht der Zitate. Die Gegenposition von Faber und Montag zeigt auf, dass geradezu das Gegenteil der Fall ist. Verarmt die Kraft zur Symbolik, sind wir viel empfänglicher für die Lüge. Manipulative Masse. Lesen dagegen ist ein sich erinnern (Granger) und  ermöglicht ein tiefes, kaum ausdrückbares Glück der Transzendenz. Die Epiphanie am Lesen, am Leseerlebnis ist es was Bradbury auch bei seinem Helden Guy Montag beschreibt.  Und mit einer Offenbarungsstimmung endet dieser Roman, mit der Offenbarung des Johannes, wo der Prophet die heilige Stadt beschreibt, die vom Himmel auf die Erde kommen wird, mit dem Baum des Lebens (Allegorie für Unsterblichkeit), und Früchten jeden Monat zur Heilung. Erinnern ist also mehr als nur Konservieren von Gedächtnisinhalten. Es ermöglicht – mit dem schönen deutschen Wort – Rücksicht.

 

 

Der Untertan
von Heinrich Mann

 

Erstmals erschienen als Buch im Verlag Kurt Wolff 1918

Davor als Vorabdruck ab 1914 in „Zeit im Bild“ und dem „Simplicissimus“

 

„Auch ein Heinrich, vor dem uns graute…“ lautete die Schlagzeile im völkischen Beobachter, als Heinrich Mann das Dritte Reich verließ und ins Exil ging. Dass dieser Heinrich bereits vor Ausbruch des ersten Weltkrieges zwischen 1911 und 1914 in seinem Roman Der Untertan den nationalsozialistischen Charakter beschrieb und die gesellschaftlichen Entwicklungslinien absteckte, das wurde nicht einmal nach dem zweiten Weltkrieg im angeblich befreiten Westdeutschland erkannt, geschweige denn verstanden. Das Problem der Nachkriegsrezeption der Literatur von Heinrich Mann war sicher, dass sein kompletter Nachlass samt Urne (1961 aus Santa Monica entführt) nach Ostberlin ging und von der Akademie der Künste verwaltet und lizensiert wurde. Dazu kam der ewige Bruderzwist zwischen dem „Bürgerideal“ Thomas und dem „Bündnispartner des Ostens“ Heinrich. Heinrich Mann war ein politischer, engagierter Autor und kein verinnerlichter Ästhet wie sein vier Jahre jüngerer Bruder. Aber das bedeutet nicht, dass Heinrich Mann nur für den Zeitgeist geschrieben hat. Viel weiter reicht seine Kaiserreich-Trilogie (Der Untertan, Die Armen, Der Kopf). Der erste Teil (Der Untertan)schildert sehr nah an der Figur das Hochkommen des Diederich Heßling. Der Roman spielt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Kaiser Wilhelm II wird hier als eine Projektionsfläche des Größen- und Rassenwahns dargestellt. Allen voran verehrt ihn der Dr. Heßling in geradezu schizoider Form, indem er nicht selten kaum noch unterscheiden kann zwischen dem, was er selbst gesagt hat und dem, was der Kaiser gesagt haben soll. Viele Reden von Heßling sind Montagen aus Kaisersprüchen. Eine besonders prägnante Szene schildert Heinrich Mann am Anfang des letzten (6.) Kapitels, als die beiden frisch vermählten Guste und Diederich auf Hochzeitsreise sind. Diederich erfährt, dass der Kaiser (Reisekaiser hielt sich tatsächlich 1903 fünf Tage in Rom auf) sich in Rom aufhält und unterbricht sozusagen dafür die Hochzeitsreise, um dem Kaiser hinterher zu reisen. Schon bei der Ankunft des Kaisers am Bahnhof in Rom, verfolgt ihn Diederich auf Schritt und Tritt, als sein „persönlicher Beamter“.  Dieses Adjektiv „persönlich“ nutzt Heinrich Mann häufiger. Diese ironischen Seitenhiebe machen den Roman zu etwas Besonderen, denn: so manchem erschien der Kaiser größenwahnsinnig. Der Herrschaftsanspruch Wilhelms II. und seine negativen Äußerungen gegenüber dem Reichstag wurden nicht überall willkommen geheißen. Nicht nur die Sozialdemokratie stand dem Kaiser äußerst kritisch gegenüber, auch viele Liberale sahen das selbstherrliche Verhalten des Kaisers nicht gerne. Manche dachten, der Kaiser sei größenwahnsinnig. Und lagen mit diesem Gedanken gar nicht so falsch.
So bürgerte sich ein Begriff ein: das "persönliche Regiment" des Kaisers. Das bedeutete, dass der Kaiser möglichst allein - persönlich - ohne Parlament und Volk regieren wollte. Diederich kann dann in einer Szene ein angebliches Attentat verhindern, obwohl es sich bei dem Delinquenten nur um einen Händler mit Zahnpulver in seiner Dose handelte. Egal: Der Händler wird verhaftet und Diederich fühlt sich groß, wird mit Wein abgefüllt. Zwei städtische Wächter fanden ihn, an die Mauer gelehnt, in einer Lache sitzen. Sie erkannten den Beamten im persönlichen Dienst des Deutschen Kaisers... Gleich darauf aber sahen sie einander an und brachen in ungeheure Fröhlichkeit aus. Der persönliche Beamte war gottlob nicht tot, denn er schnarchte; und die Lache, in der er saß, war kein Blut.

 Dass die bösartigen Spitzen sowohl gegen den Kaiserverehrer Dr. Heßling, als auch gegen den Kaiser selbst zu Kontroversen führte im besiegten und erniedrigten Deutschland nach dem 1. Weltkrieg, dürfte kaum verwundern. Einzig in Russland erschien ironischerweise die einzige unzensierte Ausgabe des Buches. Heinrich Mann beschreibt sehr genau „die Macht“, die im Wesentlichen durch die Gesellschaftsschicht der Junker geprägt war. Und diese gesellschaftliche Schicht war nach dem 1. Weltkrieg nicht einfach weg und erloschen, sondern erniedrigt und wütend. Die Gemengelage einer gescheiterten Revolution, eines politisierten Adels, eines ökonomisierten Bürgertums und eines gar nicht wahrgenommenen Proletariats (Viktor Zmegac, Geschichte der deutschen Literatur) war der Humus, auf dem der Nationalsozialismus erblühte.

Schon im zweiten Kaiserreich war alles da, was der Nationalsozialismus später brauchte: Nationalismus, Rassenwahn, Obrigkeitshörigkeit bis zur kompletten Selbstverleugnung. Und Heinrich Mann beschreibt in seinem Roman an mehreren Figuren die zerstörerische Wirkung, die ein größenwahnsinniger Herrscher auf das Volk haben kann. Dass später mit Hitler ein noch größenwahnsinnigerer kam und in seinem 1000jährigen Reich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in Schutt und Asche legte, das wird in einer brillanten Szene in Heinrich Manns Roman zum Ende hin geschildert. Als Diederich Heßling das Kaiserdenkmal enthüllen soll, hält er zuvor eine Rede, es beginnt schon zu tröpfeln und dann zu donnern und zu blitzen. Schließlich fegt ein Orkan über den Platz und verjagt alle Gäste. Tropfend nass und allein mit seinem Wilhelms-Orden, kommt er zum Haus seines alten Gegenspielers, dem „alten Buck“. Dort sind mehrere Wagen vorgefahren. Diederich betritt das Haus mit den Gedanken: „Und für den Ruhm der guten Sache soll man nichts versäumen, unser alter Kaiser hat sich wahrscheinlich auch zusammennehmen müssen, als er nach Wilhelmshöhe zu dem gänzlich erledigten Napoleon ging.“

Der alte Buck (Liberaler 1848er) liegt im Sterben. Viele Menschen um ihn herum. Wieder einmal fühlt Diederich sich unzulänglich und als „Untertan“. Er sieht in das Gesicht des Alten: „Da erschrak er, als sei er einem Fremden begegnet, der Grauen  mitbrachte: erschrak und rang nach Atem. Diederich, ihm gegenüber, machte sich noch strammer, wölbte die schwarz-weiß-rote Schärpe, streckte die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der alte ließ auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er, ganz wie gebrochen. Die Seinen schrien auf. Vom Entsetzen gedämpft, rief die Frau des Ältesten: ‚Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!‘

Der Neuteutonier Heßling ist kein richtiger Soldat, er hat sich geschickt aus dem Militärdienst entlassen lassen. Er wird verachtet und gefürchtet. Seine Feinde sind oft nicht viel edler als er selbst. Der Sohn vom alten Buck, Wolfgang Buck, ist zynisch, zieht sich ins Milieu des Pariser Theaters zurück. Napoleon Fischer, der Maschinenmeister in Heßlings Papierfabrik ist Sozialdemokrat und lässt sich mit Heßling auf einen schmierigen Deal ein. Um ins Parlament gewählt zu werden, verspricht Fischer, die Sozialdemokraten für das Kaiserdenkmal zu gewinnen und gegen das Säuglingsheim, das von den Freiheitlichen befürwortet wird. Die Freiheitlichen um Buck und Heuteufel, das sind die alten Mächte, die 1848 erlebt hatten, die Staat und Parlament hochhielten. Doch auch diese alten Mächte sind korrumpiert und so sind sie letztlich ein leichtes Opfer für Diederich Heßling, den Aufsteiger.

Ein Arbeiter wurde aus dem Lokal verwiesen. Ihm war der absonderliche Einfall gekommen, als könnte auch er, für dasselbe billige Geld wie die anders Gekleideten, hier seinen Kaffee genießen. Unter einer Decke, von der lebnensgroße Stuckfiguren hingen! Zwischen den schlecht gemalten Militärparaden an beiden Längswänden! Obwohl der Mann keine Gegenwehr leitete, fanden der Geschäftsführer und die Kellner lange ihr Genüge nicht, bis der peinliche Zwischenfall aus der Welt war.
Ich brauchte sechs Jahre immer stärkerer Erlebnisse, dann war ich reif für den „Untertan“.
So beschreibt es Heinrich Mann in seiner Autobiografie (Ein Zeitalter wird besichtigt). Diese Passage stammt aus dem Kapitel „Mein Bruder“ und Heinrich Mann hat dieses Kapitel damals in Santa Monica beim 70. Geburtstag seines Bruders vorab vorgetragen. Ein weiteres Ereignis hat laute Frederic Lefebre für Heinrich Mann das Vorbild des Untertan abgegeben: Ein nackter Mann in einem Luftbad. Es gibt eine Karikatur aus dem Jahre 1897, erschienen im Simplicissimus, die zeigt einen nackten Mann in der Sauna, der noch sein Monokel trägt, um sich so von den einfachen Leuten zu unterscheiden. Auch dieses Bild soll Heinrich Mann zum Untertan angeregt haben.

Der Untertan ist die Skizze des deutschen Mannes, die typisch ist für den Verlauf totalitärer Sozialisierungsprozesse (Wolfgang Emmerich).  Und so zeigt der gleichnamige und sehr literaturtreue (im Gegensatz zum Film Der Blaue Engel) Film aus dem Jahr 1951 von Wolfgang Staudte ein symbolisches Ende. Als der Orkan die Kaisergedächtnisrede verhindert, sieht man anschließend als filmisches Schlussbild eine vom Weltkrieg verwüstete Stadt.

 

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