Literaturprojekt
Literaturprojekt

13. Dezember 2022

 

Isidor

 

Von Shelly Kupferberg – ein jüdisches Leben

Erschienen im Verlag Diogenes 2022

Für mich war ja der Einmarsch der Nazis in Österreich ungefähr so, wie wenn man heute irgendwo in einer Zeitung liest: Alle Brillenträger werden umgebracht. Ich bin Brillenträger. Ich kann nichts dafür, dass ich Brillenträger bin, so ist es nun mal, ich werde umgebracht. Also, wohin, was? Darunter steht eine ganz kleine Notiz: Die Hottentotten retten dich. Dann geht der Brillenträger zu den Hottentotten, So ging ich nach Palästina.

So äußerte sich der Historiker Walter Grab einmal in einem Interview. Der Neffe von Isidor Geller, Walter Grab ist / war unter den deutschen Linken als Kenner der Jakobiner bekannt. Seine Enkelin Shelly Kupferberg hat nun eine Biografie ihres Urgroßonkels geschrieben. Darin zeichnet sie den Weg ihrer Vorfahren aus Ostgalizien nach Wien, die steile Karriere von Israel / Isidor Geller zum Kommerzialrat und Beirat für Handelsstatistik im Bundesministerium der jungen österreichischen Republik nach dem ersten Weltkrieg. Die Stütze der ganzen Familie Isidor Geller wird am Ende mit einem brutalen Federstrich ausgelöscht. Nach dem Anschluss Österreichs kann sich der latent immer vorhandene Antisemitismus ausleben.

Die in Israel geborene und in Westberlin aufgewachsene Journalistin Shelly Kupferberg gelingt es, unaufgeregt und sachlich die Karriere ihres Urgroßonkels zu schildern, verweist dabei auf die Grundprobleme der 1920er Jahre, geprägt von Krisen und Industrialisierungsschüben. Aus dem fernen Galizien wanderten zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Juden nach Wien aus. Meist waren sie bettelarm und wurden von den bereits assimilierten großbürgerlichen Juden genauso verachtet wie vom österreichischen Kleinbürgertum. Der beinah zwanghafte Drang nach Reichtum und Macht bei Isidor Geller ist so durchaus erklärbar. Einmal wollte er sich vom mosaischen Muff seiner Eltern emanzipieren und einfach ein besseres Leben haben und zugleich wollte er das Abenteuer einer Großstadt in sich einsaugen. Es ist eine vergleichsweise typische Auswanderergeschichte mit einem erfolgreichen Verlauf. Doch was danach kam, lässt sich heute kaum noch verständlich erklären. Hierzu ist es schon wichtig zu wissen, dass die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie wirtschaftlich vom deutschen Kaiserreich abhängig war. In Deutschland gab es eine viel rasantere Industrialisierung (Pharmazeutik und Stahl), weit mehr Großstädte und ein ungleich nervöseres Leben, als es die Wiener Moderne (eine Gegenströmung zum Berliner Naturalismus) mit ihren eher beschaulichen Kaffeehäusern kannte. Wien der 1920er war elegant und unpolitisch. Vielleicht trug auch diese unpolitische Grundhaltung im Wien der jungen Republik dazu bei, dass Isidor die Zeichen nicht sehen wollte. Kupferberg schildert diese Theatermentalität der Wiener sehr eindrücklich und zeichnet ihren Urgroßonkel als typischen Wiener seiner Zeit. Wenn auch jüdischer Klüngel (notgedrungen) Teil seiner Lebensatmosphäre war, so hat sich Isidor doch immer als Wiener verstanden. Seine galizischen Wurzeln blieben dennoch. Und dies war möglich, weil Galizien immer schon ein multiethnisches und multikonfessionelles Gebiet war. Das Kaiserreich zählte Galizien eher zu Wien gehörig. Im 14. Jahrhundert fiel Galizien an die polnische Krone und wurde Teil des dualen Königreichs Polen-Litauen, das von 1569 bis 1795 eine konstitutive Monarchie mit staatlich geschützter Religionsfreiheit hatte. Immerhin lebten im Staatsgebiet Polen-Litauen Katholiken, Protestanten, Muslime und Juden in einem Reich, und viele unterschiedliche Völker dazu.  Und trotz ständiger Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, mit dem osmanischen Reich, den Schweden und den Russen, hielt sich diese konstitutive Wahlmonarchie 250 Jahre. Also viel länger, als die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie. Polen-Litauen von 1569 bis 1795 funktionierte über 200 Jahre als dualer Staat, als parlamentarisch-konstitutionelle Monarchie und als föderale Struktur. Die Könige wurden gewählt, kamen aber fast alle aus Krakau. Im Jahre 1772 einigten sich schließlich Rußland, Preußen und Österreich auf eine Teilung dieses Polen-Litauen und so entstand Galizien mit Z (Kronland Galizien-Lodomerien), das näher an Wien angebunden wurde und daher cisleithanisch war. Daher war Wien auch ein besonderer Anziehungspunkt. Die Zeit um 1900 war eine spannende, aber keine besonders schöne Epoche. Wien war eine explodierende Stadt. Die Mischung aus Kaiser und Industrie - aus Kostüm und Stahl - bekommt man nicht so leicht in den Kopf. Im 19. Jahrhundert versiebenfachte sich die Bevölkerungszahl Wiens. Um 1900 lebten zwei Millionen Menschen in Wien. Damit war Wien die sechstgrößte Stadt der Welt. Nur gab es kaum Wohnraum. 1910 gab es 400000 Wohnungen für zwei Millionen Menschen. Das waren aber oft nur Ein- bis Zweizimmerwohnungen. Und nur 5 Prozent der Behausungen in Wien hatten fließendes Wasser und eine Toilette. Dagegen sind die Wohnungsprobleme im 21. Jahrhundert bescheiden. Die Arbeit dauerte täglich 12 bis 16 Stunden. Es gab viele so genannte Bettgeher, die nur ein Bett gemietet hatten zum Schlafen, und ansonsten die Wohnung zu verlassen hatten. Und die Leistungen des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger (den Hitler ja verehrte) würden auch heute von den meisten „kleinen Leuten“ bejubelt. Der Wiener Gemeindebau ist bis heute ein soziales Aushängeschild. Und Isidors Reichtum hatte auch was Zynisches. Tatsächlich war Karl Lueger auch ein selbstherrlicher Alleinherrscher, der seine selbst gegründete Partei der Christlich-Sozialen (Entenabende, die noch bei Musils MoE eine Rolle spielen) auf sich abstimmte („Die Organisation bin ich“). Er war zwar kaisertreu, aber sein Antisemitismus war nicht im Sinne des Kaisers Franz Joseph I, der als philosemitisch galt. Wien war pluralistisch strukturiert, und durchaus auch auf typische Weise heterogen. In dieser Stadt Wien hätte man kaum glauben können, was dann ab 1938 geschah. Es ist daher auch ein Schock. Kupferberg geht auch nahtlos über, macht keine Überleitung. Heute reich und geehrt. Morgen entehrt, verprügelt, beraubt und erniedrigt. Der frühe Tod ihres Urgroßonkels Isidor ist erschütternd. Gerade weil Kupferberg es recht unsentimental erzählt. Prosaisch und nüchtern, Aufzählungen des geraubten Geschirrs, die belanglos scheinende Plünderung des immer abgeschlossenen Zimmers, Isidors Schatzkammer (ein Verweis auf das Wiener Fien de Siecle).

Kupferberg erzählt die Schicksale ihrer Vorfahren, verweist gelegentlich auf ihre eigenen Motive der Spurensuche. Vor allem im Nachwort „Späte Sonne“ schildert sie sehr eindrücklich, wie die Rehe und Hasen die jüdischen Gräber am Zentralfriedhof bewachen. Ich kenne diesen Ort, und kenne diese Magie an diesem Ort. Unweit gibt (gab es zumindest als ich dort war) einen kleinen Metzger mit dem größten Wiener Schnitzel, das ich je in meinem Leben gegessen habe.
Vielleicht ist Kupferbergs Biografie kein Sprachwunder. Das hätte der Stoff auch gar nicht ausgehalten. Ich habe das Buch selbst sehr langsam gelesen. Ich wusste ja von Anfang an, was kommen wird und wollte es nicht kommen sehen.

 

 

 

 

 

09. November 23022

 

Chamissimo

Von Sebastian Guhr

Erschienen 2022 im S. Marix Verlag

 

Nun war ich wirklich an der Schwelle der lichtreichsten Träume, die zu träumen ich kaum in meinen Kinderjahren mich erkühnt, die mir im »Schlemihl« vorgeschwebt, die als Hoffnungen ins Auge zu fassen ich, zum Manne herangereift, mich nicht vermessen. Ich war wie die Braut, die, den Myrtenkranz im Haare, dem Heißersehnten entgegensieht. Diese Zeit ist die des wahren Glückes; das Leben zahlt den ausgestellten Wechsel nur mit Abzug, und zu den hienieden Begünstigteren möchte der zu rechnen sein, der da abgerufen wird, bevor die Welt die überschwengliche Poesie seiner Zukunft in die gemeine Prosa der Gegenwart übersetzt. So beschreibt Adalbert von Chamisso in seinem Buch „Reise um die Welt“ (1836, also zwei Jahre vor seinem Tod) seine Überfahrt von Hamburg nach Kopenhagen, bevor er auf die Rurik ging und seine Weltreise antrat, die für ihn letztlich die Basis seines beruflichen Erfolges wurde. Wie es in Goethes Faust einmal so schön heißt: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick. (Vers 11585 / fünfter Akt Faust II).
In den Revolutionswirren Frankreichs verlor Adelbert seine französische Heimat, das Schloss Boncourt wurde niedergebrannt und der verträumte Junge wurde Soldat in der preußischen Armee. Der 1983 in Berlin geborene Autor Sebastian Guhr schildert das ganze Leben des Dichters und Naturforschers von seiner Kindheit auf Boncourt bis zu seinem beruflichen Erfolg in Berlin als Kurator und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Guhr, der erstmals 2017 mit seiner Dystopie „Die Verbesserung unserer Träume“ (Luftschachtverlag) auf sich aufmerksam machte, erzählt mehr oder weniger konventionell, chronologisch verlaufend und perspektivisch eng an der Person Adalberts. Einen kleinen Spaß erlaubt sich Guhr damit, dass er Schlemihls Grauen an entscheidenden Stellen immer wieder auftauchen lässt, er damit Realität und Phantastisches miteinander verschmilzt. Aus einem verträumten aber auch neugierigen Kind wurde erst ein Dichter und dann ein Mykologe und Algenforscher. Sebastian Guhr schildert den Weg dorthin sehr klar und entwirft ein lebendiges Bild dieser aufregenden Zeit des Vormärz. Zentrale Figuren deutscher Vorgeschichte tauchen auf, von einem Kurzauftritt Kleists, von einem sehr lebendigen Bild E.T.A. Hoffmanns, dem besten Freund von Chamisso, fehlte mir eigentlich nur Fichte. Der Philosoph des Handelsstaates taucht zwar auf, aber (falls ich es nicht überlesen habe) nicht seine Rolle als väterlicher Freund, wie ihn Chamisso selbst in seiner Reise um die Welt bezeichnete. Guhr arbeitet den warmherzigen Charakter von Chamisso sehr anschaulich heraus, seine liberale Haltung, sein Antirassismus; gerade weil sein Charakter nicht ideologisch verbrämt ist, sondern authentisch und aufrichtig.
Es gibt eine Kurzgeschichte von Olga Tokarczuk (Peter Dieter), in der sie schildert, wie ein Mann noch einmal sein Herkunftsland in den Westkarpaten besucht, dort am Gipfel mit einem Bein auf der tschechischen mit dem anderen Bein auf der polnischen Seite verstirbt. Die tschechischen Grenzer finden die Leiche und schieben sie (weil sie keine Arbeit haben wollen mit der Leiche) ganz auf die polnische Seite, später finden die polnischen Grenzer die Leiche und schieben sie – aus dem gleichen Grund - auf die tschechische Seite. Zwei Paar hölzerne Soldaten tragen Peter Dieters hölzernen Körper bis in die Unendlichkeit von einer Seite auf die andere. So ihr Schlusssatz in der beeindruckenden Kurzgeschichte. Das verweist auch in ihrer Parabel auf Chamisso, der zwei Nationen in sich trug und so zum Europäer wurde, dennoch stets hin und her schwankte. Die Weltereignisse vom Jahre 1813 (Befreiungskriege, A. d. A.), an denen ich nicht tätigen Anteil nehmen durfte – ich hatte ja kein Vaterland mehr oder noch kein Vaterland –, zerrissen mich wiederholt vielfältig, ohne mich von meiner Bahn abzulenken. Es ist daher auch das überzeitliche Thema des Romans der Dichter als Brückenbauer. Als Chamisso beschließt, auf Hawaii zu bleiben verweist das schon früh auf spätere Aussteiger-Phantasien. Später im Trott seines beruflichen Aufstieges mit viel bürokratischer Arbeit, bedauert Chamisso ein wenig, dass er sich hat überreden lassen, wieder auf die Rurik zu gehen und vermeintlich nach Hause zu segeln.
Weiter lässt Sebastian Guhr nicht aus, die industrielle Revolution zu schildern, die durch die Dampfmaschine letztlich den modernen Kapitalismus von England nach Europa brachte. Revolutionen prägten das Leben von Adalbert von Chamisso. Und zwischen den sich bekämpfenden Nationen und Gesinnungen, prägten ihn vor allem die Freundschaften zu Hitzig, Varnhagen, Hoffmann. Seine Liebe zur Hitzigs Pflegetochter Antonie Piaste. Chamisso folgte ihr nur ein Jahr später in den Tod.

Eine schöne Stelle aus seinem Buch Reise um die Welt möchte ich hier noch zitieren, weil sie auch ein Befund ist, der aufzeigt, wie wichtig migrierender Intellekt für eine Nation (egal welche) ist:

Ich finde in einem Briefe, den ich aus Brasilien nach Berlin schrieb, eine Entdeckung verzeichnet, die kaum in eine Reisebeschreibung gehören mag, die ich jedoch hier einbuchen will, weil es mir neckisch vorkommt, daß grade ein geborener Franzose um die Welt reisen mußte, um sie fernher den Deutschen zu verkünden. Ich habe nämlich auf der Fahrt nach Brasilien in der »Braut von Korinth«, einem der vollendetsten Gedichte Goethes, einem der Juwelen der deutschen und europäischen Literatur, entdeckt, daß der vierte Vers der vierten Strophe einen Fuß zuviel hat!

Daß er angekleidet sich aufs Bette legt.

Ich habe seither keinen Deutschen, weder Dichter noch Kritiker, angetroffen, der selbst die Entdeckung gemacht hätte; ich habe Kommentare über die »Braut von Korinth«, vergötternde und schimpfende, gelesen und darin keine Bemerkung über den angeführten überzähligen Fuß gefunden. – Die Deutschen geben sich oft so viel Mühe, von Dingen zu reden, die sie sich zu studieren so wenig Mühe geben! –

Insgesamt hat Sebastian Guhr einen unterhaltsamen, leicht und flüssig zu lesenden Roman geschrieben, der sehr nah an der Lebensgeschichte seines Protagonisten liegt und ein erhellendes Licht auf diese spannende Epoche wirft. Bedenkt man, dass E.T.A. Hoffmann in Königsberg Vorlesungen von Immanuel Kant anhörte, bedenkt man den herrlichen Auftritt von Jean Paul, der nicht nur mit seiner komplexen Literatur eine Bereicherung war, sondern als herausragender Psychologe den Beginn des 20. Jahrhunderts (Phänomenologie) vorwegnimmt. Bedenkt man, dass aus all diesen Geistesgrößen letztlich 1848 hervorging. Auch Turnvater Jahn und seine krude Ideologie wird von Guhr herrlich eingebaut und der in jeder Revolution und jeder Solidaritätsbekundung als Gefahr mitschwingende Nationalismus aufs Korn genommen. Der Humanismus von Chamisso ist daher so bemerkenswert, weil er kein aggressiver Humanismus ist, sondern Humanismus mit dem Herzen viel mehr, als mit dem Verstand.

Ein halbes Hundert mir entrauschter Jahre
    Hat nicht mein Herz berührt, nur meine Haare.

(Adalbert von Chamisso 1831)

24. September 22

 

Die häßliche Herzogin

 

Von Lion Feuchtwanger

Erstmals erschienen im VdB (Volksverband der Bücherfreunde) im Jahr 1923

 

Der berühmte Sohn eines Margarinefabrikanten Lion Feuchtwanger (1884 bis 1958) hatte seinen einflussreichsten Roman über den Hoffaktor des Württembergischen Hofes Joseph Süß Oppenheimer aus dem frühen 18. Jahrhundert bereits geschrieben. Doch die Verlage lehnten das Thema als „zu jüdisch“ ab, obwohl die Theaterfassung bereits 1917 in München uraufgeführt wurde. In nur einem Jahr schrieb er dann einen weiteren historischen Roman der noch früher spielte, im 14. Jahrhundert. Die Geschichte kreist um die Tochter des Herzogs Heinrich von Tirol, Margarethe. Sie wird im Alter von 12 Jahren mit Johann dem Luxemburger verheiratet und regiert später als Herzogin allein das Land Tirol, machte es mit Machtwillen und Geschick zu einem blühenden Ort. Feuchtwanger schildert sie als hässlich und stellt ihr als Antogonistin die schöne Agnes von Flavon gegenüber, die letzte Gräfin von Tirol von der Burg Haag. Diese Gegenüberstellung von der Hässlichen und Mächtigen gegen die Schöne wiederholte Feuchtwanger dann in dem daraus resultierenden Drama „Die Petroleuminsel“. Die Herzogin von Tirol war aber vermutlich nicht hässlich, vielmehr ist der Name abgeleitet von „Hure, liederliches Weib“. Der Name könnte auch von der Burg Neuhaus kommen, ihre Lieblingsburg, die im Volksmund Mäusefalle / Maultasch genannt worden ist. Margarethe löste einen Skandal aus, weil sie aus eigenen Stücken die Ehe mit Johann löste. Feuchtwanger schildert mit dem historischen Stoff exemplarisch einen Zeitenwechsel vom durch den Adel geprägten Mittelalter  in die bürgerliche Neuzeit. Die Wittelsbacher mit ihrem Hauptquartier in München, die Lothringer in Prag und die Habsburger in Wien ringen um die Vormacht und inmitten ihrer jeweiligen Einflusssphären liegt das Herzogtum Tirol, dessen alter Herzog keinen männlichen Erben hinterlässt sondern „nur“ eine Tochter, deren hervor-stechende Eigenschaft ihre außerordentliche Hässlichkeit zu sein scheint. Wem es gelingt, sich der Herrschaft über Tirol zu bemächtigen, das den ertragreichen Handel mit den oberitalienischen Städten kontrolliert, wird auf unabsehbare Zeit einen solchen Zuwachs an Macht, Geld, Vermögen und Einfluss gewinnen, dass ihm niemand für mehrere Jahrhunderte lang die deutsche Kaiserkrone wird streitig machen können. Und so ringen die drei Herrscherhäuser unerbittlich und mit allen Mitteln um die Vorherrschaft in Tirol. Dabei übersehen sie jedoch die  die junge Erbin Margarethe und deren Liebe zu ihrem Land. Die angeblich hässliche Herzogin kann sich in dieser von Männern geprägten Welt durchsetzen, beeindruckt durch ihren Verstand und ihre Regierungsschläue. Ihre Gegenspielerin Agnes von Flavon fordert sie jedoch auf einer emotionalen Arena heraus. Die Bildgewalt in diesem historischen Roman ist beeindruckend. Wie im Nachwort herausgearbeitet wurde, hat man die Adjektive lange Zeit zu Unrecht entfernt und irrte sich literarisch erheblich, wenn man glaubt, dass Adjektive grundsätzlich schlecht sind. Nein. Feuchtwanger empfindet sprachlich die Stimmung dieses Zeitalters nach, die blumigen Metaphern kompensieren den Mangel an abstrakter Reflexion der Figuren. So ist der Frauenberger eine so gelungene Gestalt und zum Beispiel die Schilderung wie er den etwas schwerfällig Sohn der Herzogin – Meinhard- umbringt, wie er dann aus Eigennutz auch noch Agnes von Flavon tötet, wie dieser Albino mit Macho-Allüren eiskalt seine Vorteile herausholt, das ist aller Ehren wert und war höchst vergnüglich zu lesen. Zuweilen war ich natürlich auch durcheinander. All die vielen Namen der Protagonisten imitierten historische Genauigkeit mehr als dass sie Überblick geschaffen hätten. Aber das fand ich verzeihlich, weil die vergnüglichen Stellen, wie die kurze Affäre mit dem Knaben Aldrigeto einfach reinste Leckerbissen waren. Man konnte die schwüle Stimmung spüren, wenn die Herzogin träge in ihrer Hängematte döste und sich von dem „gelblich-weißen Knaben“ lieben ließ, man könnte spüren, wie der „blutige Saft eines Granatapfels über ihre geschminkten Finger troff, ihr „weiter, wüsterMann die glasklaren Kerne“ aufnahm, und sich die Herzogin wundert, dass dem Knaben nicht vor ihr ekelt.
Die Figuren sind so plastisch herausgearbeitet: Man sieht sie, spürt sie, riecht das feuchte Lederwams des Frauenberger. Kein Wunder also, dass der berühmte Literaturkritiker Hans Mayer dieses Buch von Feuchtwanger als sein bestes Buch bezeichnete. Ich finde persönlich die Josephstrilogie über den jüdisch-römischen Historiker Flavius Josephus (der einzige Autor der schriftlich eine Begegnung mit Jesus festhielt) unübertroffen, aber auch die Wartesaaltrilogie (Erfolg, die Geschwister Oppenheim, Exil) über das Aufkommen des Nationalsozialismus war für mich ein Highlight literarischen Erlebens. Feuchtwanger (zugänglicher, epischer als Thomas Mann) erzählt in diesem Historiendrama über die Tiroler Herzogin eine bittere Geschichte von einer hoch talentierten und ambitionierten Frau die letztlich am Klischee des herrschenden Frauenbildes scheiterte. Vox Populi, Vox Rindvieh erweist sich auch in dieser Geschichte. Das gemeine Volk ist manipulierbar, unterliegt ständigen Täuschungen, und schreibt Verdienste gerade den Falschen zu.
Dass die historische Herzogin nicht hässlich war, sondern einfach auch lebenslustig und freier als die üblichen Frauen ihrer Zeit, wurde ihr zum Verhängnis.

In Wien gibt es noch heute den Margareten, den 5. Wiener Bezirk. Manche glauben, dieser Bezirk sei nach der Gräfin benannt, denn dies war der Ort wo sie ihre Rentenzeit verbrachte. Offiziell ist Margareten (Herzschild) aber nach der heiligen Margarete von Antiochia (300 nach Chr.) benannt,  die vor Gericht gestellt, das Begehren des Richters weckte, der sie umso härter bestrafte, als sie ihn zurückwies: Sie sollte mit Fackeln versengt und in Öl gebraten werden. Als sie bei dieser Prozedur unverletzt geblieben sein soll, wurde sie enthauptet. Zahlreiche Menschen ließen sich infolgedessen taufen. Die berühmte Jeanne d’Arc soll ihre Stimme gehört haben. Immerhin passen diese Frauen auch dazu und zeugen von frühen Emanzipationsversuchen.

 

20. August 2022

 

Das Spinnennetz

Von Joseph Roth

 

Erschien erstmals als Vorabdruck in der Wiener Arbeiterzeitung 1923

 

Am 07. Oktober 1923 erschien die erste von 28 Folgen des Romans in der 1889 von Friedrich Austerlitz gegründeten Wiener Arbeiterzeitung. Die letzte Folge erschien dann am 06. November 1923. In dieser Zeit pausierte Joseph Roth in seiner sonst äußerst umtriebigen journalistischen Tätigkeit. Er schrieb in dieser Zeit für die Frankfurter Zeitung, für den Berliner Börsen-Courier, für das Prager Tagblatt, das Neue Acht-Uhr-Blatt, den neuen Wiener Tagblatt, der neuen Berliner Zeitung. All diese Zeitungen mussten ein halbes Jahr lang auf Roths Texte verzichten. Joseph Roth stand unter enormen Druck, da der Roman noch nicht fertig war, als das erste Kapitel im Oktober erschien. In der Zwischenkriegszeit war die Arbeiter-Zeitung offizielles Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs. Durch ihre Kriegsablehnung in den letzten Kriegsjahren und das Bedürfnis nach politischer Orientierung nach dem Umbruch entwickelte sich die Arbeiter-Zeitung zur politisch führenden Zeitung der Republik. Auch international wurde sie das meistbeachtete Blatt, die einen Umfang von je acht bis zwölf Seiten hatte. Roth war in den 1920ern einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Journalisten und verdiente ausgesprochen gut. Seine Beiträge reichten von Reisereportagen bis zu Buch- und Theaterbesprechungen. Schon 1922 hatte er seine Mitarbeit beim Börsen-Courier aufgekündigt mit den Worten: „Ich kann wahrhaftig nicht mehr die Rücksichten auf ein bürgerliches Publikum teilen und dessen Sonntagsplauderer bleiben, wenn ich nicht täglich meinen Sozialismus verleugnen will. Vielleicht wäre ich trotzdem schwach genug gewesen, für ein reicheres Gehalt meine Überzeugung zurückzudrängen, oder für eine häufigere Anerkennung meiner Arbeit.“
Das Spinnennetz war sein erster Roman. Schon zwei Wochen nach Abschluss dieses Romans, veröffentlichte das Prager Tagblatt am 18. November 1923 die ersten vier Seiten seines zweiten Romans Hotel Savoy, der dann in 22 Folgen zwischen Februar und März 1924 in der Frankfurter Zeitung erschien. Und schon einen Monat später im April brachte der Vorwärts einen Auszug aus seinem dritten Roman Die Rebellion.
Das Spinnennetz ist ein vergleichsweise hart geschriebener Roman, der das parataktische Staccato des Expressionismus an die Schmerzgrenze für Leser treibt. Seitenweise Sätze  mit nicht mehr als fünf, sechs Worten, eine Art Berichtsstil der weitestgehend auf sprachliches Ornament verzichtet. Wie der Gleichschritt der preußischen Armee, den Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau 1725 für die preußische Armee einführte, wirken diese Sätze. Eine Art Aufmarsch. Das war sicher Absicht von Roth, wirkt aber nicht immer vergnüglich.
Der Roman dreht sich um den Leutnant Theodor Lohse, der nach dem Krieg Schwierigkeiten hat sich in das zivile Arbeitsleben einzufügen. Als Hauslehrer für den jüdischen Juwelier Efrussi arbeitend, beginnt er die Juden zu hassen und er hasst die Sozialisten. Er heuert bei der Organisation SII an, einer Abteilung die im Militär bis heute existiert als Abteilung II. Sie umfasst das militärische Nachrichtenwesen und bewertet die Lage der gegnerischen Kräfte. Nach dem er seinen Mitkonkurrenten Klitsche tötete (Kapitel 7 ist unglaublich heftig geschrieben), heuert Lohse bei der Reichswehr an, der Garnison Potsdam, die man auch unter dem Namen Graf Neun kennt, da sie einen besonders hohen Anteil adliger Mitglieder hatte. Diese Garnison der 9. Infanterie ging in die Geschichte ein, als Ausbildungsgarnison für Hitlers Leibstandarte SS und sie war maßgeblich beteiligt am Überfall auf Polen am 1. September 1939.
Allein diese Hintergründe zeigen, wie hellsichtig ja prophetisch der Roman von Joseph Roth war. Hitler wird im 12. Kapitel einmal wörtlich erwähnt: Eine Gefahr war Hitler. (Seite 63 oben). Noch vor dem Putschversuch Hitler am 08. November 1923 schrieb Roth diesen lapidar wirkenden Satz: Eine Gefahr war Hitler. Erst im Dezember 1923 berichtete die Londoner Times, dass Hitler den Putsch bereits für den 29. September geplant hatte. Und am 30. Oktober rief Hitler  ja im Zirkus Krone (seinem Lieblingsredeort) ergebnislos zum Aufstand auf. Roths Kapitel12 ist beeindruckend. Er beschreibt den Nationalsozialismus mit einer kühlen, sachlichen Klarheit: Nationalsozialismus war ein Wort wie andere. Es bedingt nicht Gesinnung. Dann beschreibt er die Bier trinkenden Kleinbürger, die Krautknödel essen und zwischendrin jubeln. Kurz. Der NS ist nichts weiter als ein inszeniertes Volksfest ohne jede erkennbare Ideologie. Im NS findet sich jeder, wenn er nur will und so diente diese Pseudopartei als Projektionsfläche.
Vorbild des Romans war für Joseph Roth (den man damals auch den „roten Joseph“ nannte) die Ermordung von Walter Rathenau durch den Studenten der Rechte (wie der Romanheld Theodor Lohse) Erwin Kern und den Maschinenbauingenieur Hermann Fischer am 24. Juni 1922. So kann man in der Figur des Freiherrn von Köckwitz und seinen Schießübungen, seiner Schießleidenschaft  den realen Mecklenburger Gauleiter Erich Bade erkennen, der dem Studenten Erwin Kern die MP 8 organisierte mit der er dann den deutschen Außenminister Walter Rathenau tötete (mit fünf Schuss – Rathenau war sofort tot). Erich Bade war Mitglied der berühmten Organisation Consul, die zahlreiche Mitglieder hatte die später der SA und dem Stahlhelm angehörten.

Theodor Lohse lernt den jüdischen Spion Benjamin Lenz kennen, der gut informiert ist und von Lohses Mord an Klitsche weiß. Trotz seines Antisemitismus ist Lohse bereit, mit Lenz zusammen zu arbeiten. Seine Karriere geht ihm weit über seine Ressentiments. Und auch hier sieht man, dass die Figur Lohse seinen Antisemitismus eher wie eine Projektionsfläche nutzt für all das, was er selbst nicht erreichen kann, so wie die zweite Frau von Efrussi nach der sich Lohse sogar bei seiner Hochzeit mit der Gesinnungsgenossen Elsa von Schliefen sehnt.  Elsa von Schliefen heiratet er aus Vernunftgründen (sie ist von Adel und wie er antisemitisch).

Der Roman von Roth wurde 1989 von Bernhard Wicki verfilmt. Der noch ganz junge Ulrich Mühe spielt die Hauptrolle als Theodor Lohse. Und Klaus Maria Brandauer spielte Benjamin Lenz. Der Film ist allerdings anders aufgebaut. Er beginnt mit der Novemberrevolution 1918 beim Aufstand der Kieler Matrosen, wo Lohse durch einen Bajonettstich verwundet wird. Dann ein Zeitsprung auf 1923 und dann hält sich der Film weitestgehend an den Roman, bis auf ein paar Namensänderungen und dass Wicki aus dem Juwelier Efrussi einen Bankier macht. Das Ende wiederum ist im Film anders. Dieser endet im November beim Hitlerputsch. Lohse, ganz Opportunist, ist bereits NSDAP Mitglied.
Dennoch ist der Film sehr sehenswert, denn Wicki zeigt darin die unterschiedlichen Lebenswelten Berlins, das jüdische Scheunenviertel im Gegensatz dazu das Milieu der ostelbischen Junker (Großimmobilienbesitzer), das kleinbürgerliche Milieu Lohses im Gegensatz zum großbürgerlichen Milieu des Bankhauses Efrussi.

Im Kern verbinden Roman und Film die Aussage über den Karrieristen Lohse. Eine Figur die im machiavellistischen Stil und ganz ohne moralischen Kompass Karriere machen will. Dazu ist jedes System recht. Der NS aber ist für solche Empathie freien und amoralischen Figuren wie geschaffen.

Der in Brody (Ostgalizien, heute Ukraine) 1894 geborene Joseph Roth, Autor des berühmten Romans Radetzkymarsch (eine Hommage an die Habsburger Monarchie k.u.k, ähnlich wie Musils Mann ohne Eigenschaften), starb bereits im Alter von 46 Jahren 1939 in einem Pariser Armenspital im 15. Arrondissement an den Folgen eines kalten Alkoholentzugs.

08. Juli 2022

 

Hadschi Murat

Von Lew N. Tolstoi

In der Übersetzung von Arthur Luther aus dem Jahr 1961

Erstmals auf Deutsch erschienen 1912 in der Übersetzung von August Scholz

 

Die vorliegende Erzählung von Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi stammt aus seiner späten Schaffensperiode Ende des 19. Jahrhunderts. Tolstoi wurde 200 Kilometer südlich von Moskau im September 1828 auf einem Landgut als viertes Kind eines höheren Landadligen geboren. Und betrachtet man die Wirkungsgeschichte dieses Mannes, dann gibt es mindestens vier Tolstoi. Einmal den berühmten und weltbekannten Autor großer Romane wie Krieg und Frieden oder  Anna Karenina, dann gibt es den großen Pädagogik-Reformer, der auf seinem Landgut eine Schule baute für die verarmten Bauernkinder. In dieser Schule hat er auch selbst unterrichtet, kostenfrei und nach der Idee des freien Lernens ohne Zwangsmaßnahmen. Sein Schulbuch Alphabet das 1872 erschien erreichte eine Auflage von über zwei Millionen und ist bis heute das bekannteste Buch Tolstois in Russland. Dann gibt es den Religionskritiker, der das Evangelium ins moderne Russisch übersetzte und eine eigenständige Idee des Christentums entwickelte und schließlich gibt es den Propheten und Gewaltkritiker dessen Sachbuch Das Himmelreich ist in euch in Russland lange Zeit verboten war. In diesem Buch begründet er seine Lehre vom Nicht-Widerstehen (an der Bergpredigt orientierte Gewaltfreiheit), angelegt auch an Mahatma Gandhi mit dem Tolstoi einen langen Briefwechsel führte.
Man müsste eine Kiste mit Büchern von Tolstoi packen und an Putin schicken.
Tolstoi starb am Morgen des 20. November 1910 während einer Zugfahrt mit seiner Tochter an einer Lungenentzündung, umringt von der Presse am Bahnhof Astapowo.
Die Erzählung Hadschi Murat war sein letztes Werk und erschien erst postum 1912 in Russland und behandelt seine Zeit im Kriegsdienst. Während der 1850er Jahre war Tolstoi Fähnrich der zaristischen Armee und weigerte sich, die ihm zustehende Offizierskarriere einzuschlagen, denn er wollte Seite an Seite mit den normalen Soldaten an vorderster Front kämpfen.  Der Kaukasus-Krieg ging von 1817 bis 1864. Die Zeit die Tolstoi schildert ist eine Episode in der der Aware Imam Schamil den Heiligen Krieg ausrief und die Russen stark in Bedrängnis kamen. Weitere zahlreiche Figuren in der Erzählung sind historisch belegt. Natürlich Zar Nikolaus I., der in dem langen 15. Kapitel geradezu demontiert wird. Ein wahrer Putin-Vorläufer. Auch den Infanterie-General Semjon Woronzow gab es, sowie seinen Sohn Michael, der Vize-König des Kaukasus war. Auch den Grafen Melikow gab es wirklich.  Und auch die Hauptfigur Hadschi Murat gab es tatsächlich. Er war im 19. Jahrhundert ein kaukasischer Widerstandskämpfer. Ein längerer Wikipedia-Artikel über ihn schildert es so: In den 1820ern wurde der Sufismus (mystische Strömung des Islam) Grundlage der kaukasischen Bergvölker. Es kam so zu der Bewegung der Muriden (Novizen des Sufismus) gegen die russische Unterdrückung. Dieser Widerstandsbewegung (Ghazawat, gemeinsamer Krieg) schloss sich Hadschi Murat als einer der ersten an. Doch die awarischen Khane wollten bei dem Krieg nicht mitmachen und baten die Russen um Hilfe. Die Widerstandsbewegung tötete daraufhin sämtliche Khane. Da Hadschi Murat ein Aware war, rächte er sich an den Muriden und tötete (wie in der Erzählung von Tolstoi beschrieben) den Anführer Hamzat Bek. Sein Nachfolger wurde dann der Imam Schamil.
Hadschi Murat kämpfte dann eine Weile auf Seiten der Russen, bis sein Rivale in russischen Diensten Major Ahmet Khan ihn bei den Generälen verleumdete: als Verräter und Saboteur im Dienste Schamils. Er wurde inhaftiert. Bei einem Transport gelang ihm die Flucht, indem er sich in einen Abgrund stürzte. Er überlebte schwer verletzt; die Soldaten hielten ihn für tot. Von den Russen enttäuscht, schloss er sich nach seiner Genesung nun doch dem Imam Schamil an, der ihn zu seinem Stellvertreter (Naip) ernannte. Etliche Stämme folgten Hadschi Murat und fielen von den Russen ab. Hadschi Murats strategische Fähigkeiten und seine Kühnheit machten ihn bei den Bergvölkern zum bis heute verehrten Volkshelden und für die Russen zum berüchtigten Gegner, der ihnen herbe Niederlagen bescherte.
1851 bestimmte Schamil allerdings seinen Sohn und nicht seinen Stellvertreter zum nächsten Imam, das war für Hadschi Murat nicht annehmbar, es kam zum Eklat. In einer geheimen Sitzung wurde er von Schamil und seinem Rat zum Tode verurteilt – jedoch rechtzeitig gewarnt. Er konnte fliehen, doch seine Familie wurde gefangen genommen.
Ab hier beginnt die Erzählung von Tolstoi. Hadschi Murat lieferte sich dem russischen Oberbefehlshaber der Südarmee Fürst Michail Semjonowitsch Woronzow in Tiflis aus. Er bat um Kosaken und Waffen, um seine Familie zu befreien und den gemeinsamen Feind Schamil zu vernichten; die Antwort blieb aus. Der berühmte kaukasische Krieger wurde in den Salons hofiert und in den Kanzleien hingehalten. Ihm wurde nur gestattet, sich mit seiner Handvoll Gefolgsleute in eine muslimische Kleinstadt zurückzuziehen, unter Bewachung von Kosaken.

Von dieser Kleinstadt aus, Nucha in Aserbaidschan, unternahm er am Morgen des 5. Mai 1852 mit seinen Leuten einen Ausbruch in Richtung auf die Berge Dagestans, um seine Familie zu retten. Sie töteten ihre Bewacher, doch im Verlauf der Flucht wurde ihnen ein bewässertes Reisfeld zum Verhängnis. Am Abend steckten sie noch darin und wurden gestellt. Hadschi Murat und seine Getreuen flüchteten in eine kleine mittelalterliche Burg. Den russischen Verfolgern waren muslimische Milizen und Artillerie zu Hilfe gekommen. Bei dem folgenden Kampf fiel Hadschi Murat. Der Sohn seines Feindes Ahmet Khan schlug dem Toten den Kopf ab und schickte ihn nach Tiflis, wo er einbalsamiert und dem Zaren Nikolaus I. gesandt wurde.

Lew Tolstoi war – wie schon erwähnt - selbst bei den Truppen im Kaukasus, als Hadschi Murat Ende 1851 zu den Russen überlief. Er schrieb seinem Bruder:

„Wenn Du Wert darauf legst, Deinen Bekannten das Neueste aus dem Kaukasus zu berichten, so kannst Du erzählen, dass ein gewisser Hadschi Murat, die bedeutendste Persönlichkeit nach Schamil, sich vor einigen Tagen der russischen Regierung unterworfen hat. Das war der forscheste Kerl (ein Dshigit von der ganzen Tschetschma), und doch hat er die Gemeinheit begangen.“ (Tiflis, 23. Dezember 1851)

50 Jahre später hatte er sein Urteil über die Gemeinheit revidiert. In seinem letzten Werk, der Novelle Hadschi Murat, hält er sich weitgehend an historische und biographische Abläufe. Für Tolstoi bot der Stoff die Möglichkeit, die Ressentiments von Russen gegenüber Kaukasiern zu thematisieren; die muslimische mit der christlich-orthodoxen Kultur in Dialog zu setzen; wie auch eine willkommene Gelegenheit, die Mächtigen seines Landes mit Satire zu überziehen.

HeiHei

 

31. Mai 2022

 

Die Diplomatin

Von Lucy Fricke

 

Erschienen 2022 bei Claassen (Ullstein Buchverlage)

 

Hinter dem Rauch wehte schlaff die deutsche Fahne im Wind, endet der aktuelle Roman von Lucy Fricke, deren letzter Roman (Töchter) mit Josef Bierbichler in der Rolle von Marthas Vater kongenial verfilmt wurde. In ihrem aktuellen Roman geht es um eine Diplomatin, Friedericke Andermann, und über die Frustration der Rolle der Diplomatie in autokratischen Ländern. Die Diplomatin Friedericke Andermann, kurz Fred genannt, wechselt nach einem Entführungsskandal von Uruguay in die Türkei.  Dort schildert sie die Arbeit der Diplomaten einmal so: Wir waren keine Spezialeinheit und keine Weltmacht, wir brachten keine Währung ins Schlingern, keine Regierung zu Fall, wir verhängten nicht mal Sanktionen. Wir waren drei läppische deutsche Beamte, und genauso wurden wir behandelt. (Kapitel 29)
Der Roman ist konventionell geschrieben und nicht sehr literarisch. Die Arbeit der Diplomatie erschöpft sich in belanglosen Dialogen, dem Ausrichten der Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit und dem Zuschauen. Bedenkt man dass die vielen deutschen Beamten im Ausland, die mit deutschen Steuergeldern finanziert werden, nichts weiter machen als dumm aus der Wäsche zu gucken und ihre Hilflosigkeit im Alkohol ertränken, fragt man sich schon, was das eigentlich soll.  Dass Fred am Ende nur noch die Wahl hat, ihre Befugnisse deutlich zu überschreiten und zur Schlepperin avanciert, bedeutet nicht nur das Ende der Karriere von Fred, sondern auch den Abgesang an die Diplomatie. Der Roman liest sich flüssig in ein, zwei Tagen durch. Die vielen Dialoge machen den Text noch schneller. Gelegentlich gelingt der Autorin ein gutes Bild: Ankara stand da in braunen Buchstaben, ein Willkommen aus vertrockneten Pflanzen, vor Monaten von Staatsgärtnern angelegt und dann sich selbst überlassen. Der Roman ist ansonsten routiniert geschrieben. Den Figuren fehlt es ein wenig an Tiefe. Zwischendurch ärgerte ich mich über den Mangel an sprachlicher Akrobatik. Aber das war wohl auch nicht die Aufgabe in diesem Roman. Am Ende haben wir viele hilflose Figuren gesehen und so war das Ende doch sehr tröstlich. Denn das Bild von der Türkei als Überwachungs- und Unrechtsstaat war schon deprimierend genug, wenn es auch wahr ist. Aber das wissen wir ja alle. Internationale Beziehungen – was für ein Euphemismus! – stehen über der Bedeutung einzelner Menschen. Auch das ist keine Überraschung. Für eine ausgebildete Juristin und Diplomatin erschien mir Fred dennoch etwas zu naiv und etwas zu hilflos. Aber man muss auch einräumen, dass sie sich in einem patriarchalischen Staat befand, in der das diplomatische Netzwerk von den Männern dominiert wird. Es ist dennoch so, dass ich etwas enttäuscht auf die Lektüre zurückblicke. Vor allem im Vergleich mit dem weit mehr gelungenen und weit komplexeren Roman Die Hauptstadt von Robert Menasse. Und es ist nicht ganz unproblematisch für eine Hauptprotagonistin sie als ohne jede Bedeutung zu beschreiben (Kapitel 33). So blieb mir wirklich vor allem der Ärger über diese für ‚s Nichtstun viel zu hoch bezahlten Beamten. Die ganze Diplomatie: Nichts weiter als symbolischer Hokuspokus? Repräsentanz in fremden Ländern? Und nicht mal die eigenen Leute kann man dann beschützen? Im letzten Ranking zur Pressefreiheit (Anfang Mai veröffentlicht) rutschte Deutschland um weitere drei Plätze ab und liegt jetzt auf dem Abstiegsplatz 16, hinter Ländern wie Litauen oder Jamaika. Auch wenn der Journalist David blass blieb, überhaupt nicht klar wurde, woran er eigentlich arbeitete, und eigentlich nur für sein Herumirren bestraft wurde, ist erschreckend, dass die bloße Arbeit des Journalismus ein Grund ist, jemanden zu verhaften. Journalismus, heißt es in der Definition, trägt zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Dabei ist es durchaus konsequent, dass wir im Roman nicht erfahren, worum die Arbeit von David sich genauer drehte. Denn im Bild der Massenmedien erscheint ein weiterer Journalist in Haft nichts weiter zu sein, als eben ein weiterer Journalist in Haft. Man gewöhnt sich schon dran. Und dass die Türkei so ist, wie sie ist und ihren Geheimdienst auch schön verzahnt hat mit dem deutschen Geheimdienst, das hat auch Tradition und das kennen wir bereits aus den 1920er Jahren und der Rolle der deutschen Diplomatie am Völkermord gegen die Armenier.
Man kann nicht sagen, dass Fricke mit ihrem Roman zu einer weiteren Erkenntnis beigetragen habe. Zu sehr ist der Text ein Abgesang. In der Müdigkeit von Freds Mutter könnte man eine Allegorie sehen. So empfand ich den Roman fast schon zu pessimistisch. Und das will etwas bedeuten, wenn ich das schreibe. In der aktuellen Tragödie des Krieges, die unsere derzeitige Zeitungslandschaft prägen, könnte man wirklich pessimistisch werden. Vielleicht ist es gerade daher an der Zeit den hegelianischen Geschichtsoptimismus aus seiner staubigen Ecke zu fischen. Immerhin ist Nation Building eine starke Antriebsfeder zur kulturellen Entfaltung von Demokratie. Und die internationalen Beziehungen sind nicht so schlapp, wie sie Fricke schildert. Daher hat das Ende des Romans viel Gewicht. Freds Tat ist nicht das Ende ihrer Karriere, es ist der Beginn ihrer Menschlichkeit. Freiheit ist eine so mächtige Idee, dass sie sich immer durchsetzen wird. Aber sie ist nicht umsonst zu haben. Der Preis der Freiheit impliziert auf dialektische Weise die Krise. Insofern handelte Fred und traf eine Entscheidung, die über ihren eigenen Horizont hinausging. Freiheit bedeutet Risiko. Dieses Risiko ist immer auch eine Frage der Abwägung. Letztlich ist es ein großes Vorrecht der Menschen (Humanitas im weitesten Sinne), sich gegen Regeln und für die Freiheit zu entscheiden. Man nannte genau das einmal ein Naturrecht des Menschen. Die menschliche Freiheit ist unverletzlich, aber nicht unantastbar. Die Diplomatin Fred verhalf drei Menschen in die Freiheit, weil es Länder gibt, deren Verhältnis zur Freiheit noch angemessen ist. Wir wissen, wie frugal das ist. Denn Glück, Geld und Spielraum für die eigenen Fähigkeiten werden immer mehr zur Mangelware. Wenn die Freiheit zum Luxusobjekt wird, hätte Orwell Recht: Freiheit ist Sklaverei. Denn das Privileg, eine mutige Diplomatin wie Fred zur Seite zu haben, ist nur sehr wenigen Menschen gegönnt. Mehr Mut, weniger Karriere. Aber es ist wie mit den Fischern, die Menschen aus dem Mittelmeer retten. Ihr Mut ist auch bei uns strafbar. Zwischen Kriminellen, die an der Sehnsucht nach Freiheit verdienen und mutigen Menschen sollten wir noch einen Unterschied ausmachen können.

Insgesamt hat mich der Roman von Fricke nicht gerade vom Hocker gehauen. Und so musste ich mir meine Besprechung ein wenig aus den Fingern saugen. Mich würde jetzt noch interessieren, wie es türkischen LeserInnen damit ging. Würden sie den Text für ausreichend befinden? Nicht wegen der literarischen Qualität insgesamt, sondern um des darin vermittelten Inhalts?

 

24. Mai 2022

 

Die Drehung der Schraube

Von Henry James

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Ingrid Rein

Erstmals im Original erschienen als Fortsetzungsgeschichte in Colliers Weekly 1898

 

Der klassische Schauerroman (Gothic novel, Walpole, Radcliff)  hat seine tiefen Wurzeln in der Natur. Die düstere Landschaft, unheimliche Geräusche und unheimliche Gestalten sind ihr Rezept. Eigenschaften des Unheimlichen: Raum, Zeit und Menschen kehren sich in Ungewohntes, Grauenerregendes um. Dramaturgisch geht es um den Bann. Rechtlich gesehen um die Wiederherstellung der alten, naturgegebenen Ordnung. Das Grauen, das Unheimliche muss in seine Schranken gewiesen werden, die andere Welt, die unheimliche zweite Welt darf nicht zur normalen, gewohnten Welt durchdringen. Dem Held solcher Gespenstergeschichten droht daher immer die Gefahr, von dieser anderen Welt verschlungen zu werden.

Zur gleichen Zeit, als Marx und Engels schrieben „ein Gespenst geht um in Europa“ schwappte allzu wörtlich Mitte des 19. Jahrhunderts von New York aus der moderne Spiritismus nach England. Die Fox-Schwestern machten in New York von sich reden, weil ein verstorbener Geist durch Klopfzeichen ihre nächtliche Ruhe störte. Aus dem Spiritismus wurde ein regelrechtes Geschäft, eine hysterische Welle.
Henry James – ein Kind des viktorianischen Zeitalters – erlebte Ende des 19. Jahrhunderts diese Welle der Hysterie und beschäftigte sich intensiv damit, nahm selbst an spiritistischen Sitzungen teil, und einiges in der Novelle Geschilderte entstammt aus diesen Erlebnissen. Die Novelle beginnt bei einer Abendgesellschaft, die sich vor einem Kaminfeuer versammelt hat und sich Gespenstergeschichten erzählt (ein Verweis auf  Mary Shelleys Frankenstein). Ein Junge der mit seiner Mutter in einem Zimmer schläft wird von einem Gespenst heimgesucht, weckt seine Mutter damit sie ihn beruhige, aber die Mutter wird gleichsam von dem Gespenst erschreckt. Jemand in der Kaminrunde bemerkt dazu, dass dies wohl der einzige bekannte Fall sei in der ein Kind Opfer einer solchen Heimsuchung geworden sei. Und diese Bemerkung veranlasste einen gewissen Douglas, eine noch grausamere Geschichte in Aussicht zu stellen. Diese Geschichte wird dann als Bericht einer jungen Frau von Douglas vorgelesen.

Die namenlose Ich-Erzählerin der Novelle kommt als Gouvernante nach Bly, einem typischen englischen mit allen Requisiten des Gothic Novel ausgestatteten Herrensitz. Die beiden Kinder die sie zu betreuen hat, die achtjährige Flora und der zehnjährige Miles sind Weisenkinder, deren Erziehung sich der abwesende Onkel verpflichtet fühlt. Die noch unerfahrene und sehr junge Gouvernante fühlt sich überfordert, fremd und sicher auch einsam. Sie freundet sich mit der älteren, aber recht naiven und ungebildeten Mrs. Grose an und gemeinsam versuchen sie, die beiden Kinder vor dem Erscheinen böser Geister zu bewahren. Die bösen Geister sind der verstorbene persönliche Diener des Onkels der Kinder Peter Quint und die ebenfalls verstorbene Vorgängerin der Ich-Erzählerin, die Gouvernante Miss Jessel.
Kaum ein Roman von Henry James hatte ein derart breites und vielfältiges Echo in der Literaturwissenschaft hervorgerufen und die Spielwiese der Deutungsoptionen so weit geöffnet. Ein Mann liest den Bericht einer jungen Frau vor, die offensichtlich um ihren Verstand ringt. Andeutungen werden gemacht, nie etwas wirklich ausgesprochen. Die beiden an Raphaels Engel erinnernden Kinder sind wohl nicht so engelsgleich wie sie scheinen. Nichts ist so, wie es scheint. Die LeserInnen werden zum Mitautor der Geschichte, da vieles nicht gesagt wird, zu schrecklich wäre es. Gerade das Unausgesprochene wird zum Referent des Unheimlichen. Nicht etwa die beiden Geister sind das Unheimlichste in der Geschichte. Zwar ist ihre Erscheinung verstörend, aber die Erzählerin sieht sie und kann sie sogar bis zu einem gewissen Grad vertreiben, bzw. beherrschen. Unheimlich ist die Verbindung der Gespenster mit den Kindern. Und diese Kinder! Sie sind auf viel zu unnatürliche Weise artig, geschichtslos und erinnern eher an seelenlose Idealvorstellungen von artigen Kindern dieser viktorianischen Ära. Tadellose Manieren, zart, beinahe manieriert höflich. Und die Erzählerin wird in ihrer Beschützerrolle zunehmend übergriffig. Daher gibt es ebenfalls Deutungsversuche, die Geschichte verweise auf das Verhältnis der britischen Unterschicht zur Oberschicht. Die junge Gouvernante dringt quasi ein in diese höhergestellte Gesellschaft und bringt so selbst die Dinge in Unordnung. Gemeinsam mit ihrer älteren Freundin instrumentalisieren sie die Kinder zu einer Art Revolution gegen den Onkel. Der Titel The turn of the Screw verweist nicht nur auf das Drehen der Schraube (Ende des Kapitels VI, als Flora ein Stück Holz in ein anderes zu bohren versucht – phallische Konnotation), sondern auch auf das Durchdrehen der Schraube (im Deutschen hat man auch eine Schraube locker) bei der Icherzählerin.
Was in den von mir oberflächlich recherchierten Textanalysen nie erwähnt wurde, ist, dass die beiden Kinder Weisen sind und hier ein klassisches Motiv des Doppelgängers (wieder einmal) vorliegt. Die Abwesenheit der toten Eltern spiegelt sich in der Heimsuchung durch Peter Quint und Miss Jessel. Das Geheimnis der Geschichte ist die Sprachlosigkeit der Kinder, sich den Tod der Eltern erklären zu können. Der Versuch der Icherzählerin den Kindern die Eltern zu ersetzen, sie auf die nämliche Weise zu beschützen scheitert vollständig. Da man der Erzählerin nicht trauen darf in ihrem Bericht, könnte die Wahrheit darin liegen, dass es die Haushälterin gerade noch schaffte das kleine Mädchen vor der Übergriffigkeit der Gouvernante zu beschützen, leider nicht mehr den Jungen. So spiegelt sich in der Grausamkeit der Heimsuchung auch die Grausamkeit des Kindsmordes und zugleich der verzweifelte Versuch die Kinder vor der eigentlichen Wahrheit zu schützen. Der Hinweis auf die Engel Raphaels ist damit auch ein Hinweis auf den Todesengel. In der späteren evangelischen Sterbeliturgie übernahm Raphael die Funktion des Begleiters der Verstorbenen ins Jenseits (wie Charon in der antiken Mythologie). So erlöst die Gouvernante den leidenden Miles, der seiner Trauer über den Verlust seiner Eltern keinen Ausdruck zu geben vermag.
Aber auch das ist von mir nur ein Deutungsversuch.
Da James seine Erzählerin höchst subjektiv ausgestattet hat und nur ihre Perspektive zulässt (außer in den mindestens ebenso fragwürdigen Interpretationen der Kamingesellschaft aus Kapitel I) sind wir als Leser auf Indizien zurückgeworfen.
In Walter Benjamins Sprachphilosophie heißt es einmal sehr schön, dass wir uns nicht durch die Sprache ausdrücken, sondern in der Sprache. Jedwedes geistige Ding hat seine Sprache in der es sich mitteilt. Geister sind insofern Spuren der Erinnerung die wir versuchen zu lesen. Doch diese Form der Offenheit müssen wir heute absichtlich herstellen. Der moderne Mensch ist nicht mehr offen (nicht mehr naiv), sondern im Gegenteil immer mit einem Projekt behaftet (im Sinne Schillers nicht mehr eins mit der Natur). Die Spuren dessen, was erscheint, könnte man mit einem Abdruck vergleichen. Dort lag ein Stein, man sieht noch seine Spuren, einen Hauch Helligkeit. So hinterließ Peter Quint seine Spuren und Miss Jessel. So waren die ersten Ersatzobjekte der Kinder, die – und das hat die Icherzählerin sehr wohl gespürt – Opfer waren. Die Abwesenheit des eigentlichen rechtlichen Erziehungsberechtigten, diese in Obhut geben in fremde Hände, ohne Gespräche, ohne Trauerbegleitung, ganz im viktorianischen Stil des Ausschweigens psychischer Dilemmata, das verkraftete die junge Frau schlicht nicht und übernahm tief empathisch dafür die Verantwortung – am Ende auf schreckliche und grausame Weise. Denn die naturgegebene Ordnung war in diesem Fall schlicht nicht mehr wieder herzustellen. Das Kind war sprichwörtlich in den Brunnen gefallen.

 

20. Mai 22

 

Schachnovelle

Von Stefan Zweig

Als TB erschienen im Verlag Fischer 1974

 

„Ich finde die Identität mit meinem Ich nicht mehr, nirgends hin gehörig, nomadisch und dabei unfrei – meine Arbeiten, meine Bücher sind drüben, und ich lebe seit Jahren mit Koffern und Paketen, an ein Zurück ist doch auf lange nicht zu denken und es wäre auch kein richtiges Nachhause mehr.“ (Stefan Zweig an Felix Braun am 21. November 1942)

Einen Monat später, am 23. Februar 1942 begeht Stefan Zweig gemeinsam mit seiner Ehefrau Lotte im Exil in Petropolis / Brasilien Selbstmord.

"In den Kreisen der Emigration hatte Stefan Zweigs freiwilliger Tod eine ungeheure Bestürzung hervorgerufen. ... Wenn er, dem alle Möglichkeiten offen standen, das Weiterleben für sinnlos hält - was bleibt dann denen noch übrig, die um ein Stück Brot kämpfen? ... [Er gehörte] zu den Begünstigten unter uns. Zu den Vereinzelten, die einen internationalen Leserkreis, einen Widerhall für ihr Werk, eine ständige Anerkennung hatten. Zu den Wenigen, die schon eine neue Nationalität, einen gültigen Paß, eine Art von Sicherheit besaßen. Er hatte keine materiellen Sorgen, er konnte sein Leben einrichten, wie er wollte." (Carl Zuckmayer, "Did you know Stefan Zweig?", in: Der große Europäer Stefan Zweig, Hrsg. Hanns Arens, Fischer Taschenbuch 1981, S. 133-134).

Im Dezember 1942 erschien die Schachnovelle posthum erstmals in deutscher Sprache, im Verlag Kramer-Pigmalion, Buenos Aires, als Liebhaberdruck in einer Auflage von insgesamt nur 300 Exemplaren.

„Zu abstrakt für das große Publikum, zu abseitig in seinem Thema“, so Stefan Zweig selbst in einem Brief an Herman Kesten (Januar 1942). Er hatte sich getäuscht; nach Erscheinen der Taschenbuchausgabe im Jahr 1974 wurde die Schachnovelle der größte Erfolg des S. Fischer Verlages neben Thomas Manns’ Zauberberg.

Stefan Zweig wird am 28. November 1881 in Wien als Sohn eines Großindustriellen und einer Bankierstochter geboren. Er wächst in einem großbürgerlichen Umfeld auf, als Teil der wohlhabenden assimilierten jüdischen Bevölkerung, einer Gesellschaftsschicht, die im Kaiserreich kulturell sehr einflussreich ist und aus der – noch vor Zweig – eine ganze Reihe von Literaten, wie Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler, hervorgeht.

Stefan Zweig reiste viel, unter anderem nach Indien und Amerika (seinen selbst gewählten Exilort Brasilien kannte er wohl schon aus Reisen dorthin davor).  Er unterhielt Kontakte zu Künstlern und Schriftsteller aus aller Welt.

Bereits 1934 ging Stefan Zweig nach London ins Exil, wurde bei Ausbruch des Krieges britischer Staatsbürger und landete schließlich 1940 in Brasilien.

Stefan Zweigs Bücher fielen bereits 1933 dem Autodafe zum Opfer, offiziell verboten wurden sie in Deutschland 1936.

Die Schachnovelle war Zweigs letztes Buch und setzt sich dezidiert mit der subtilen Folter der Nationalsozialisten auseinander.

Die Gegenüberstellung des geistlosen und tumben Czernovic, der seine einseitige Begabung im Schachspiel gnadenlos verwertet, mit dem sensiblen und scheuen Dr. B., dessen Nervenschwäche schließlich die Niederlage bedeutet, ist eine Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und intellektuellem Großbürgertum. Im Gegensatz zu dem bereits 1930 veröffentlichten Roman Lushins Verteidigung von Vladimir Nabokov, sind die Figuren bei Zweig eher holzschnittartig. Während Nabokov einen psychologisch raffinierten Schachroman schrieb, benutzt Stefan Zweig das Schachthema eher als Transportmittel, um am Beispiel des Dr. B. die Niederlage des Geistes gegen den Nationalsozialismus zu demonstrieren. In versierten Schachkreisen hat man Zweigs Novelle daher kritisch aufgenommen, man kritisierte, dass es unmöglich sei, in so kurzer Zeit wie Czernovic derart Schachspielen zu lernen, und auch, dass es nicht denkbar sei anhand nur eines Buches die Vielfalt der meisterlichen Spielzüge zu vollziehen, wie es Dr. B. gelingt. Während Nabokov seinen Roman auch wie ein Schachspiel aufbaut, bleibt Stefan Zweig seiner novellistischen Linie treu. Daher ist Schach bei Zweig eher als Metapher zu sehen. Hinzu kommt noch der romantische Spiegeleffekt mit zwei Ich-Erzählern. Einmal der namenlose Erzähler und wie ein Spiegel oder ein Abbild dieses Erzählers taucht Dr. B aus heiterem Himmel auf und erzählt dann seine Geschichte. Die Folter die Dr. B erlebte nennt man „weiße Folter“, weil sie zerstört ohne körperlich sichtbare Spuren zu hinterlassen. Allein der hilflose Versuch sich aus seiner Lage zu befreien, verursacht sichtbare Narben (Schnittwunden am Handgelenk). Erschreckende Analogien kann man im Bericht der internationalen Kommission zur Untersuchung der Todesursache von Ulrike Meinhof finden, die wie Dr. B. einer extremen Isolationshaft ausgesetzt war.

Vielleicht ist das Schachbrett und die Enge, die Dr. B. dort erlebt Symbol des nationalsozialistischen Deutschlands: „Alle blickten wir ihm etwas verwundert zu, aber keiner beunruhigter als ich, denn mir fiel auf, dass seine Schritte trotz aller Heftigkeit dieses Auf und Ab immer nur die gleiche Spanne Raum ausmaßen; es war, als ob er jedes Mal mitten im leeren Zimmer an eine unsichtbare Schranke stieße, die ihn nötigte umzukehren. Und schaudernd erkannte ich, es reproduzierte unbewusst diese Auf und Ab das Ausmaß seiner einstmaligen Zelle;“ (Seite 101).

Die Begeisterung, die Dr. B. erlebt, als ihn Czernovic zu einer Revanche heraus fordert, ist die imaginierte Rückkehr nach Deutschland. Aber dort, in Deutschland, wird ein ganz anderes Spiel gespielt. Der König steht auf dem falschen Platz. Moralisch steht der König im Schach, faktisch hat der König längst den Platz verlassen, den ihm die Moral zuweist. Und dort gibt es für den Schriftsteller Stefan Zweig auch „kein richtiges Nachhause“ mehr.

Der kometenhafte Aufstieg des Schachspielers Czernovic symbolisiert den Aufstieg der Nationalsozialisten. Es mag unmöglich sein, so schnell Schach zu lernen, wie Czernovic in der Novelle es schafft. Aber es war möglich, dass eine ganze Nation in wenigen Jahren derart präzise Morden lernte. Unter Gefangenschaft und Folter lernt auch der Großbürger Dr. B. dieses Spiel, aber er kann es nicht spielen. Innerhalb dieser Novelle ist das schnelle Lernen des Schachs bei den beiden Protagonisten also durchaus logisch.

An dieser Stelle müsste man also die Diskussion führen, in wie weit es erlaubt ist, um der Logik der Geschichte willen die Realität zu verfälschen. Ein ewiger Diskurs in der Literatur.

Aber so, wie es im Schach Momente der Paradoxie gibt, gibt es sie auch in der Literatur. Folgen wir also dem Rat von Dr. B. Erwarten wir nicht zu viel von der Literatur. Eine heute weit verbreitete Annahme ist es, Literatur habe heilsame Effekte. Den hat sie nicht, den will sie nicht. Heilen müssen sich die Leser schon selbst.

 

06. Mai 2022

 

Du musst dein Leben ändern

Von Peter Sloterdijk

erschienen 2012

im Verlag Suhrkamp

 

Planet der Übenden

 

Der Mensch bringt den Menschen hervor (13), aber eben nicht durch „Arbeit an sich selbst“ oder durch „Kommunikation / Interaktion“, sondern durch Übung. Alle Ethik ist bei Sloterdijk eine Art Übung und ein Leben in Akrobatik und Artistik. Als Übung definiert (14) Sloterdijk jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird. Ein Leben in Wiederholung. Im 19. Jahrhundert wurde produziert, im 20. Jahrhundert reflektiert und in der Zukunft exerziert. Kultur ist nur „Hyperpopanz“ (15).

Aus der Wiederholung dieser Operationen entsteht das Gefühl von Sicherheit, das Sloterdijk dann „Immunologisierung“ nennt. Hier erkennt er nicht nur die rein biologische, unbewusste Immunologie, sondern ebenso eine Sozioimmunologie (juristisch, solidarisch, militärisch) und eine Psychoimmunologie (mentales Rüstzeug gegen das Schicksal, die Sterblichkeit etc.) (22)

Dies definiert Sloterdijk als Überlebensbedingungen bestimmter Kulturen und daher der durch Rilke inspirierte Buchtitel „Du musst dein Leben ändern“ als apodiktisch, und nicht als Aufforderung moralischer Art wie „du sollst...“.

 

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht somit der um seine Form ringende, sich im Training befindliche, mit sich selbst ringende Mensch (24)

Dazu stellt er so genannte Vertikalspannungen fest. Dies sind „Leitdifferenzen“ wie Vollkommenheit versus Unvollkommenheit, heilig versus profan, vornehm versus gemein, tapfer versus feige, mächtig versus ohnmächtig, Exzellenz versus Mittelmaß, Fülle versus Mangel, Wissen versus Unwissen, Erleuchtung versus Verblendung (28).

Diese Leitdifferenzen halten sich in jeweiligen Kulturen auf, wie z. B. tapfer versus feige im Militär, oder Fülle versus Mangel in der Ökonomie. Sie können aber durch Transferleistungen in andere Kulturen übertragen werden, und so entstehen dann Begrifflichkeiten wie „geistige Fitness“, wo Leitdifferenzen des Sports in den Wissensbereich wechselten.

Ohne diese Leitdifferenzen gibt es kein „absichtsvolles Üben“.

 

Rilkes Torso

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Anhand des Gedichtes ARCHAISCHER TORSO APOLLOS, das eben mit den Worten „du musst dein Leben ändern“ schließt, untersucht Sloterdijk den ontologischen Imperativ, der sich am besten in sportlichen Metaphern ausdrücken lässt. Zwischen Somatismus und Sozialismus – den beiden großen Bewegungen des 19. Jahrhunderts – hat sich laut Sloterdijk der Somatismus eindeutig durchgesetzt. Der Grund dafür: Die Selbstbezüglichkeit des Menschen. Später zeigt Sloterdijk auch, wie z. B. Sartre dem Blick des Anderen zu entkommen sucht. Der gesamte Existenzialismus, sowohl französischer Natur als auch deutscher Natur zeigt sich als selbstbezüglich, weil – und das liegt im Torso begründet – der Mensch defizitär gestaltet sei (etwas das Sloterdijk in Sphären III, Schäume zu widerlegen sucht). In allen möglichen Bereichen findet man den Menschen behindert vor, sei es in seiner Frühgeburtlichkeit, sei es in seiner Sichtbarkeit, sei es in seiner habituellen Ironie, die ihn an der Teilhabe hindert (Vertikalspannung zwischen Teilhabekompetenz und Zwang zu chronischer Eleganz).

Die Natur verlor ihre ontologische Autorität durch das menschliche Begehr nach Vollkommenheit. Ein defizitäres Menschenbild impliziert das jeweilige Streben des Menschen nach Vollkommenheit durch Einüben (Exerzitien). Ob das auf religiöser, sportlicher oder intellektueller Ebene geschieht, oder in ökonomischer, militärischer oder zwischenmenschlicher Ebene.

 

Nietzsches Antikeprojekt

Ganz in diesem Sinne geht es weiter mit Nietzsche, der Spätrenaissance, und der Genealogie der Moral. Die Antike stellt eine Art Tiefenzeit dar, die sich in athletischen Metaphern ausdrückt. Aber der Kreis hält die Linie zum Narren in der Arbeit an der eigenen Form. Die Teilhabe des Menschlichen am Göttlichen als gedachte Vollkommenheit impliziert ein rigoroses Melancholieverbot. Sich selbst in die Hand zu nehmen bis hin zum Überselbst, wird in dem Kapitel über den armlosen Geigenvirtuosen Unthat als Überwindung des Behindert seins erzählt. Der Gipfel des Erreichbaren als zur Norm gewordenen Anormalität.

 

Die Eroberung des Unwahrscheinlichen

In Form einer Höhenpsychologie stellt Sloterdijk ein „über“ in Aussicht (Überproduktion, Übermensch, Über-Ich, Supermarkt, Superheld). Es handelt sich um ein Hinauf auf einen Berg des Unwahrscheinlichen, des Unmöglichen. Der Mount Improbable wird zu einer Art Metaphysik der Artisten.

In diesem Sinn analysiert der Kulturphilosoph mit Hang zum großen Wurf die Wittgensteinsche Metapher der „Kultur als Ordensregel“, und den Ursprung moderner Kultur aus der Sezession. So gesehen handelt es sich bei Wittgensteins Sprachspielen um weitere Exerzitien, Übungen zum Berg des Unmöglichen. Die Täuschung Wittgensteins (worüber man nicht reden kann, sollte man schweigen) Sprache als Handeln zu deklarieren, wird von Sloterdijk überführt, handelt es sich doch um die Suche nach der Metasprache. Eine Art Trainermystifikation, die sich allerdings selbst nicht über den Weg traut. Schließlich darf man der Sprache wohl kaum trauen in ihrer Babelisierung, ihrer Vieldeutigkeit, ihrer Missverständlichkeit wegen. Bazon Brock formulierte es einmal sehr schön: Kommunikation sei bestenfalls konstruktives Missverstehen. Solcherart Handeln als Sprechen kann nicht wirklich ein Hinauf ermöglichen. Höchstens zufällig.

Auf ähnliche Weise wird auch Foucaults Diskursivität und Bourdieus Habitus Lehre (als Philosophie der Basislager konstruktiv kritisiert. Hinter der Sezession steckt schon die Spaltung in sich: Spaltung zwischen Gewohnheiten und Leidenschaften.

Daraus leitet Sloterdijk eine Art Klassengesellschaft von Übenden ab, die sich über sich selbst erheben wollen, und anderen, die in ihrer Trägheit bleiben und den Gewohnheiten des „guten Lebens“ frönen.

 

In den Exerzitien der Moderne entlarvt Sloterdijk die Moderne als propagandistisch, das Schlagwort der „Kultur“ als Komplex aus Gewohnheiten (501).

Zum wesentlichen Akku der Gesellschaft wird die metanoetische Haltung, die „Imitatio Christi“, die auch in der Aussage von Sigmund Freud steckt, wo ES war, soll ICH werden (497).

Gelingen mündet immer in höheres Gelingen, Erfolg in weiteren Erfolg. Der von der Soziologie als „Matthäus-Effekt“ bezeichnete Glückszirkel „ Wer kann, dem fliegt das weitere Können zu“ (Wer hat, dem wird gegeben, Matthäus 25, 29), passt hier vollständig in den Kosmos der Übenden, und des selbstbezüglichen Menschen.

Die Konversion führt zur Sezession und dann zum rembedding (510)

In dem Kapitel „Die Katastrophe vor Damaskus“ (474) zeigt Sloterdijk sehr eindrücklich, dass die Konversion des Saulus zum Paulus nicht den Menschen Saulus verändert hat, sondern der Mensch Saulus sich nur in den Dienst der neuen Sache stellte. Das Betriebssystem Saulus als Eiferer blieb erhalten. Spenglers Kritik, Konversion gebe es gar nicht, bekommt hier eine nachträgliche Berechtigung. Sloterdijk führt hier jedoch aus, dass die Einübung der neuen Gewohnheiten in der Konversion langfristig zur Veränderung führen.

Aber auch schon hier ist die Moderne sozusagen angelegt, und der Kreis narrt erneut die Linie. Denn ein Paulus muss irgendwann zum Comedius konvertieren.

Im Übungssystem der Religion werden also keine Probleme gelöst, sondern Überschüsse produziert (523). Ein Steigerungsverhalten, eine Unzufriedenheit mit dem Status Quo entsteht.

Innerhalb dieses Übungssystems des selbstbezüglichen, religiös geimpften Menschen wird auch die Geschichte zu einem „Kompetenzenfeld eines modernen Leistungskollektivs“ (529). Geschichte arbeitet sich am Einzelnen ab. Das Herausragen des Einzelnen (ich denke da an Helmut Kohl, der unbedingt in die Geschichtsbücher wollte) wird zum Akku der Gesellschaft.

Omnes omnia omnino (536) wird zum Wahlspruch. Der Mensch ist eine Welt. Er selbst eine Totalität die sich der Totalität unterstellt. Schon in der Aufklärung liegt also die Wurzel des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts.

Alles fließt aus eigenem Antrieb nach oben. In der Vertikalspannung unterstelle ich mich mir selbst.

In der brillanten Abhandlung über die maladaptiven Gesellschaftsformen und der Bewältigung der „fünf Nöte“ (ab 651), zeigt Sloterdijk, wie der moderne Mensch seine Leidensfähigkeit durch ein Wozu erweitert.

Materielle Knappheit, Lastcharakter des Daseins, sexueller Trieb, Entfremdung, Unfreiwilligkeit des Todes – dies die fünf Nöte, werden selbstbezüglich gemeistert. Der Hunger wird durch die asketische Tat der Passivität enthoben, der Lastcharakter des Daseins wird durch die sportliche Steigerung affirmiert (ich quäle mich noch mehr), die Triebspannung wird sublimiert, die Entfremdung durch Herrschaft wird durch eine gesteigerte Selbstunterwerfung negiert (ich unterwerfe mich dem Höchsten), wodurch ich mich jedem realen Herrn entziehe, und gegen das Sterbenmüssen wird der gute Tod vorbereitet (Jesus, Sokrates).

In der Moderne wird die Knappheit industrialisiert (Überangebot), der Lastcharakter arbeitsteilig (die einen leisten mehr, die anderen weniger), die Triebspannung dereguliert (sexuelle Freiheit), die Entfremdung zur anonymen Massenkultur und feindlosen Kooperationspolitik umgestaltet, und das Sterbenmüssen durch „postheroische Thanatologie“ ersetzt, womit Sloterdijk vermutlich auf die Biomedizin verweist und die damit mögliche Lebensverlängerung; komatös dazuliegen, ernährt und beatmet.

Dies sei das „silberne Zeitalter“, suboptimal und vielen nicht genug. Zudem sei es zu kompliziert und viele propagierten daher die Rückkehr ins „eiserne Zeitalter“.

 

Abschließend: Die starke Abhandlung über das Schulwesen und dessen Verfall in reine Selbstbezüglichkeit demonstriert noch einmal kernhaltig die Analyse Sloterdijks. Es wurde nämlich ein Paradoxon erreicht, indem der vollständig selbstbezügliche Mensch die Vertikalspannungen introjiziert hat. Der Schüler ist nur noch Schüler, der Lehrer nur noch Lehrer. Der Lehrplan selbst hat keine Einbettung mehr, keinen Auftrag außer dem zu lehren. Das Füllhorn des Wissens wird ironisch unbrauchbar und eine Sezession findet statt (Computerspiele und Datenmüll als Gegenkompetenz).

In der Kunst wird so nicht mehr der Prozess des Herstellens wichtig, sondern der des Ausstellens. Das Herzeigen des eigenen als das Herausragen über den nicht befriedigenden Status Quo. Die Welt wurde uns quasi zu klein für unsere Ansprüche. Aber sich zu reduzieren auf suboptimale Subjekte ist durch eine Jahrhunderte währende Propaganda des sich selbst steigernden Übungshabitus nicht mehr denkbar.

 

So ist es, wie oft bei Sloterdijk Lektüre: Der Analyse folgt die Irritation. Das Denken geht weiter.

Einem System wie diesem, das sich in seiner Selbstbezüglichkeit erschöpft hat, kann nur der Ausverkauf folgen. Der Derivatehandel und die damit verbundene Krisenhaftigkeit des gesellschaftlichen Habitus ist ein Symptom. Dahinter steckt nach Sloterdijk eine von der Antike bis in die Moderne ragende Propaganda des Hinauf. Wohin auch immer! Denn der Kreis narrt die Linie. Und so wurde die Artifizialisierung des Daseins zur logischen Konsequenz.

„Ferien ersetzen die Weltflucht“ (692) Unser vergebliches Strampeln nach einem Über oder Hinaus, einer nahezu aberwitzigen Hybris, widerspricht die Faktizität des Omnia. Wir sind so gleich wie ein Schwarm Amöben. Aber wenn wir uns als „Weltkind in der Mitten“ begreifen lernen und der Entzauberung Gutes abgewinnen, dann steht am Ende (vielleicht) Versöhnung von Geist und Leben. Was ist so schlecht daran, eine Amöbe unter Amöben zu sein? Und an die Stelle der Differenz tritt Vieldimensionalität.

Einst stiegen wir aus dem Fluss (Heraklit), um das Ufer zu erobern, doch nun gilt es – nach einer Erkenntnis von der Ufer-Illusion – in den Fluss zu steigen (den man eigentlich nie verlassen hat), um dieses ohnehin „In der Welt sein“ neu zu leben (denn keine Zeit und keine Macht zerstückelt, geprägte Form die lebend sich entwickelt).

Hier aber attestiert Sloterdijk gleichzeitig ein überreich an Übungsfelder gefülltes Schatzhaus (698) das uns vor der Banalität retten könnte.

Argumente für die Vielheit, für die Zerstreutheit, gegen die Sammlung, gegen die Einheit. Und gleichsam könnte Heideggers „In der Welt sein“ unsere metanoetische Einheit propagieren.

Dass Sloterdijk hier in seiner Summe den paradoxen Schluss zieht, muss ihm als so herausragender Kulturphilosoph bewusst sein.

 

 

27. April 2022

 

Pazifik Exil

Von Michael Lentz

Erschienen 2007 im S. Fischer Verlag

 

Die Manns, die Feuchtwangers, Arnold Schönberg, Alma Mahler-Werfel und ihr Franz, Brecht und Eisler, aber nicht nur die Namen: Brecht geht mit Hausschuhen zu Fuß auf eine Party und miesepetert herum, Alma Mahler hält Hitler für einen Supermann, Schönberg mufft über den von Thomas Mann missbrauchten Ohrensessel in dem einst Wagner himselve gesessen haben soll und dann Thomas Mann darin seinen Nietzscheaner Adrian Leverkühn schuf. Eine Mordsrecherche, die Lentz da geleistet hat und in den inneren Monolog der einzelnen Figuren montierte. Nicole Hennemann von der Frankfurter Rundschau meinte in ihrer Rezension, dass Lentz dadurch die Figuren „klein mache“. Aber genau darin ist der Witz angelegt, den der lose Blatt Roman von Michael Lentz auszeichnet. Die großen Superstars der deutschen Kulturgeschichte wurden aus dem eigenen Land vertrieben und in Kalifornien einer Sonne ausgesetzt, die ihren Glanz mit so viel Licht überschüttete, dass man ihn nicht mehr sehen konnte. Dies betrachte ich als den Mehrwert dieses Romans. Die Frage die dort aufgeworfen wird, ist, wie kann Kultur einen globalen Mastermind entwickeln? Oder ist ein solcher globaler Kultur-Mastermind einfach nur noch ein oberflächliches all inclusive? Eine Art „all you can eat“, nur noch eine Kulturmaschine, nur noch ein Fetisch.
Denke ich an Oskar Maria Graf, der in Lederhosen durch New York spazierte, wird in diesem Bild das ganze Ausmaß des Dramas offensichtlich.
Thomas Mann hatte sein Deutschland einfach im Kopf mitgenommen und setzte sich in den Ohrensessel, hörte Wagner und erfreute sich an seinem malaysischen Diener. Sein Bruder Heinrich ist dort wie eine traurige Primel eingegangen, wortlos geworden. Brecht hat es ebenfalls nicht geschafft in Amerika Fuß zu fassen.
Die ganze Groteske des Exils wird in den Szenen in den Pyrenäen überdeutlich. Die großen Dichter und Denker werden zur Kuriosität, zu nur noch schwitzenden, stöhnenden Alptraumfiguren. Darf man diese Tragödie mit so viel respektlosem Humor erzählen? Während ihnen Hitlers Bart bis in die kalifornische Wüste folgt?
Immer wieder störte ich mich an der Geschwätzigkeit der Figuren. Doch sprachlich ist der innere Monolog durchweg gelungen und das Problem ist, dass diese Figuren zunehmend sprachlos sind über ihre Situation und Sprachlosigkeit literarisch umzusetzen, das ist die Quadratur des Kreises.
In dem Kapitel über Arnold Schönberg (Ein Relikt) wird das überdeutlich. Ein Barbar bist du, ein Stammler, nur noch Vergangenheit in einem Land das nur Zukunft ist. In der Kulturmaschine Hollywoods gefangen sind sie Relikte, Ausstellungsobjekte in einem Yurassic-Park für deutsche Dichter und Denker. Die künstliche Wiederbelebung dieser Dinosaurier machte sie auch zu Monstern. Die Beschmutzung durch Hitlers Verbrecherstaat hat auch sie beschmutzt. Wo ich bin, ist Deutschland. Dieser ambige Satz von Thomas Mann könnte von jedem Exilanten egal woher er kam und wohin es ihn dann verschlagen hat, gesagt werden. Daher kommen sie nie an die Exilanten, Flucht ist damit eine endgültige Situation. Selbst zurückzukehren ist nicht möglich. Das Land das man verlassen hat, existiert nicht mehr, nichts ist mehr da, die Bienenstücke sind leer. Die Anpassung die man dann zu leisten hat in einer derart umgekehrten Welt (Krieg kehrt jede Welt immer vollständig um) kann nicht gelingen, denn sie zerreißt die Seele. Anpassung heißt dann nur: Funktionieren. So klebt man an der Vergangenheit fest, kann sie immer nur repetitiv hervorholen, mit den Armen flatternd, mit dem Oberkörper schaukelnd. Der Autismus des Exilanten, der in seiner Vergangenheit haust wie in einem Nirgendwo, hat nur noch eine negative Utopie.
Meiner Ansicht nach hat Michael Lentz dies darstellen wollen, dieses verloren sein, sprachlos sein. Deutsche Dichter und Denker aufgestellt wie Automaten in die man einen Penny wirft und dann dichten sie. Man muss dann einen Penny nachwerfen, um das Gedicht noch einmal zu hören. So wird sogar Brechts Marxismus nur noch als nostalgischer Automat funktionieren. Selbst seine Rückkehr in das geteilte Deutschland war dann nur noch Reminiszenz. Und die von Walter Ulbricht inszenierte Rückführung von Heinrich Manns Urne (er ist unser) belegt, dass nach dem Krieg nur noch eine Frage zu beantworten war: Wer darf sich der deutschen Dichter und Denker bedienen und sie instrumentalisieren.
Über 80 Jahre danach kann es wieder ein wenig gelingen, ihre Texte zu lesen. Hat sich der Professor des Leipziger Literaturinstituts hier noch einmal kräftig nach Lust und Laune einen postmodernen Spaß gegönnt? Wohl ja. Im Erscheinungsjahr 2007 war das Unterfangen postmodern zu schreiben selbst schon ein Relikt. Das erscheint dann zusätzlich wie ein Treppenwitz. Der Vorwurf des Voyeurismus ist in der einen oder anderen Rezension auch gefallen. Diese ehrwürdigen, musealen Dichter nackt ausziehen, ihnen beim Kacken zuschauen und mit dem Zeigefinger auf sie deutend sagen: Schaut mal, auch nur Menschen. Haben die Amerikaner die Exilanten so gesehen? Als Verwertungsobjekte? Als Kriegstrophäen?
Kulturgeschichtlich profitiert jedes Land von Exilanten nachhaltig. Die gesamte italienische Renaissance wäre ohne die byzantinische Fluchtbewegung nicht möglich gewesen. Um nur ein herausragendes Beispiel zu nennen. Macht Lentz also doch alles nur kleiner? Ist sein Kultur lokalisierender Aspekt kleingeistig? Thomas Mann wurde in den USA zum Demokraten. Das war er zuvor zweifelsfrei nicht. Heinrich Mann wurde dagegen in den USA zu nichts und von der ehemaligen DDR zum Kommunisten gereinigt und instrumentalisiert. Dabei war Heinrich zuvor der Demokrat unter den Brüdern. Brecht blieb Kommunist, Marxist. Und der Skandal um seinen Brief an Ulbricht über die Aufstände 1953 dokumentiert nachhaltig, dass Brecht seine Rolle überschätzte. Er war ein Ausstellungsstück für die DDR.
Die Frage die sich hier auftut ist dann zusätzlich: Sind nicht alle „Kulturschaffenden“ (das Wort wird immer noch benutzt, obwohl es ein Naziwort ist) irgendwann einfach nur noch Ausstellungsstücke? Oder Zitatemaschinen? Und jedes Zitat wird immer aus dem Zusammenhang gerissen und dient als Instrument der Rhetorik. So immerhin kann man Lentz nicht vorwerfen, er hätte Rhetorik betrieben. Denn der Vorwurf des Voyeurismus oder des „klein machen“ vertrüge sich nicht mit Rhetorikvorwürfen. Das wäre ein Widerspruch.
Im Erscheinungsjahr  dieses Romans  2007, stellte Steve Jobs sein iPhone vor. Ein weiterer Meilenstein in der Verfügbarkeit von Informationen. Und doch ist nicht alles automatisch verfügbar. So irrte sich Michael Lentz in einem kleinen Detail auf Seite 441. Denn das dort als Talmud-Gedicht zitierte Gedicht – wunderschön so oder so – stammt nicht aus dem Talmud, sondern von dem britischen Historiendichter Charles Reade aus dem 19. Jahrhundert (Jüdische Allgemeine, August 2018, Chaim Guski). Die Quelle meines Wissens ist also deutlich jünger und zeigt eines auf: Geschichte ist nicht nur eine Ansammlung von historischen Fakten, Chroniken, Tabellen, sondern ein historischer Text stiftet immer einen Bedeutungszusammenhang.  Und diese Bedeutung wird dem früheren Ereignis gegeben durch den Historiker. Die historische Erzählung unterscheidet sich von der literarischen Erzählung dadurch, dass die Ereignisse wirklich geschehen sind, formal aber erzählt werden. „History tells Storys“. Und so könnte man das ganze umdrehen in „Storys tells History“. Interessant ist also nicht: was dachte Arnold Schönberg wirklich. Vielmehr: warum hat ihn Lentz das denken lassen? Daher meine primäre These: Der Roman von Lentz ist eine Kritik an der Kulturmaschine und der Instrumentalisierung historisch gewordener Protagonisten.  

 

22. April 22

 

Das Muschelessen

 

Von Birgit Vanderbeke

Erstmals erschienen 1990

im Verlag Rotbuch

 

U-Boot-Film sage ich zu allem, wo gar keine Frauen oder Frauen nur als Statisten drin vorkommen. Ich mag das Genre, aber meistens sage ich nach einem U-Boot-Erlebnis: Wahrscheinlich wär’s noch netter gewesen, wenn’s nicht in einem U-Boot gespielt hätte. So Birgit Vanderbeke in einem Brief an den Sozialwissenschaftler und Gefängnispsychologen Götz Eisenberg. (So Götz Eisenberg auf Telepolis in einem Nachruf der am 24. Dezember 2021 verstorbenen Autorin)
Ihr erster Roman der 1990 im Rotbuch Verlag erschien, spielt jedenfalls nicht in einem U-Boot. Aber die Enge die darin geschildert wird, ähnelt in gewisser Weise der Enge in einem solchen Unterwassergefährt. Vanderbeke debütierte mit einem Textauszug daraus in Klagenfurt und gewann damit den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Im Zentrum dieser beinahe apologetisch wirkenden Abrechnung, steht der abwesende Vater. Er befindet sich auf einer Dienstreise und wird befördert zurückkehren. Derweil warten die Ehefrau und die beiden Kinder vor einem Topf mit klappernden Muscheln auf die pünktliche Rückkehr des Vaters. Während die Zeit fortschreitet und der Erwartete nicht kommt, entfaltet die Erzählerin in einer atemlosen, an die Romane von Thomas Bernhard erinnernden, Stimme den ganzen Schrecken einer Kleinfamilie, die von einem tyrannischen Mann beherrscht wird.
Das traditionelle Familien- und Rollenbild des dort geschilderten Tyrannen ist in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank aufgeweicht worden. Dennoch, machen wir uns nichts vor. Rückwärtsgewandtes Denken, das diesem veralteten Verständnis von Geschlechtern nachtrauert, gibt es heute an allen Orten. Über 80 AFD-Abgeordnete im Bundestag hätten gerne wieder so eine „richtige Familie“.
Der im Grunde erschreckende und düstere Text bekommt seine starke Wirkung aber vor allem durch den Humor. Kaum ein Punkt wird gemacht und so wird der Text unglaublich dynamisch. Zwar erfahren wir zum Ende nicht, was mit dem Tyrannen geschehen ist, warum er nicht gekommen ist. Die Mutter geht nicht ans Telefon. Der Bann ist am Ende gebrochen und daher macht es keinen Unterschied. Der Tyrann ist gestürzt. Ob er noch kommt oder nicht, spielt fast keine Rolle mehr.
Birgit Vanderbeke arbeitet mit Wiederholungen, mit dem musikalischen Stilmittel des Staccato. Zahlreiche Schalleindrücke ähneln einem Staccato in der Musik und werden deshalb gelegentlich mit dieser Bezeichnung charakterisiert, etwa ein atemloses oder abgehacktes Sprechen oder der Klang von Maschinengewehrfeuer. Als ein „Stakkato“ kann auch ein ungewöhnlich schnelles Aufeinanderfolgen von Ereignissen bezeichnet werden, die nichts mit Schalleindrücken zu tun haben, zum Beispiel „ein Stakkato aus Dekreten“ oder „ein Stakkato der Zumutungen“.
Während die Muscheln wie ein basso continuo alles verlangsamen, ihre Schalen sich unter Geklapper allmählich öffnen und den Verfall der alten Ordnung dokumentieren. Daher sind die Muscheln nicht nur Titel gebend, sondern auch stilistisch das wieder kehrende Bild einer unter dem Zwang harmonisierten Familie. Die kalten Hände der Mutter beim Zubereiten der Muscheln, die unterschiedlichen Positionen der Protagonisten zum Muschelessen (ich mache mir eigentlich nichts daraus) und am Ende ihre Entsorgung mit dem Schlusssatz, der Junge möge den Müll raustragen, all das liefert eine Kontinuität innerhalb der unterschiedlichen Aufzählung an Gemeinheiten des Tyrannen.
Dabei wird der Tyrann anfangs von der Mutter verteidigt, die sich schon auf ihn „umstellte“. Die Mutter dagegen zeigte immer Verständnis im Gegensatz zum Vater. Diese kontrapunktische Gegenüberstellung zeigt den Dissens der Familie. Die vertauschten Rollen, dass die Tochter eher einem Sohn gleicht und der Sohn verweichlicht ist, aber dem Tyrannen genau diese Vertauschung als Täuschung und Enttäuschung vorkommt, verweisen natürlich auf die Rollenklischees des Tyrannen und auf die Rollenklischees der alten Bonner Republik. Birgit Vanderbeke kam 1956 im südlichen Brandenburg (Dahme) zur Welt. Im Roman ist die Ich-Erzählerin zum Zeitpunkt des Muschelessens etwas über 18 Jahre alt. So könnte man den zeitlichen Ort der Geschichte Mitte der 1970er Jahre ansiedeln. Darauf verweisen auch die Langhaar-Frisuren der Kinder aus den „nicht richtigen Familien“.
Die Brutalität des Tyrannen gegenüber seinen Kindern, seine Rechthaberei, seine narzisstische Überzeugtheit von sich selbst, seine Ignoranz gegenüber seiner (älteren) Ehefrau, gegenüber der musischen Veranlagung seines Sohnes, es gibt nichts an diesem Mann, das liebenswert erscheint. Dadurch entsteht diese apologetische Wirkung. Beim Lesen dachte ich manchmal, ob ich jetzt die Verteidigung des angegriffen Tyrannen übernehmen sollte? Eine echte Herausforderung. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen, schämt sich seiner armen Mutter, bei denen es wie bei armen Leuten riecht. Er wird emporkommen, setzt dabei ganz auf die Naturwissenschaft, auf die Logik. Den Verweis der Tochter, dass Musik Ähnlichkeiten mit der Mathematik aufweise, lässt er nicht gelten. Der Tyrann ist ein klassischer Homo Faber. Doch seine Unfähigkeit oder Unwilligkeit auf Geld zu achten, zeigt ihn längst als eine sehr gebrochene Spezies. Während der klassische Homo Faber alles im Dasein auf die Sicherung der Existenz durch ein tätiges Leben reduziert (Max Scheler), ist der Tyrann in der Geschichte verschwenderisch und zur Existenz unfähig ohne seine den Haushalt führenden Frau. Der Haushalt bricht zusammen, wenn seine Frau (die Lehrerin ist) auf Klassenfahrt ist, oder im Krankenhaus. Der Tyrann kann eigentlich nur tyrannisieren.  So erinnert das politische Modell, das Vanderbeke in ihrem Roman (eigentlich Kurzroman, oder früher Novelle genannt) vorführt, an die frühe Form des absolutistischen Herrschers, der an seiner Dekadenz zugrunde geht. Die Abwesenheit des auf Dienstreise sich befindenden Tyrannen wird als angespannte Erleichterung geschildert. Ist der Tyrann abwesend „verwildert“ die Familie – wie es die Ich-Erzählerin schildert. Dabei aber arbeiten alle demokratisch zusammen, teilen sich den Haushalt willig untereinander. Sobald der Tyrann zurück ist, wird diese natürliche Ordnung sofort unterbunden und es herrscht wieder die Ordnung einer „richtigen Familie“, wie der Tyrann sie sich vorstellt.  Natürliche Ordnung versus Zwang. Eine weitere asyndetische (Asyndeton: nicht verbundene Aufzählung wie Lust und Liebe, Tod und Leben, Tag und Nacht
) Gegenüberstellung.

Inzwischen ist dieser über 30 Jahre alte Text fester Bestandteil der Schulbibliothek geworden.
Birgit Vanderbeke lebte bis zu ihrem „überraschenden Tod“ in Südfrankreich und setzte sich hier als überzeugte Feministen ein.

 

18. März 22

 

Der Überläufer

 

Von Siegfried Lenz

Erschienen 2016 im Verlag Hoffmann & Campe

 

Die Rokitnosümpfe liegen im Nordwesten der Ukraine, nahe der Grenze zu Belarus. Schon allein die Darstellung der Landschaft in der sich die Protagonisten dieses frühen Romans von Siegfried Lenz aufhalten, könnte aktueller nicht sein. Es herrscht Krieg, der Zweite Weltkrieg. Walter Proska landet nach einem Bombenattentat in der Waldesruh. Eine skurrile Landschaft und ziemlich skurrile Typen prägen den Roman, den der Verlag Hoffmann und Campe 1951 ablehnte, weil man dem Lesepublikum keinen „Überläufer“ zumuten konnte, und das Wort „Partisanen“ äußerst negativ besetzt war. In den 1950ern Deutschlands trafen sich die ehemaligen Soldaten, lasen ihren Landser und schwiegen, schwiegen eisern über ihre Erlebnisse, ihre Taten, die im Krieg getan werden und im zivilen Leben so abscheulich, so grausam klangen. In dieser Zeit war die Ehrlichkeit eines Walter Proska nicht angesagt. Dieser war im Krieg von Partisanen gefangen genommen worden, und erschießt zunächst den Bruder seiner polnischen Geliebten Wanda und dann seinen Schwager Kurt Rogalski. Erst sechs Jahre nach dem Krieg ringt er sich in einem Brief an seine Schwester Maria zu einem Schuldbekenntnis durch. Ein Geständnis, endlich reden, endlich diese schwere Last von Schuld verringern. Wobei im Krieg die Schuld selten beim Soldaten liegt. Aber das ist ein schwieriges moralisches Feld. Siegfried Lenz versteht es gut diese merkwürdig drückende Sumpflandschaft zu beschreiben. Sie erinnert an den Film „Stalker“ von dem russischen Regisseur Andrei Tarkowski aus dem Jahr 1979, der ebenfalls in dieser Landschaft spielt und Tschernobyl vorweggenommen hat. In Ton und Darstellung erinnert der Roman von Siegfried Lenz an den Antikriegsroman Schlachthof 5 von Kurt Vonnegut aus dem Jahr 1969. Vonnegut war der erste nordamerikanische Autor, der die Bombardierung Dresdens zum Thema nahm und eine geniale Metaphorik  über das PTBS entwickelte. Auch Lenz spart nicht mit metaphorischen Sprachmitteln. Der Kampf von Zwiczos (der später kein Wort für den Überläufer Walter übrig hat) mit dem Hecht wird zur Kriegsparabel (8. Kapitel). Krieg lässt sich kaum eins zu eins schildern. Man kann den Krieg nicht realistisch malen, man braucht immer einen verfremdeten Zugriff, als Expression oder Impression. Lenz wählt vornehmlich eine impressionistische Darstellung, zeigt die Details übergenau; die Figuren werden überzeichnet dargestellt, sie haben alle diese Überzeichnung benennende Spitznamen. Letztlich weiß der Leser nicht wirklich, warum Walter eigentlich zu den Sowjets überlief, sich als Marionettenbürgermeister einsetzen ließ. War es doch Feigheit? Oder eine Form der Lebensklugheit?
Mir selbst als Leser ist der Krieg so fremd. Ich bin in einem glückseligen Zeit- und Ortsfenster aufgewachsen. Und wenn derzeit die Kriegsbilder im Fernsehen gezeigt werden, Bilder einer brennenden Landschaft die wir in dem Roman von Lenz schon brennen sahen (lesend sahen, denn Lenz schreibt sehr sinnlich), bin ich schnell geneigt lieber ein schönes, abstraktes philosophisches Buch zur Hand zu nehmen, das mich in eine Logikdiskussion über die transzendentale Dialektik verwickelt und damit weit, weit weg von diesem Brandherd.

Daher, und nur daher hatte ich große Probleme diesen Roman von Lenz zu lesen. Im Fernsehen Krieg, in der Lektüre Krieg und auch noch die gleiche Landschaft der Ukraine!! 
Vielleicht noch eine gewisse Ferne zu Ostpreußen. Man darf hier nie aus dem Auge verlieren, dass Teile des heutigen Polen und auch der Ukraine einmal zu Preußen gehörte und dieses Preußen nach dem 1870er Krieg die Führung übernahm zur Gründung des deutschen Kaiserreichs, ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles. Teile der aktuellen Kriegsgebiete waren einmal preußisch. So stammt der wichtigste Philosoph des deutschen Idealismus und der deutschen Aufklärung aus dem heutigen Kaliningrad. Kant sprach deutsch und war ein Parade-Preuße sozusagen.  Lenz ist ebenfalls Preuße, kam am 17. März 1926 in Lyck zur Welt, das heute in Polen liegt und etwa 190 Kilometer entfernt von Königsberg (also Kaliningrad). Über den heutigen Emsland-Masuren und über diesen Menschenschlag hat Siegfried Lenz viel geschrieben. Die Gegend grenzt einerseits an Litauen und andererseits an das Oblast Kaliningrad.  Siegfried Lenz wurde 1968 mit seinem Roman „Deutschstunde“ berühmt. Auch dort geht es um das Spannungsverhältnis von Pflicht und Schuld. Zuletzt war der Roman wieder in der Diskussion gestanden, weil die Vergangenheit des dort als Max Nansen porträtierten Malers Emil Nolde neu gewertet wurde. Als Blumenbilder malenden Rassisten und Antisemiten, der trotzdem für die Nazis als entartet gewertet wurde, blieb Nolde dennoch ein überzeugte Nationalsozialist. Es mag eine besondere Lehre dieser Zeit sein, dass die Nazis sich derart in ihre eigene ideologische Lügenmatrix verstrickten, dass es naiv war zu glauben, man könne einfach so ein Nazi sein. Nicht ganz unähnlich ist das im System Putin. Die Wurzellosigkeit solcher Tyranneien lässt Anhängerschaft nur in Form der Sklaverei oder der bedingungslosen Unterwerfung zu. Und selbst dann ist man nie sicher vor der Willkür dieser Tyrannei. Denn die Hitler, Stalin, Putin oder Kim Jong Uns dieser Welt verachten das Recht und missbrauchen es für die eigene Agenda.

Aber zurück zu Lenz. Der „Volksautor“ schrieb immer zugänglich, dialogisch, sinnlich. Auch dieser noch sehr junge Lenz (1951 wohlgemerkt, da war Siegfried Lenz erst Mitte 20) lässt diese Fähigkeit bereits erkennen. Es war mir noch zu dialogisch. Aber ich schätze, da dieser Roman ja erst posthum erschien und Lenz das Manuskript an das Marbach-Archiv vererbte – ohne dass der Verlag Hoffmann & Campe davon wusste, ich denke dass daher viele Überarbeitungen vom sprachlich gereiften Lenz diesen Roman noch einmal verbesserten.

Abschließend: Mühsame Lektüre aufgrund der Umstände, aber ein wertvoller Roman, ein früher Antikriegsroman und ein weiterer Baustein zu den vielen Romanen die Lenz in seinem Leben geschrieben hat. Lenz starb am 07. Oktober 2014 in Hamburg. Er war viele Jahre mit dem SPD-Politiker und Altkanzler Helmut Schmidt befreundet und mit Marcel Reich-Ranicki auch. Überhaupt galt Lenz als für einen Schriftsteller ungewöhnlich umgänglich. Ein guter Mensch und ein Menschenfreund, so haben ihn alle beschrieben und gemocht.

 

18. Februar 22

Menschen im Hotel

Ein Kolportageroman mit Hintergründen

Von Vicky Baum

 

Erstmals erschienen im Verlag Ullstein 1929

Der Untertitel der Originalausgabe bezeichnet Hausierer, die mit einem Bauchladen voller Bücher durchs Land zogen. Folglich war der Kolportageroman sowas wie ein Groschenroman, billig und keineswegs hochwertig geschrieben. Vicky Baum liebte dieses französische Wort Kolportage, weil es ihrer Vorstellung von direktem Vertrieb entsprach. Heute würde man diese Art Romane in den Bahnhofsbuchhandlungen finden (wobei das auch schon wieder ein Klischee ist, denn in den Vertriebsketten der Verlage war ja auch schon ALDI oder LIDL im Gespräch) Aber wie das so ist. Wer erfolgreich ist, hat schnell Neider. Vermutlich war dieses ironische Spiel von Vicky Baum am Ende ein kleines Eigentor, denn sprachlich ist Vicky Baum eindeutig zu den großen Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts zu zählen. Schon aufgrund ihrer offenen Darstellung von Sexualität. Die Figur Flämmchen zwo ist in jedem Fall ein erotischer Genuss und an der Darstellung weiblicher Verletzlichkeit (der Grusinskaja) die zugleich ausgebeutet wird (Flämmchen zwo) können sich heute ambitionierte Autorinnen ein Beispiel nehmen.

Vicky Baum war nach ihrem ersten Werk Frühe Schatten bereits eine feste Größe im deutschen Literaturbetrieb. Ihr Roman über eine ledig schwangere Chemikerin von 1928 (Stud. chem. Helene Willfüer) machte sie schlagartig berühmt und berüchtigt. Sie wurde vielfach als unmoralisch angefeindet. Dazu kam auch ihr bereits mit 41 Jahren als äußerst bewegt zu bezeichnender Lebenslauf, war sie selbst doch da schon zweimal verheiratet gewesen. Ursprünglich galt Vicky (Hedwig) Baum als herausragende Harfenistin, die als erste Harfenistin und Frau ins Wiener Symphonie-Orchester aufgenommen wurde. Ihr literarischer Werdegang begann mit ihrer ersten Ehe mit dem Journalisten Max Prels, für den sie seine Texte regelmäßig zu Ende schrieb, da Prels nie rechtzeitig und termingerecht fertig wurde. Dank des hier vorliegenden Romans wurde sie in die USA eingeladen, es kam zu einer Romanverfilmung und Vicky Baum konnte so rechtzeitig das Land verlassen, ehe sie als jüdisch-stämmige und bei den Nazis als „Asphaltliteratur“ verschriene Autorin wohl ihr Leben in einem KZ beendet hätte. Asphaltliteratur, seit 1918 ein Begriff für nicht heimische, nicht verwurzelte Literatur, von den Nazis dann pejorativ gewendet als jüdische Schundliteratur. 1933 wurde für Vicky Baum ein so genannter Schandpfahl errichtet und ihre Werke verbrannt.
 Da Vicky Baums Romane viel in Hotels spielten, auf aller Welt (Bali, Shanghai, etc.), und sie selbst (bzw. Ullstein) mit dem Genre der Kolportage spielte, hatte der Vorwurf gewissermaßen eine scheinbare Basis. Aber Vicky Baum, erfolgreich und konstant erfolgreich, schrieb viel zu gut, zu hervorragend. Ich habe wohl noch nie über eine Wirtschaftskonferenz in einem Hotel derart spannend gelesen, wie in diesem Roman. Oder die Szene, als gegen Ende des Romans Kringelein seinem Chef , dem Generaldirektor Preysing eine ordentliche Standpauke gibt. Hier wankt alles zwischen Komik und Tragik und das ist hochmodern. Oder die Liebesnacht zwischen dem Baron und der Grusinskaja! Das ist außergewöhnlich erzählt und man kann das richtig spüren. Dabei verfügte Vicky Baum keineswegs über die stilistischen Neuerungen der Literatur (z.B. innerer Monolog, Bewusstseinsstrom). Aber ihr Geschick die Schicksale verschiedener Menschen kurz zusammenzubringen und sie dann wieder genau so geschickt voneinander zu lösen, sucht Ihresgleichen. Die Metapher der Drehtür taucht ja häufiger in dem Roman auf.  Und manche haben diese Art zu erzählen mit der Musik von Hindemith verglichen. Da Baum auch eine begnadete Musikerin war, ist das durchaus ein sprachlich musikalischer Roman, voll Rhythmus und (Hindemith) wechselnder Pedale.
Die Figuren sind modern und im Hintergrund steht auch der 1. Weltkrieg, von dem Otternschlag gezeichnet ist. Berlin in den 1920er Jahren, längst zum Klischee geworden (spätestens mit der Krimiverfilmung der Gereon-Rath-Romane von Volker Kutscher 2019), lebt hier sehr authentisch auf. Kolportagen mit Hintergrund eben. Im Vergleich zu den Gesellschaftsromanen dieser Zeit (zum Beispiel Die Schlafwandler von Hermann Broch, oder Der Untertan von Heinrich Mann) bleibt Vicky Baum im Kontext der modernen Sachlichkeit (Realitätsdarstellung, „das Wichtigste ist das Beobachtete) und  sie bezeichnete sich selbst als erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte
, was natürlich mit Ironie ausgesagt wurde. Denn tatsächlich beherrschte sie nicht nur ihr Handwerk sondern sie war eine herausragende Erzählerin. Überhaupt spielt die Ironie in Baums Texten eine wichtige Rolle. Es ist „sonderbar“ mit den Gästen, die Figuren sind durchaus auch komisch, tragikomisch würde man heute sagen. Der todkranke Kringelein, ein Hilfsbuchhalter mit einer Xanthippe verheiratet, der noch einmal leben will bevor er in die Grube steigt und dabei die Unterstützung des Baron Gaigern annimmt, der ihn eigentlich nur um dessen Erspartes erleichtern will, eine angegraute russische Balletöse, die in ihren einsamen Hotelzimmern lediglich eine teure Perlenkette zur Erwärmung hat, ein ängstlicher Geschäftsmann, der nur angeheiratet ist und sich selbst nichts zutraut, ein vom Krieg ziemlich demolierter und morphiumabhängiger Arzt, eine Sekretärin, die einen „guten Akt“ abgibt und ein Katzengesicht hat, kurz, die Figuren sind alles andere als seriös gezeichnet und genau das macht alle Figuren letztlich sympathisch. Vicky Baum wurde sogar noch in den 1950ern Biologismus und Homophobie vorgeworfen – was wohl ihrer Autobiografie geschuldet sein soll – das kann ich daher nicht beurteilen, habe ich nicht gelesen). Im Jahr 2009 gab es um ihren wieder aufgelegten Roman Vor Rehen wird gewarnt eine Debatte (geführt von Thea Dorn), die durchaus in die #metoo-Debatten überführen. Denn dort beschreibt Vicky Baum (immerhin 1951 erschienen) die systematisch ausgestellte weibliche Schwäche, die so zu einem weiblichen Herrschaftsinstrument gegenüber männlichen Überlegenheitswahns werden kann. Und das ist ja auch im vorliegenden Roman Menschen im Hotel mehrfach dargestellt worden, so in der einseitigen, auf ökonomische Nachteile ruhenden Beziehung zwischen Preysing und Flämmchen zwo. Man kann durchaus in den Schilderungen auch den schüchternen Preysing als Opfer sehen, der wie die Fliege ins Netz gerät… Aber zugegeben. Das ist nicht ganz unproblematisch, es so zu sehen.
Generell war der Feminismus in den 1920er Jahren weiter, als nach dem Krieg im religiös-fundamentalen Adenauer-Deutschland. Und heute? Zuletzt zeigte uns die irische Autorin Liz Nugent in ihrem Roman Kleine Grausamkeiten, dass Teile der Feminismus-Bewegung auf einen mediengeilen Event reduziert werden und über ein paar Twitter- oder Instagram-Posts nicht hinauskommen, die ein Girly-Wunder für Emanzipation ausgeben. Und nach wie vor herrscht männlicher Hintergrund in der Kolportage des Feminismus. Und der gute alte Geschlechterkampf ist immer noch sehr vergnüglich.

Vicky Baum habe ich nun tatsächlich zum ersten Mal gelesen – erstaunlich allein deshalb, weil ich diesen Namen lange kannte. Sie war die erste Autorin, deren Name mir entgegen kam, da war ich noch ganz klein. Mein Vater las sie mit Vergnügen und im väterlichen Bücherschrank hatte sie einen Ehrenplatz. Warum ich trotzdem nie einen dieser Romane las – ich weiß es nicht.

Aber jetzt habe ich das ja nachgeholt und bin darüber sehr froh.
Ach und noch nachträglich: Wie kam ich drauf? Vor kurzem recherchierte ich für eine geplante Vorlesungsreihe Literaturen der 1920er Jahre. So stieß ich auf Vicky Baum und erinnerte mich an die Lieblingsautorin meines Vaters.

 

 

16. Februar 2022

Kleine Grausamkeiten

Von Liz Nugent

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Erschienen im Verlag Steidl 2021

 

In Abwandlung des anarchistischen Schlachtrufs: „Die Familie ist die Keimzelle des Staates, sie gilt es als erstes zu zerstören“, bildete sich der Sponti-Scherz von der Familie als Keimzelle des Terrors. Aber ist die Familie nicht sogar der Terror selbst? Geht man von dem aktuellen Roman der irischen Autorin Liz Nugent aus, bekommt man ein wenig diesen Eindruck. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, William, Brian und Luke, die je nur ein Jahr auseinander sind, geboren Anfang der 1970er Jahre (William, der älteste der drei 1969). Der Vater ist ein Versicherungskaufmann, gediegener Mittelstand. Er stirbt früh. Die Mutter ist ein Waisenkind, aufgewachsen bei Pflegeeltern. Die Mutter Moll (Mellissa) hat sich aus der Armut gekämpft, machte eine Karriere als Sängerin und Showgirl, ist exaltiert, lebenslustig und keineswegs eine perfekte Mutter. Da sie abends oft Auftritte hatte, schlüpfte der Vater in die Mutterrolle und bekochte die Kinder. Aus dem ältesten der Brüder wird ein erfolgreicher Filmproduzent, der schließlich über seine Affären zu Fall kommt, der mittlere wird ein neurotischer Lehrer und der jüngste wird ein verrückter Teenie-Popstar. Erzählt wird die Geschichte der Brüder aus deren jeweiligen Perspektiven in der Ich-Form und in Zeitsprüngen zwischen 1975 bis 2018. Diese Zeitsprünge und die drei unterschiedlichen Perspektiven halten die Spannung aufrecht, denn man muss beim Lesen die jeweiligen Erinnerungen der Brüder stets zeitlich abgleichen. So entsteht ein transaktionsanalytisches Skript der jeweiligen Brüder in denen die Glaubenssätze, alten emotionalen Erinnerungen, gegenwärtige Ereignisse und Fantasien zu einem Plot führen. Jede Familie ist ein Kriminalroman. Zwar hat nicht jede Familie einen Mord oder einen Totschlag zu verbuchen. Aber Fantasien darüber hat in jeder Familie nahezu jedes Familienmitglied. Die klassischen Neurosen der bürgerlichen Familie, die durch innere Schuldkomplexe entstanden, hat noch der gute alte Sigmund Freud intensiv beackert.

Alles beginnt mit einer Beerdigung. Alle drei Brüder sind anwesend, einer von ihnen jedoch liegt im Sarg. Gegen Ende des Romans erfahren wir dann erst welcher der Brüder im Sarg lag und warum. „Es war ein plötzlicher Tod gewesen. Ein entsetzlicher. Die Ermittlungen kamen zügig zum Abschluss. Ich galt nicht als Verdächtiger.“ Dieser Satz auf der ersten Seite lockt uns auf die Fährte des Whodunit-Motivs klassischer Krimis. Der Roman firmiert zwar als Kriminalroman, ist aber ein Roman über eine dysfunktionale Familie. Ein femininer Vater, der zu früh stirbt; eine Mutter die ihre Liebe ungerecht verteilt und drei Kinder die einander hassen und doch nicht – Blut ist dicker als Wasser – voneinander lassen können.   
Wir wissen als Leser von Anfang an, dass einer der Brüder zu Tode kam, plötzlich zu Tode kam und nicht schön zu Tode kam. Aber wir wissen nicht welcher der drei es sein wird. Und bis zum Schluss könnte es wirklich jeder von ihnen sein und – nun ja – jeder von ihnen hätte es verdient. Also William, ein sexistischer Filmproduzent und das Lieblingskind seiner Mutter betrügt seine Frau Susan am laufenden Band, vergisst die Geburtstage seiner Tochter und hält sich selbst dabei auch noch für einen großartigen Vater. Brian, ein neurotischer Lehrer, der als Lehrer allerdings eine Niete ist und von allen Brüdern der erfolgloseste, ein Geizkragen und von Eifersucht geplagter Versager. Und schließlich Luke. Er ist ein abnormes Kind bei dem sich die psychotischen Elemente schon als Kind bemerkbar machen, spätestens als er bei einer Halloween-Feier als echter Jesus auftritt und sich dazu tatsächlich eigenhändig Wundmale zugefügt hatte. Ohne es bewusst wahrnehmen zu können, lebt er die Bühnenträume und Fantasien seiner Mutter nach. Geschickt montiert die Autorin auch die Rolle der Öffentlichkeit in den Plot. Wie das Privatleben mit dem öffentlichen Leben verschmilzt zeigt sich besonders dramatisch in den bösartigen Kommentaren über Daisy in den sozialen Netzwerken. Daisy Erbsünde von Kain und Abel. Erst spät im Text wird klar, dass Daisy tatsächlich nicht Williams Tochter ist, sondern die Tochter von Brian, ihrem Patenonkel. Eine drogeninduzierte Liebesnacht auf einem Konzert von Luke. William, der Geliebte von Susan befand sich zu dieser Zeit in London, vermutlich schon da im Bett irgendeiner Nachwuchsschauspielerin. Doch diese Nacht – das erfahren wir erst später, wird Daisy zum Leben erwecken. Susan heiratet William, der sich als stolzer Vater fühlt und seine Tochter heiß und innig liebt, sie aber dennoch zugunsten seiner Karriere und seiner Liebschaften vernachlässigt. All das kommt am Ende heraus. Es kommt heraus, dass Brian seinen jüngeren Bruder Luke über den Tisch gezogen hatte, heimlich Lukes Skandale an die Presse verkaufte, dass Brian der wahre Vater von Daisy ist. Und bedenkt man, dass Brian auch noch unter Verdacht stand, ein Pädophiler zu sein, der mit Daisy ein Verhältnis hat (da hielt sich William noch für ihren Vater und Brian für den Patenonkel), war ich geneigt Brian in den Sarg zu legen.
Dass es am Ende Luke wurde, ist aber logisch, denn er war von Beginn an das Opfer. Luke war der Liebling seines Vaters, er war Abrahams Sohn. Er musste geopfert werden, um Gottes Wohlwollen zu erkaufen. Und tatsächlich war es dann auch so.

Die irische Autorin Liz Nugent ist eine originelle Krimi-Autorin, die das Genre stilistisch durchaus erweitert hat. Es gelingt ihr gut, aus der Perspektive dreier Männer zu schreiben und offenbart die sexistische und frauenfeindliche Umwelt der Zeit vor #metoo. Dabei ironisiert sie auch den Feminismus als mediengeiles Event, als ausgerechnet Daisy, adipös (Stichwort bodyshaming!) und mit einer Gitarre bewaffnet den Titelsong zur Feminismusbewegung singt.

Der Roman ist routiniert übersetzt, wirkt vielleicht etwas zu glatt in der Übersetzung. Aber insgesamt war es ein spannendes und erhellendes Lesevergnügen.

 

 

11. Januar 2022

 

Die Straße der Ölsardinen

Von John Steinbeck

Erschienen erstmals 1945

 

Der Roman aus Steinbecks mittlerer Schaffensperiode ist vor allem durch die gleichnamige Verfilmung von 1982 mit Nick Nolte bekannt. Der Film ist eine Komposition aus dem Roman und dem Folgeroman „Wonniger Donnerstag“. Spätestens als ich diesen Film damals im Kino sah, war meine Liebe zu John Steinbeck unverwüstlich geworden. Daraufhin las ich jedes Buch von ihm.  Der Roman beginnt mit einem ökonomischen Lehrstück. Der Chinese Lee Chong führte in Monterey einen allseits beliebten Krämerladen. Nun bekam dieser Chinese Lee Besuch von einem bei ihm hoch verschuldeten Familienvater. Der Familienvater Mr. Abbeville schlug Lee einen Deal vor. Da Abbeville nicht wollte, dass sogar noch seine Kinder bei Lee verschuldet seien, übermachte Abbeville dem Chinesen sein Haus, um so seine Schulden zu tilgen. Lee schlug ein. Abbeville ging danach nach Hause und schoss sich eine große Ladung Schrot in den Mund. Lee besah sich nun das Haus von Abbeville, aber er wusste nicht, was er mit dem Haus anstellen sollte. Es roch auch unerträglich nach Fischmehl. Am folgenden Tag besuchte ihn Mack in seinem Laden. Mack hatte von dem leer stehenden Haus von Abbeville gehört und schlug Lee vor, Mack und seine Jungs (eine Bande Landstreicher) könnten doch in das Haus einziehen und es vor Vandalismus und Brandstiftung schützen. Lee überlegte eine Zeitlang, besah sich die Vor- und Nachteile, sagte dann: „Gerne, aber zahlt ihr auch Miete?“
„Aber klar“, sagte Mack und grinste.
Lee wusste natürlich, dass Mack nie Miete zahlen würde, aber dennoch sah Lee jetzt viele Vorteile. Er verlangte fünf Dollar Miete und Mack schlug ein.
Der Vorteil lag auf der Hand. Obwohl Lee nie einen Cent Miete zu sehen bekam, hörten Mack und seine Jungs auf, in Lees Laden Vorräte zu stehlen. Sie machten das jetzt weiter drüben in Salinas. Und so sparte sich Lee weit mehr, als die Miete je einbringen würde. Er war sehr zufrieden mit seinem Deal. Später lässt sich Lee noch einmal auf einen Handel mit Mack und seiner Bande ein. Diesmal werden Frösche zur Währung mit der Hilfe die Landstreicher bei Lee einkaufen, um ihrem geliebten Doc (im Film großartig von Nick Nolte gespielt) eine Party zu geben, zu der Lee natürlich auch eingeladen ist. Die Party geht schief, Doc’s Labor wird verwüstet, die Frösche verschwinden über Nacht wieder und Mack bekommt als Belohnung einen Kinnhaken vom Doc. Aber danach ist alles wieder gut. Auch wenn Mack und seine Jungs lange Zeit noch ein schlechtes Gewissen haben, was ihnen der Doc auch prophezeit. Der liebevolle Roman spielt in den 1930ern in Kalifornien, in Steinbeck-Country, wie man den Geburtsort von John Steinbeck heute nennt. Wir hatten ihn kurz auch in seiner Reise durch Amerika (Die Reise mit Charley) kennen gelernt. Es ist noch das alte Amerika, voller Not und Armut. Nach einer längeren Wirtschaftsdepression und dem schwarzen Donnerstag 1929 wurde ein paar Jahre später 1933 auch die Prohibition aufgelöst. Die Menschen waren zu arm, um auch noch auf Alkohol verzichten zu können. Aber es erscheint noch immer als ehrliches Land, indem Profit und Gier nicht die Rolle spielen wie heute. Man kann die fehlgeschlagene Party die Mack und seine Freunde für den Doc veranstalteten auch als eine Parabel auf die Wirtschaftskrise betrachten. Die Frösche haben als Währung nicht gehalten was sie versprachen. Am Ende ist es ein auf Pump aufgebautes Fest geworden, das nur Zerstörung hinterließ. In den Worten von Doc: „Alles, was wir am Menschen bewundern, Edelmut, Güte, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Anstand, Mitgefühl, Herz, führt in unserem Gesellschaftssystem nur zu Fehlschlägen. Während alle Eigenschaften, die wir angeblich verachten, Härte, Raffsucht, Selbstsucht und Charakterlosigkeit, zum Erfolg beitragen.“

In der Tat. So chaotisch Mack, Hazel, Eddie, Gay und Hughie auch sind, so unberechenbar, vor allem wenn sie ihren Old Tennisschuh trinken, so liebenswert sind sie auch in ihrem Bemühen, Gutes zu tun. „Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen; man könnte mit gleichem Recht sagen: Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer- es kommt nur auf den Standpunkt an.“  Sie sind im Großen und Ganzen harmlos. Doc ist ein gutmütiger, aber etwas schwermütiger Idealist und wurde nach dem Vorbild Ed Ricketts gestaltet, ein mit Steinbeck befreundeter Biologe. Nachdem sein Roman "Die Straße der Ölsardinen" zum Bestseller avanciert war, erhielt die Straße offiziell den Namen aus dem Buch. "Cannery Row ist mehr als nur eine Straße", heißt es darin, "es ist die Gegend der Ölsardinen und Konservenbüchsen, es ist ein Gestank, ein Knirschen und Knarren, ein Leuchten und Tönen, es ist eine schlechte Angewohnheit, ein Traum." Heute ist die Cannery Row die bekannteste Straße in den USA, nachweislich wird sie von mehr Touristen besucht als der New Yorker Broadway. Die meisten lassen sich vor der Steinbeck-Büste ablichten, um sich dann ins Vergnügen der Shoppingcenter, Souvenirläden und Lokale zu stürzen, die sich in den früheren Fischfabriken breit gemacht haben.

Dass sich Amerika verändert, das hat Steinbeck schon in seiner „Reise mit Charley“ höchst prophetisch geschildert. Aber wenn man „Die Straße der Ölsardinen“ liest, versteht man dieses Traumland noch ein wenig mehr. Als Steinbeck Vietnam bereiste und den Krieg bejahte, wurde er einige Zeit angefeindet. Dennoch: Er blieb „der“ Schriftsteller Amerikas. Kaum ein anderer konnte das Lebensgefühl dieser Einwanderer-Gesellschaft, diese Unruhe und die Hoffnungen so erzählerisch auf den Punkt bringen. Steinbecks Großvater stammt noch aus Düsseldorf und kämpfte im Bürgerkrieg auf der Seite der Konföderierten mit. Wenn man an den Maler Henri denkt, der weder Henri heißt, noch malt, weil er ein Boot baut, das nie fertig wird und das nie das Meer befahren wird, dann ist das die Kernerzählung dieses Landes. Henri liebt die Frauen, doch er ist auch froh, wenn sie ihn wieder verlassen, weil ihnen seine Koje einfach zu eng ist. Doch Steinbeck entlässt uns nicht ohne den Schrecken, den Horror: So wie die junge, weibliche Wasserleiche die Doc entdeckt und für deren Entdeckung er eine Belohnung bekäme – die der ehrliche Doc aber ablehnt. Und es wimmelt von Tieren  und von Natur. Aber auch hier spielt (wie der Pick-Up Rosinante), ein Auto eine eigene Rolle, diesmal ein T-Ford, ein Klassiker, ein Modell, das quasi die Identität Amerikas darstellt. Und  dieser Wagen lässt sich tatsächlich noch reparieren. Weit, weit weg von unserer Wegwerfgesellschaft ist das Leben zwar rau, aber auch unglaublich beschaulich. Wenn demnächst jemand über das Kabel stolpert und versehentlich den Stecker zieht, dann werden wir über einen T-Ford wieder sehr, sehr glücklich sein und Steinbeck zu Ehren einen Truthahn überfahren.

Rufen Sie einfach an unter

 

Arwed Vogel

++49 ( )8762 726121

 

oder

 

Bernhard Horwatitsch

017646130019

horwatitsch[at]gmx.at

...

 

oder

 

nutzen Sie unser

 

Kontaktformular.

Druckversion | Sitemap
© Literaturprojekt