Literaturprojekt
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Neue Streifschüsse

Wann immer nötig, schnell und aus der Hüfte geschossen

 

 

Streifschuss vom 22. Dezember 23

 

Anlass: spiritibus pugnant variis lux atque tenebrae

 

Psychomachia

 

Immer wieder nehmen sich die Zeitungsjournalisten ein Thema der sozialen Devianz vor, um es schlecht zu machen. Zum Beispiel wird oft gegen den Alkohol geschrieben. Was haben die Leute nur gegen das Glück? Schließlich wurden viele Kinder im Glück gezeugt und es gibt nichts Schöneres auf der Welt als einen Rausch. Bier und Brot waren im Gilgamesch-Epos die Urbedingungen der Zivilisation. Wer kein Bier trinkt, ist wie ein behaartes, nacktes Tier (wie einst Enkidu). Man spricht von einem rauschenden Fest, einem rauschenden Glück, weil der Rausch für die Fülle unseres Lebens steht. Oder sie schreiben über die Gefahren des Rauchens. Der erste Wutbürger kam zeitgleich mit der Nikotin-Prohibition zur Welt und das zeigt doch, wie oft die Zigarette einen Wutausbruch verhinderte. Wie viele Amokläufe fanden nicht statt oder wurden vorzeitig beendet, weil der Delinquent eine rauchen wollte. Und in letzter Zeit scheinen sich die Journalisten verschworen zu haben, um gegen die Einsamkeit zu wettern. Einsamkeit sei schlecht, ungesund und was weiß ich noch alles. Der Einsame wird nur weiter unter Druck gesetzt und fühlt sich jetzt auch noch schlecht, nur weil er einsam ist. Dabei ist nichts erstrebenswerter. Kein Geschwätz mehr erdulden müssen, all diese Idioten, die alles besser wissen, einem drein reden und was aufschwätzen wollen; all diese Trottel ist der Einsame los geworden. Als Einsamer kannst du dich zurücklehnen und tun was immer du willst. Niemand stört sich daran, wenn die Wäsche liegen bleibt, der Abwasch nicht gemacht ist, man selbst nicht geduscht ist. Der Einsame spart viel Geld zu Weihnachten, setzt sich weniger Viren aus, lebt also tatsächlich gesünder und kann sich ganz seinem eigenen Pläsir widmen. Und Nachteile gibt es keine. Der Busfahrer kutschiert, so er nicht streikt, auch den Einsamen. Auch beim Einkaufen fällt niemandem auf, dass der ältere Herr mit dem dunklen Mantel ein Einsamer ist. Er wird bedient wie jeder andere auch. Sogar das Finanzamt schickt Post an den Einsamen und die Stromabnehmer zählen jede Kilowatt exakt genauso wie bei den Geselligen. Die Geselligen dagegen müssen sich ständig gegen die Unterdrückung wehren, kommen nie zu Wort, obwohl sie jetzt auch gerne mal was sagen würden. Solche Probleme hat der Einsame nicht. Der Einsame kann immer sprechen, wann immer er will. Dass ihm niemand zuhört? Das hat der Einsame mit den meisten Geselligen gemein. Wer hört denn noch irgendwem zu? Gerade die Journalisten, die derzeit die Einsamen so anprangern, können doch davon ein eigenes Liedchen singen. Niemand, wirklich niemand hört noch auf die Journalisten. Und wenn jemand auf die Journalisten hört, dann nur, um sich über sie zu ärgern. Der Einsame hat nie Ärger, streitet sich nie, lebt friedlich und in Ruhe. Abwechslung gibt es genug, auch ohne die lästigen Mitmenschen. Also bitte! Saufen, rauchen und alleine bleiben. Das wären die drei Grundbedingungen für den Weltfrieden, den gerade die Geselligen immer laut fordern. Dabei ist die geselligste Veranstaltung die es gibt, der Krieg. Einsam, zurückgezogen und unauffällig in seiner Miethöhle leben. Die höchste Kunst des Daseins. 

 

Streifschuss vom 09. Dezember 23

 

Anlass: Eins und Eins ist Merzahl

 

Der Dung in der Bildung

 

Deutschland ist pleite und was man nun gar nicht gebrauchen kann sind auch noch dumme Kinder. Vor allem – oh Wunder – können unsere Kinder nicht rechnen. Jetzt sind die Politiker etwas ratlos. Denn sie erkennen selbst: Woher sollen die Kinder das lernen? 100 + 100 ist eine Million Sondervermögen. Das lernen die Kinder von tiktok. Und wie man sich korrekt schminkt. Die wenigen Mathe-Lehrer zerbeißen sich an der Trigonometrie aus dem 17. Jahrhundert die Lippen beim Versuch sie den Pubertieren beizubringen. Es gibt auch intelligente Kinder. Sie haben reiche Eltern, die rechnen können. Die Rechnung der reichen Eltern geht so. Wenn ich clever bin, kann ich die armen Leute ausnehmen und am besten kürzen wir noch deren Sozialbezüge und verwandeln diese in Firmenzuschüsse, damit die Wirtschaft wächst und ansonsten scheißen wir auf den Planeten und den Rest der Welt. Und so wird die Armut ausge-Merzt. Wegschauen. Eine Merziade. Und das einzige, was den Verantwortlichen dazu einfällt ist der Spruch „wir können uns die Bildungskrise nicht mehr leisten“. Die Bildungskrise wird nur noch als ökonomisches Desaster betrachtet.  Der Mangel an Bereitschaft, sich anzustrengen, um Wissen zu erwerben wird analog verglichen mit dem Kontostand der Eltern. Das ist die eigentliche Bildungsmisere in diesem Land. Wissen wird nur noch als Wissen verkauft. Hat man genug Geld, kann man sich ja das Wissen kaufen. Es ist logisch und eine kluge Entscheidung von Kindern, dass sie sich sagen, dass Schule nicht lohnt, wenn man an einem guten Tag mit einem clever eingefädelten Drogendeal locker ein Jahresgehalt erwerben kann. Scheiß auf die Bildung, wenn sie dich nicht reich macht. Fachkräftemangel? Wozu malochen? Abziehen ist die Devise. Den ganzen Tag auf der Straße rumlungern und hin und wieder ein Sondervermögen abziehen von einem dieser Looser, diesen Nerds. So machen es die Lindners und Co ja auch. Scheiß auf die Armen, kürzen wir die Sozialbeiträge, ficken wir die armen Rentner, diese Versager, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Was für Idioten. Hätten sie mal nachgedacht und eine Bank ausgeraubt. Dann bräuchten sie keine Sozialhilfe. Siehe Merz. Siehe Scholz. Deutsche Bildung? Goethe? Schiller? Die Faust im Gesicht und die Glocke am Arsch. Die Illusion eines Landes. Die aktuelle Hitlerjugend kann nicht richtig lesen, nicht richtig rechnen. Wozu auch? Man muss nur auf die richtigen Knöpfe drücken können und dann fließen die Dollars von alleine. Bildung ist Luxus. Und den können wir uns nicht mehr leisten. Also: diese Bildungsmisere ist ein logisches Ergebnis unseres ökonomischen Lifestyles. Geile Klamotten, das neuestes Handy, alles kann man abziehen. Das ist kein Diebstahl, das ist ökonomischer Sachverstand. Jeder Drogendealer auf der Straße kann rechnen. Wozu sollte er in die Schule gehen. Und die weltfremden Intellektuellen mit ihrer idiotischen Pisastudie haben ihre Statistik von den Loosern und den Nerds erstellt. Geht mal auf die Straße! Nicht in die Schule. Dann seht ihr: Deutschland holt auf, wird zunehmend zum Marktführer in Sachen Kriminalität und Sondervermögen. Der Frühling! Der Merz kommt.

 

Streifschuss vom 01. Dezember 23

 

Anlass: Die üblichen AFD Wähler

 

Die verdrossenen Volksgenoss*innen

 

Die neue Rechte rekrutiert sich zu einem gar nicht so unerheblichen Teil aus den alten Linken Spät-APOisten. Es ist meine Generation, die mit kommunistischer Muttermilch aufgezogen und mit esoterischer Limonade entwöhnt wurde. Das sind die 1980er Jahre der späten Babyboomer. Diese Generation bummelte sich durchs Leben und merkt jetzt, dass ihnen die Karrieren geklaut wurden, dass sie ver-Kohl-t wurden und dabei ein wenig helmutierten. Sie werden von einer Haltung aus Oppositionslust und Skepsis getragen, haben neuheidnische Konzepte in ihren Köpfen inkludiert, sie hassen den Papst und die Kirche, lieben aber Russland und wünschen sich heimlich wieder einen Krieg gegen Frankreich. Gealterte und arbeitsunfähige Lehrer (Sport, Mathe und Deutsch) tummeln sich zum Schweinefüttern bei der AFD und dokumentieren himmelschreiend den Untergang des Abendlands und den Exitus des Humanismus. Sie sind im Grunde alle Nazis mit Abitur. Studienräte! Schon an diesem Wort kann man leicht ersticken. Sie haben kulturelle Offenheit aus den falschen Gründen erlernt, haben sich von den Amerikanern immer schon als erobert gefühlt und die Schutzmacht als Kolonialmacht verstanden, sie haben daher die Mimikry kolonisierter Untertanen angenommen und hörten die Beatles nur, weil sie die Kolonialmacht imitierten. Es wird wieder teutsch gesprrrochen. Man hört schon den Konsonantenmarsch aus den alten, faltigen Naziärschen furzen. Es sind diese in die Jahre gekommenen ewigen Studenten, die sich bereits seit Jahrzehnten vornehmen, die Bücher die in ihrem Regal stehen endlich einmal zu lesen, sobald sie nicht mehr täglich ins Büro müssen, in die Versicherungsanstalten, die Finanzämter, die Ingenieur-Büros, in die  wo auch immer diese 30 Prozent AFD-Wähler arbeiten und ihre Angstschweiß besetzten Brötchen verdienen. Es ist diese grau gewordenen Stubenhocker und Bilanzenfälscher die auch ihre eigene Lebensbilanz konsequent zu fälschen verstehen, diese Leute sind es, die das Land beerdigen werden und die auch noch alle Rente haben wollen. Und all die Bücher dann doch nicht lesen werden (fast müsste man sagen: Gott sei Dank), weil sie schon am ersten Rententag nahezu vollständig verblöden oder ihnen ihre eigene Dumpf- und Blödheit schlagartig bewusst wird. Lauter kleine Hitlers und Goebbels, lauter Himmlerarschgesichter, lauter vom Humanismus halb tot geprügelte, die man allgemein als „Volk“ bezeichnet. Gefährlicher ist da die Jugend, die nicht mal der Humanismus vor ihrer Dummheit bewahren kann.

Streifschuss vom 24. November 23

 

Anlass: Deutschland ist total schuldenfrei

 

Glaube kommt von Gläubiger

 

Natürlich versichert die Presse uns, dass Deutschland kein Schuldenproblem habe. Und lügt uns direkt an. Das ist aber gar nicht die Schuld der Presse. Die bekommen ihre Informationen von Leuten, die wiederum die Journalisten anlügen und diese Leute wurden von anderen Hintermännern angelogen.  2500 Milliarden Schulden sind nun kein Pappenstiel. Und das macht immerhin fast 4000 Euro Schulden pro Sekunde zusätzlich. Also zusätzliche Verschuldung Deutschlands ist pro Sekunde so viel, wie ein akzeptables Monatsgehalt. Das soll also kein Problem sein? Deutschland ist nahezu schuldenfrei. Was sind schon 2500 Milliarden Euro? Tja, 1930 fürchtete man einen Staatsbankrott und zusätzlich war die NSDAP zweitstärkste Kraft in Deutschland. Diese beiden Faktoren führten zu einer Kapital- und Kreditflucht aus Deutschland und damit zur Bankenkrise. Und diese führte uns dann direkt in die Diktatur. Und diese direkt in den Krieg und dieser Krieg direkt in den Ruin. Kein Wunder also, dass man honorig versichert, Deutschland habe kein Schuldenproblem. Sobald man alle Asylanten rauswirft, bekommt man erstens wieder einen Zahnarzttermin und zweitens verhindern wir den Staatsbankrott. Wer es glaubt!

In meinem Kopf und das ist ein ganz gewöhnlicher Kopf, ist AFD gleich NSDAP. Das ist natürlich Unfug. Denn in der AFD sitzen nicht nur Rassisten, sondern neoliberale Rassisten. Das heißt, denen ist alles scheißegal. Die interessieren sich nicht mal für ihr eigenes Land. Ihr Rassismus dient ihnen nur als Lock-Instrument. Viele Menschen mögen Fremde nicht, die Nachbarn, die Tante, den Busfahrer, die Passantin die einem die Vorfahrt nimmt, lauter Fremde. Und die neoliberalen Rassisten der AFD (nomina sunt odiosa) – klingt auch ähnlich wie FDP – nutzen den allgemeinen Missmut der Menschen, ihre allgemeine Überforderung mit allem Möglichen in dieser modernen Welt, um dieses Land zu kapern. Das ist nichts weiter als eine Geschäftsübernahme die uns durch die AFD blüht. Und wir sind die Idioten, die das dann wählen. In zehn Jahren sprechen wir uns wieder. Da ist Deutschland ruiniert worden von der AFD. Von skrupellosen Geschäftsleuten, die sich in allen Parteien tummeln und heimlich die AFD unterstützen, wie zum Beispiel Christian Lindner. Oder Olaf Scholz, oder Friedrich Merz. Skrupellos, ignorant, oder einfach überfordert? So oder so. Es geht immer schneller bergab. Da ich bereits ziemlich weit unten bin, ist das unangenehm, weil das ganze Gewicht dieses Landes auf mich zurast und immer schneller wird. Und ich kann zuschauen von unten, wie die AFD-Rassisten von oben anschieben und das Land weiter in die Katastrophe führen. Putin wartet schon. Aber Putin muss sich womöglich mit Herrn Nehammer (oder wie immer der Dödel heißt, der unser Nachbarland ruiniert) einigen. Bayern nach Österreich, Sachsen, Brandenburg nach Russland, Saarland nach Frankreich. Und übrig bleibt ein deutsches Kernland. Die Badener. Ein Ministaat als Steueroase für den Rest Europas. So lautet der geheime Plan der AFD. Dann setzen sich diese Rassisten nach Argentinien oder Jamaika ab und genießen bekifft ihr steuerfreies Sondervermögen, das auf einer Karlsruher Nummernbank aufbewahrt wird. Sie glauben mir nicht? Dann ist das hier ein Text für die Historiker. Oder einfach nur eine morgendliche Paranoia an einem dunklen November in dem alliterierend das Novum ja drin steckt. Novus rex. Nova lex.

 

Streifschuss vom 23. 11. 23

 

Anlass: Beilagen-Hysterie und Körperkult

 

In einem gesunden Körper steckt oft ein doofer Geist

 

Die Denkfeindlichkeit der Moderne zeichnet sich durch übertriebene Hoffnung auf Vegetarismus aus. Viele glauben, es hätte einen Einfluss auf unser Denken, ob wir ein Käsebrot oder ein Schinkenbrot essen. Als hätte ein Schweinskotelett oder ein Schnitzel die Kritik der reinen Vernunft verhindern können. So viel Bullshit muss man heute aushalten. Die Christen verneinten den Leib und sahen ihn nur als einen Gekreuzigten gerechtfertigt, die Hedonisten und Langstreckenläufer halten das Gehirn für einen Zusatz für ihre Beine. Es ist erschreckend, wie das dann durch vermeintlich auf Fakten basierende Ernährungsstudien gefüttert wird. Mal war es gut, Eier zu essen, es galt sogar einige Zeit als Heilmittel gegen Rheuma. Nüsse sind Brainfood und Blaubeeren haben angeblich einen Einfluss auf meine Stimmung. Nun. Meine Stimmung wird mehr durch das Finanzamt oder durch Seminarteilnehmer in meinen Kursen beeinflusst, als durch Blaubeeren. So viele Blaubeeren kann ich gar nicht essen, um mir so manche menschliche Dummheiten via Verdauungstrakt wieder auszutreiben. Das Gehirn sieht zwar wirklich ein bisserl wie ein Darm aus. Aber wir sind längst über Analogie-Schlüsse eines Jakob Böhme hinaus. In erster Linie braucht das Gehirn Zucker und Fett. Würde man es unter dieser Lupe betrachten, wären Karotten und Broccoli nicht wirklich förderlich für mein Gehirn, sondern lediglich Beilagen, um besser defäkieren zu können. Aber da Karotten und Broccoli mithelfen, meinen Blutzuckerspiegel zu regulieren, hat mein Gehirn auch was davon. Aber nicht jede Karotte kommt oben an. Denken ist immer noch eine Kulturleistung und man kann sich die Kritik der reinen Vernunft nicht erfressen. Man muss das Buch von Kant immer noch lesen und dazu viele Sekundärliteratur verarbeiten, um diesen Kant zu begreifen. Wenn da ein Schnitzerl dazwischen kommt, was soll es? Kurz und gut. Heute übertreibt man es gehörig mit dem Körperkult und entsprechend dumm sind sie, die Langstreckenläufer und Sportskanonen unserer Tage. Jedes Interview mit einem Fußballer zeigt das. Und das nachhaltig. Denn viele dieser Fußballer bleiben nachhaltig auch nach Karriere-Ende ziemlich dumm. Dafür gibt es genug Beispiele. Krankheit und Gesundheit sind keine reinen Gegensätze. Sie sind ondulierende Zustände. Es gibt keine vollkommene Gesundheit und der vollkommen Kranke ist meist in dem Augenblick seiner Vollkommenheit mausetot. Also ist Ernährung weiterhin das, was es immer schon war, eine Frage des Geschmacks und der Bedürfnisse. In erster Linie dient Ernährung dazu, mich satt zu machen. Wer Hunger hat, kann schlechter denken. Wer voll gefressen ist, kann auch schlechter denken, weil der Körper mit Verarbeiten zu tun hat und das Gehirn macht erst mal Pause, wenn der Darm dran ist. Wie immer und ewig ist daher das Maß die Wahl der Wahl. Doch welches Maß kann man ansetzen? Das Mittelmaß. Und ob ein Body mit einem BMI von 40 schlechter denkt, als einer mit BMI 25? Das wollen wir erst mal sehen. Wer viel liest, läuft naturgemäß weniger. Das ist einfach eine Frage der Zeit. Wer ständig in der Gegend rumläuft, um seinen überschätzten Body zu trainieren, kommt kaum zum Lesen. Ein kleiner Spaziergang vor oder nach der Lektüre ist immer noch eher zu empfehlen, als ein Marathon-Lauf, der seinen Namensgeber immerhin das eigene Leben kostete.

 

Streifschuss vom 09. November 23

 

Anlass: immer wieder überlegen

 

Besser-Wisser

 

Der Revolutionär sagt: Siehst du unsere siegreichen Truppen? Der Intellektuelle sagt: Ich sehe nur brennende Dörfer.

 

Der Vorgang ist immer ähnlich. Ein Staat hält sich für überlegen, marschiert in einem anderen Land ein, weil es ihrer Ansicht nach dringend zivilisiert gehört. Mal war es das Christentum, heute ist es die Demokratie und die angeblichen Werte wie Menschenwürde und Freiheit, die dem unterlegenen Land offenbar fehlen. Trotz Gegenwehr der so Überfallenen, baut die vermeintlich überlegene Macht ihren Einfluss aus. Man spaltet das überfallene Land in die, die mitmachen und sich dem Einfluss der fremden Macht anschließen (gelockt durch diverse Belohnungen) und die, die ihre alten Traditionen wahren wollen und sich überfallen fühlen, weil sie ja auch überfallen wurden. Mit Hilfe von polizeilichen Maßnahmen und strukturellen Veränderungen (christliche Schulen, Schulen nach Vorbild der so genannten Aufklärer) werden die sozialen Verhältnisse verbessert. Aber dies geschieht nur durch Gewaltanwendung. Der Graben in der indigenen Bevölkerung wird vertieft. Dann ziehen die Kolonialisten wieder ab, weil sie ihre eigenen Ressourcen schonen müssen und die Besatzung nicht mehr genügend Gewinn abwirft, um die Kosten dafür vor dem eigenen Volk zu rechtfertigen. Sobald die Besatzer abgezogen sind, geht das zurückgelassene ehemals besetzte Volk selbst aufeinander los. Mission failed?

Man kann dem sich für überlegen haltenden Aggressor nicht immer vorwerfen, sie handelten aus Eigennutz und Gier. Einige sind wirklich überzeugt, sie täten das Richtige. Von außen betrachtet sah das überfallene Land wirklich nicht gut aus, war offenbar rückständig, hatte keine funktionierende Ökonomie, nahm nicht teil an der großartigen Welt des Wissens, die Menschen lebten in Armut und Unterdrückung. Von außen sah es so aus. Ja und es ist sicher so. Die Menschenrechte wurden nicht eingehalten, die Rechtsprechung war willkürlich, die Entwicklung des Landes von der Welt abgehängt um hundert Jahre. Warum wehrten sich die Menschen gegen die Segnungen der Zivilisation? Nicht alle wehrten sich. Das zeigt doch, dass der Einsatz richtig war, oder? Diejenigen, die sich gegen die Segnungen der Zivilisation wehrten und weiter wehren, das sind doch die alten Machthaber, die Unterdrücker und ewig gestrigen Traditionalisten dieses armen Landes. Davon wollten wir sie doch befreien, rufen die Kolonisten. Befreiung durch Besetzung? Befreiung durch Überfallen? Es ist ein spieltheoretisches Dilemma. Denn die sich überlegen fühlende Nation war einst auch so, wie die, die sie überfallen haben, um ihnen die gleichen Segnungen zu schenken. Aber auch bei der sich überlegen fühlenden Nation hat es viel Zeit gebraucht, um überlegen zu werden. Und gar nicht selten gehörten die überlegenen Nationen einst zu den unterlegenen Nationen und wurden ihrerseits überfallen und belehrt.  
Das verursacht mir nicht selten einen gewissen Weltschmerz. Denn leben und leben lassen ist schwer. Zuzusehen, wie andere leiden und man hat das Heilmittel, darf es ihnen aber nicht aufzwingen, das ist nicht leicht auszuhalten. Zumal wir auch wissen, dass viele das Heilmittel ersehnen. Sie wollen den neuen Gott, die neuen Werte, weil sie Besserung versprechen. Doch die Mächtigen fürchten den neuen Gott, die neuen Werte, weil sie ihnen die Macht nehmen. Dabei nicht der Versuchung zu erliegen, einfach die fremden und uneinsichtigen Mächtigen tot zu prügeln, damit das Heilmittel endlich an die Bedürftigen verteilt werden kann, diese Versuchung juckt einem in den Fingern. Es ist in der großen und der kleinen Geschichte so. Ob Kollektive aufeinander los gehen oder Individuen, das macht nur strukturell Unterschiede. Mit dem Gefühl der Überlegenheit auf andere loszugehen, auch wenn man es gut meint, führt in der Regel zu Spannungen und nachtragenden Wunden. Und irgendwann, irgendwann wird sich der Unterlegene erheben und mit seinen nachtragenden Wunden zurückschlagen.

 

Streifschuss vom 03. November 23

 

Anlass: ist die bayrische Landesregierung noch legal?

 

Bayern als Alternative für Gesamtdeutschland

 

Man kann es förmlich riechen. Es ist bald wieder so weit. Die neuen Ritter aus echtem Stahl wurden ja schon von der Süddeutschen Zeitung porträtiert. Ein wenig zugespitzt und pointiert sieht das so aus:

Oskar Atzinger, langjähriges Mitglied der Republikaner und Oberfeldarzt in Reserve. Ein lupenreiner Demokrat. Franz Bergmüller, lange Jahre bei der CSU, ein Metzger aus Feldkirchen, will die Wirtshauskultur Bayerns erhalten, wo man noch rauchen darf. Unverdächtig, die AFD selbst sieht in ihm keinen richtigen Nazi. Martin Böhm, strammer Nazi und Höcke-Fan. Anne Cyron, deutsche Witwe, sie wünscht sich dringend einen Bürgerkrieg in Deutschland. Katrin Ebner-Steiner, stramm völkisch, fürchtet, dass Bayern in ein multiethnisches Siedlungsgebiet umgewandelt und von geschlechtsneutralen Cyborgs regiert wird. Richard Graupner, ein Hauptkommissar gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verrat von Dienstgeheimnissen. Er ist Höcke-Fan. Ingo Hahn, ein Professor der Zoologie, früher weltoffen und ökologisch, wird vermutlich in der Zukunft die neuen Rassengesetze definieren. Uli Henkel, ein Jurist, wird vom Verfassungsschutz beobachtet, weil er zu Gewalt gegen Ausländer aufgerufen hat. Stefan Löw, ein Polizist der sich bereits im Alter von 27 Jahren in den Ruhestand begab, weil er mit Flüchtlingen nicht mehr arbeiten könne. Roland Magerl, ehemaliger Sozialdemokrat, trägt gerne T-Shirts der Marke Ansgar Aryan mit einem Adler als Rückenaufdruck und dem Schriftzug „Patriotic Ink“. Christoph Maier, ein Jurist und Reserveoffizier der den III. Weg gehen will, den das verbotene rechtsradikale Freie Netz Süd propagiert. Er ist – raten Sie, genau: Höcke Fan. Ferdinand Mang, Jurist, ehemals CSU, trifft sich gern mit Freunden der FPÖ. Höcke Fan. Gerd Mannes, ein Gemäßigter. Jan Schiffers, Jurist und Höcke-Fan. Ulrich Singer, ein fließend russisch sprechender Jurist, könnte in der Zukunft die K-Lager leiten in der zurückeroberten Ukraine. Ralf Stadler, macht gerne Fotomontagen mit Politikern weshalb die Generalstaatsanwaltschaft schon mal Strafantrag gegen ihn stellte. Und Andreas Winhart, allgemein bekannter Rassist der besonders Enissa Amani hasst. Da er ein bisschen ausschaut wie Woody Allen hobelt er sich wahrscheinlich heimlich einen auf sie. Und sehen kann er sie leider nur vor Gericht.

 

Insgesamt ist die Liste übel. Richtig übel. Und Söder von Kahr muss nun schauen, was er mit seinen neuen Spitzbuben macht, die alle ordentlich gewählt wurden. Ich muss jetzt aufhören. Ich muss kurz kotzen gehen.

Streifschuss vom 09. Oktober 23

 

Anlass: Bayern, Bayern

 

Es waren glückliche Zeiten

 

München. Eine grüne Insel inmitten eines schwarz-braunen Haselnuss-Freistaates. Ansonsten wählten ein Drittel der Bayern Faschisten oder deren Sympathisanten. Ein Teil der Politiker im frisch gewählten bayrischen Landtag haben in so manchem Lokal Haus- und Redeverbot (Ebner-Steiner zum Beispiel), aber nicht im bayrischen Landtag. Ein Schweine schlachtender Antisemit, ein Höcke-Anhänger, eine faschistische Kuh, eine stabile Mehrheit für national gesinnte, völkisch denkende (wenn man das überhaupt Denken nennen kann) antidemokratisch eingestellte Gruselpolitik. Und Chef von allem ist ein Blatt im Wind, ein söderndes Fähnchen, das an der letzten Fahnenstange der Demokratie mit seidenen Fäden aufgehängt mehr wabert als weht.
Gott im Himmel! Während Israel angegriffen wird, wählen die Bayern so. Aber trotz dieser Gruselwahl wachte ich heute Morgen auf und öffnete die Fenster und sah die gewohnte Straße, die gewohnte Straßenbahn tuckerte vorbei, von dem noch immer nicht abmontierten Wahlplakat lächelte ein Wahlverlierer von der FDP zu mir herüber. Die Welt scheint sich weiter zu drehen. Und die Sozialdemokraten! Grade mal so über die Fünfprozenthürde gekommen. Was für eine unglaubliche Zahl. Achtkommafünf Prozent. Vor zwanzig Jahren erreichten sie noch dreißig Prozent! Es ist erschütternd, dass die Farbe Rot in Bayern vollständig verschwunden ist. Ein Land ohne soziales Gewissen. Nur braune Hügel, von Kuhscheiße bedeckte schwarze Felder, und ein kleiner grüner Kunstpark in dem die guten Bürger Papierdrachen steigen lassen.

Eine Welle aus kleinbürgerlichen Westentaschen-Despoten überschwemmt das flächengrößte Land Deutschlands. Vor 105 Jahren gründete Kurt Eisner diesen Freistaat und die reaktionären Kräfte machten aus München die Stadt der Bewegung. Diesmal kommt der Faschismus aus den alten keltischen Dörfern, wo die ewig Gestrigen, geistig zurückgebliebenen Polit-Agenten von AFD und Freie Wähler aus ihren Baumschulen kriechen und dumpfdreiste Reden schwingen. Bayern ist deutscher Meister und hat die niedrigste Kriminalitätsrate Deutschlands. Sogar den Verbrechern ist dieses Land zu braun. Was für eine Wahl! Ach Bayern, wie anders als du noch voll Unschuld aus dem vergriffnen Büchelchen Gebete lalltest, halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen. Bayern. Wo steht dein Kopf? In deinem Herzen welche Missetat? Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen, lagert euch umher, mich zu bewahren! Bayern! Mir graut’s vor dir.  

Streifschuss vom 27. September

 

Anlass: 19 Monate Krieg

 

Argumentum ad pacem

 

Wenn man in einen bestimmten sittlichen Bereich eintritt, erhebt die dort herrschende Moral stets einen Anspruch auf absolute Gültigkeit. So sieht es zumindest Immanuel Kant. Man kann also nicht „ein bisschen“ verheiratet sein. Und ebenso wenig – das sollten deutsche Politiker endlich einsehen, wenn man sie nicht für völlig schwachsinnig halten wollte – ebenso wenig kann man „ein bisschen“ Krieg spielen. Deutschland ist Kriegspartei. Da können sich noch so viele Meinungsmacher sträuben, das anzuerkennen. Aber es ist ein simpler Fakt. Und es spielt keine Rolle, ob deutsche Soldaten oder deutsche Gewehre russische Soldaten töten. Nach nun 19 Monaten Krieg zwischen Russland und Ukraine kann man durchaus von einer europäischen Erfolgsgeschichte sprechen. Es war kaum zu erwarten, dass die europäische Front so fokussiert blieb und sich einheitlich gegen Russland positionierte, und die Ukraine so lange stand halten konnte. Auch wenn derzeit die eine oder andere Front (Polen, Ungarn) bröckelt, so ist es bislang eine strategische Meisterleistung. Aber ist es auch eine moralische Meisterleistung? Es geht darum, ob man Krieg als politisches Durchsetzungsmittel akzeptiert oder nicht. Wie gesagt: Krieg kann man nicht nur ein bisschen haben. Und auch wenn deutsche Politiker gerne damit kontern, der Krieg sei von Russland unter Putins Führung ausgegangen, so ist nicht Deutschland, sondern ein unabhängiges Land namens Ukraine angegriffen worden. Es gab keinen ersichtlichen Bündnisgrund für Deutschland, Kriegspartei zu werden. Also hat die deutsche Politik mehrheitlich beschlossen, Krieg als außenpolitisches Mittel zu akzeptieren. Hätte man das nicht – und nicht wenige Europäer finden nach wie vor, dass Krieg kein politisches Mittel ist, und deshalb noch lange keine Putin-Versteher (ohnehin ein propagandistische Monster-Unwort) sind – dann wäre Deutschland keine Kriegspartei, sondern Friedenspartei die sich ohne Waffeneinsatz, ohne Leben zu gefährden, gegen die russische Aggression stellt. Das wäre anfangs auch ein Weg gewesen. Inzwischen würde der Friedensweg Deutschland isolieren, was weiter zeigt, dass Kant Recht hatte. Betritt man einen gewissen Bereich, dann ist die Moral immer absolut. Deutschland ist damit absolut im Krieg. Deutsche Politiker verwenden gerne die Kriegstrope: Gewalt sei die einzige Sprache, die Putin verstehen würde. Das ist eine sehr traurige, sehr aphasische Scheinerkenntnis, die nicht automatisch den Schluss zulässt, dass man diese angebliche Putin‘sche Sprache auch sprechen muss. Immerhin geht es nicht nur um moralische Fragen. Man kann ohnehin anzweifeln, dass Waffengewalt, dass Panzer, Gewehre, Raketen moralische Fragen lösen könnten. Eher werfen solche Waffen neue moralische Fragen auf. Wie lange dauert es, bis Waffentechnologie zum Einsatz kommt, deren Zerstörungskraft uns allen die Luft zum Atmen nehmen wird. Und abgesehen davon, geht es vor allem auch um geopolitische Ziele, um Europas Kornkammer, um Natoosterweiterung, um Erweiterung der westlichen Einflusssphäre. Es ist kein reiner Verteidigungskrieg. Das Argumentum bellum hat Putin geliefert, ja. Daran besteht kein Zweifel. Aber viele Gegenargumente hat man nicht gelten lassen, bevor sich Europa recht bereitwillig und mit Hilfe der USA (deren moralische Integrität nicht gerade vorbildlich ist) in das Kriegsabenteuer stürzte. Auch wenn Russland am Ende besiegt wird (was zu bezweifeln ist, es wird auf einen Erschöpfungsfrieden hinauslaufen), auch ein Sieg über den großen Bären wird keine moralisch Rechtfertigung sein, sondern weitere und womöglich noch gewaltigere Probleme hervorrufen. Was geschieht mit einem verunsicherten Riesenreich wie Russland? Dieser Krieg wird mehr, viel mehr Probleme verursachen, als Lösungen.
Ein weiteres Argument deutscher Politiker ist die Behauptung, auch Hitlers Terrorstaat hätte man mit Friedenspolitik nicht beseitigen können. Wieder ein Argumentum bellum. Ein ziemlich perverses Argument, zumal die größten Opfer für den Sieg über den Faschismus Russland verzeichnete. Geschichte ist kein Feld der Logik, sondern ein Feld der Irrationalitäten und die zunehmende Verstrickung der Welt in diesen Bruderkrieg zwischen Russland und Ukraine ist ein solches irrationales Feld. Mittlerweile sind die Friedensstimmen  zum Hilfeschrei geworden. Die Zahl der Toten übersteigt längst die so genannte Kriegsdividende. Es gibt schon jetzt nichts mehr zu gewinnen. Alle verlieren im Krieg. Und Helden sind am Ende immer tot.

Schon jetzt ist dieser Text von mir gefährlich, weil er die Kriegsmoral zersetzt. Durchhalteparolen sind jetzt das Mittel der Wahl.

 

Streifschuss vom 21. August 23

 

Anlass: Was ausser der Natur das höchste Wesen ist, Das bist du, wenn du dich ohn Leib und Sinnen siehst.

 

Wenn man alles wegdenkt

Der im „Anlass“ zitierte und aus Koischwitz (damals Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, heute Polen) stammende deutsche Barock-Dichter Daniel von Czepko Reigersfeld dichtete einmal in seiner Sexenta monidisticha sapientum: „Vor mir war keine Zeit, nach mir wird keine seyn, mit mir gebiert sie sich, mit mir geht sie auch ein.“
Von dem wunderbaren Skeptiker (pyrrhonische Schule) Sextus Empiricus (5. Jahrhundert) gibt es eine Paradoxie, mit der dieser die eben zitierten Dichterzeilen bereits vorweg nahm. Sextus Empiricus widerlegte so die Existenz von Zeit. Die Gegenwart, meint Sextus Empiricus, ist entweder teilbar oder nicht teilbar. Unteilbar ist sie nicht, sonst gäbe es keine Vergangenheit von der sie kommen könnte, noch eine Zukunft an der die Gegenwart anschließen könnte. Teilbar ist sie aber auch nicht, sonst gäbe es nur ein Davor (Vergangenheit) und ein Danach (Zukunft). Die Zeit existiert somit nicht. Da Vergangenheit und Zukunft nicht existieren, existiert die Zeit nicht.

Bei Schopenhauer heißt es Jahrhunderte später in seinem berühmten Werk über die Welt als Wille und Vorstellung: "Die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, ist eigentlich nur die Gegenwart,  nicht Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntniß da, sofern sie dem Satz vom Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann." 

Weiter schreibt Schopenhauer: "Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft: oben aber der untheilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart: wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist." 

Buddhaghosa schreibt etwa zur Zeit des Sextus Empiricus dazu in einer Abhandlung (Weg der Reinheit):  "Streng genommen dauert das Leben eines Wesens so lange wie ein Gedanke. Wie ein Wagenrad, indem es sich dreht, die Erde nur in einem Punkt berührt, so dauert das Leben so lange wie ein einziger Gedanke." 

Weiter heißt es dort: "Der Mensch eines vergangenen Moments hat gelebt, lebt aber nicht und wird nicht leben; der Mensch eines zukünftigen Moments wird leben, hat aber nicht gelebt und lebt nicht; der Mensch des gegenwärtigen Moments hat nicht gelebt noch wird er leben." 

Borges wiederum fasst das in seiner Widerlegung der Zeit so zusammen: "Die zeitliche Sukzession leugnen, das Ich leugnen, das astronomische Universum leugnen sind scheinbare Verzweiflung und geheimer Trost." 

Die Zeit ist ein Fluss der mich davon reißt. Ich aber bin die Zeit. Die Zeit ist ein Tiger der mich zerfleischt. Ich aber bin der Tiger. 

Und Agelus Silesius dichtete im 17. Jahrhundert ganz in der Tradition seines Vorläufers Daniel von Cepko im cherubinischem Wandermann: "Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen, so geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen." 

Dass all dies im Leid geschieht, in der Realität? Entsetzlich sind dabei nicht die Unwirklichkeit, sondern die Unumkehrbarkeit und die eisernen Gesetze nach denen diese Illusionen sich vollziehen. Denn es ist nichts unmöglich. Es gibt eine Quadratwurzel aus -1 oder ein rein hypothetisches Tier (Hermann Lotze).

Esse est percipi. So wie der Bischof von Cloyne, nach dem eine ganze Stadt in Kalifornien benannt wurde (Gen Westen geht Britanniens Weg) es einmal klar formulierte, können wir nur von Dingen sprechen, die wir wahrnehmen, sei es in der Vorstellung, sei ist in der Wirklichkeit, die aber auch nur einer Idee der Wirklichkeit entspringen. Wir sehen, hören, riechen nur Eigenschaften dessen was ist. Bezogen auf unsere Zeitwahrnehmung, nehmen wir die Zeit als vergehend wahr. Zeit ist daher nicht absolut. Und Einstein hat das mathematisch bewiesen. Wahrnehmen kann ich nur den Moment in der Zeit und schon ist er wieder weg und er ist unwiederholbar weg. Das Kontinuum nehme ich auch nur im Moment war, indem ich Texte lese, die ich gestern schrieb, Bilder betrachte, die vor langer Zeit gemalt wurden, Filme ansehe, die gedreht wurden. Zu jeder Zeit nimmt jeder etwas wahr. Aus der Summe dessen bauen wir uns eine Welt aus Geschichte und Geschichten die wir uns dann immer wieder erzählen, neu erzählen. Keine dieser Geschichten ist vergangen, sofern sie jemand liest. Doch sie sind immer wieder neu durch den Moment der Wahrnehmung, der als einziger zu existieren scheint. Und der Moment ist sofort wieder weg. Der Moment ist ein Gespenst. Und in dieser Hinsicht muss ich mich nicht sorgen. Der geheime Trost des Skeptikers liegt in der Abwesenheit von Allem. Der irische Philosph Berkeley zeigt uns auch, dass das Gehirn auch nur ein sinnliches Ding ist. Es gibt kein Ich in uns, das beobachtet. Es ist lediglich Vorstellung des Moments. Und dieser Moment - den Berkeley noch als geistig existent begreift – existiert gar nicht, weil er viel zu flüchtig ist, zu akzidentiell. Nur die Summe aller Momente suggeriert uns Substantielles. Alles wurde nun weg gedacht. Nur? Was denkt? Es denkt. Denken wir daher David Hume und George Berkeley zusammen. Hume leugnete ein Subjekt hinter der Wahrnehmung wechselnder Zustände. Das angebliche Subjekt ist bei Hume nur noch ein System fluktuierender Ideen (so argumentierte auch der schottische Pfarrerssohn Alexander Campbell Fraser). Berkeley dagegen leugnete, dass es einen Gegenstand jenseits der Sinnesempfindungen überhaupt gebe. Zusammen ergeben die Theorien nichts mehr. Der Gegenstand und das den Gegenstand wahrnehmende Subjekt lösen sich in wechselnden Wahrnehmungs-Sukzessionen auf und werden zu nichts weiter als einem Fluss aus Falten, Knicken, Schleifen, Schwingungen. Das ist das moderne Universum des Hyperraums. Wir sind strukturiertes Nichts geworden. Einst Kinder von Engeln und Göttern. Heute ist der Mensch lediglich eine Kuriosität des hypergalaktischen Raums in dem Dinge geschehen, die sich jeder verständlichen Theorie entziehen. Wir kommen nicht umhin, dieses allumfassende und unbegreifliche und nur scheinbar Existierende als Gott zu bezeichnen. Auch Spinozas Gott existiert nicht und gerade das ist Gott. Alles weg gedacht? Es bleibt eine Leerformel übrig die nur zwei sich widersprechende Konsequenzen hat: Entweder alle Religion ist purer Unfug. Oder alle Erkenntnis ist purer Unfug. Wenn wir Gott und Erkenntnis negieren, müssten wir uns ohne Spuren vollständig auflösen. Das ist es, was uns am Ende unseres Lebens widerfährt. Was allem widerfährt, widerfahren ist und widerfahren wird: Nichts.

 

Streifschuss vom 18. Juli 23

 

Anlass: Othering

 

Die Fremdmacher sind selber fremd

 

Der polnische Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem meinte einmal: sollte er in zwei Worten über sich Auskunft geben müssen, so würde er sich als einen enttäuschten Weltverbesserer bezeichnen. Die Welt, ach die Welt.
Sie ist unverbesserlich. Jüngst sagte eine prominente Politikerin, dass im Osten Deutschlands wohl einige noch nicht in der Demokratie angekommen seien. So etwas nennt man heute Othering. Und dieses Othering gegenüber dem deutschen Osten wurde schon von Stellvertretern jeder Partei im Westen Deutschlands von sich gegeben. Man möchte gar nicht wissen, was diese Eliten von uns - mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit pendelnden - Wählern sonst noch halten, und welche Meinungen die Polit-Prominenz uns verschweigt. Denn sind wir ehrlich. Die Menschen die in den westdeutschen Großstädten leben, fahren zur Arbeit, dann kaufen sie Zeug ein, verbrauchen das Zeug, fahren wieder zur Arbeit, kaufen wieder Zeug ein und verbrauchen das Zeug wieder. Auf diese Weise konsumieren sie bis zum Schluss, dann wird noch die Rentenversicherung und Pflegeversicherung bis auf die Knochen abgenagt. Unter welchen politischen Führern die westdeutschen Großstädter ihr Leben verbrauchen, ist den meisten nicht von allzu großer Bedeutung. Der Unterhaltungswert der Politik liegt unterhalb dem Unterhaltungswert einer mittelmäßigen Netflix-Produktion. Der Unterschied besteht darin, dass die meisten Netflix-Produktionen vor dem Ende eingestellt werden müssen, weil das Geld fehlt, die Schauspieler abspringen, die Einschaltquoten sinken und die Konkurrenz um Sendezeit zu groß geworden ist. Die Politikserie läuft trotz mangelnder Quoten, trotz mangelnder Qualität, trotz horrendem Mangel an Geld (immerhin 2400 Milliarden Euro Gesamtschulden) einfach weiter. Im Osten Deutschlands interessieren sich die Leute noch für Politik. Das ist erstaunlich. Dass sich der ostdeutsche Durchschnittsverbraucher gerade für die Politik interessiert, für die er sich nicht interessieren soll? Nun, dazu möchte ich Laurence Sterne zitieren:

Es ist ein besonderer Segen, daß die Natur das Gemüt des Menschen mit derselben glücklichen Abgeneigtheit und Widerspenstigkeit gegen Überzeugung ausgestattet, wie man an alten Hunden bemerkt, - daß sie keine neuen Kunststücke mehr lernen wollen.
In welch einen Federball würde der größte Philosoph, der jemals gelebt, sofort verwandelt, wenn er nur solche Bücher lesen, solche Tatsachen beobachten und solche Gedanken denken würde, die ihn beharrlich veranlaßten, seinen Standpunkt zu wechseln.


Nach 50 Jahren Autoritarismus, nach 50 eingemauerten Jahren! Ich bitte Sie, verehrte Kritiker und ihr lieben, sanftmütigen Weltverbesserer. Was denken Sie?  Während der ostdeutsche Verbraucher durch Subsistenz überlebte, war der westdeutsche Verbraucher ein glücklicher, fleißig arbeitender Konsument und all die Jahre ein Bürger ohne Fehl und Tadel. Da sich die Welt nicht verbessern lässt, und wir alle sehr an unseren Überzeugungen hängen, und es ein großes Durcheinander gäbe, wenn der ostdeutsche Verbraucher plötzlich der bessere Demokrat wäre, wo kämen wir da hin, in welchem Durcheinandertal würden wir da auf einmal leben. So belassen wir es beim guten Othering in wechselseitigem Hass. Alles andere ist nur eine zusätzliche Überforderung. Tolerant, nicht-binär und politisch korrekt, wie der westdeutsche Elite-Politiker nun einmal ist, bleibt der westdeutsche Politiker überzeugt von seiner Demokratie. Wir fahren zur Arbeit, kaufen Zeug und verbrauchen das Zeug und fahren dann wieder zur Arbeit. Mehr kann man von einer Demokratie nicht verlangen.
Also: Lieber Stanislaw Lem, du musst nicht enttäuscht sein. Es wird alles gut. Am Ende entscheidet der Filialleiter unseres geliebten Lidl, Aldi, REWE, EDEKA wie es weitergeht.

 

Streifschuss vom 06. Juli 23

 

Anlass: Die dunkle Seite des Mondes

 

 

Nazis vom Mond

 

Vor 90 Jahren wurde ein nettes, mitteleuropäisches Land von den Faschisten gekapert und in gut zehn nahezu vollständig vernichtet. Dann sind die Faschisten wieder verschwunden und die guten Demokraten haben es wieder aufgebaut, dieses nette, mitteleuropäische Land. Und jetzt sind sie wieder zurück gekommen, die bösen Faschisten. So lautet die Erzählung. Die letzten 70 Jahre lebten die letzten überlebenden Faschisten hinter dem Mond, versteckten sich dort, nisteten, brüteten. Jetzt sind sie wieder so viele, dass sie zurückschlagen können. Anfangs tarnten sie sich noch in einer Alternative, spielten gezähmte Opposition, trugen Mensch-Masken. Doch jetzt ist die Zeit gekommen! Sie lüpfen die Masken und zeigen ihre wahre Monsterhaftigkeit immer offener. Auch vor 90 Jahren haben die bösen Faschisten das gutgläubige, nette mitteleuropäische Land auf diese Weise getäuscht. Die guten Bewohner dieses toleranten, arbeitsamen und friedlichen mitteleuropäischen Landes waren schockiert, als sie plötzlich erkannten, was da über sie gekommen ist. Vor Schreck erstarrt ließen sie die bösen Faschisten alles machen, wehrten sich nicht mehr, hatten nur noch Angst und beteten zu Gott, den ganzen Tag. Als alles schon zu spät schien und die guten Menschen dieses so friedlichen Landes von den bösen Faschisten in Trümmer zerhauen worden war, da kamen in goldener Rüstung auf weißen Pferden die Retter. Sie nannten sich Demokraten und befreiten die armen und geknechteten guten Leute dieses guten Landes.  

Dass man in den vor 30 Jahren durch jene Nachfahren dieser edlen Ritter befreiten Osten dieses Märchen auch glauben sollte, war die Idee.

Doch die edlen Ritter auf den weißen Pferden hatten einen Henry Ford, einen Maddison Grant, sie hatten ein America first Commitee, das Hitler aktiv unterstützte. Die Franzosen, die Engländer, alle hatten sie Faschisten und haben sie weiter. Die Faschisten aus Deutschland kamen auch nicht mit dem Raumschiff hier an, sie waren bereits da. Die brutalen Kolonialisten und Kriegshetzer des Kaiserreichs gingen auch nach der Niederlage im ersten Weltkrieg nicht weg. Das alles ist genau so bekannt, wie die Tatsache, dass auch nach dem zweiten Weltkrieg die Faschisten nicht verschwanden. Ein paar sind mit jüdischen Pässen nach Argentinien geflohen. Aber die meisten von ihnen halfen treuherzig mit, den Rechtsstaat, den Bildungsstaat den guten und braven mitteleuropäischen Staat wieder in das Märchenland zu verwandeln, das es ja ist. So erzählt man das bis heute den Kindern. Seit Gründung der Demokratie saßen die Faschisten mit am Tisch, formten die Gerichte, lehrten an den Schulen und Universitäten. Ich habe selbst gute Germanistik-Lehrbücher von aufrechten Faschisten bis 1945, die sich dann zu aufrechten Demokraten wandelten im Bücherregal stehen. Sie bildeten die Grundlage der demokratischen Germanistik.
Wenn  heute also Märchen erzählt werden vom guten Deutschland, dann ist das eine geschichtliche Konstruktion, die ihre Berechtigung verloren hat. Eine Demokratie, die sich zunehmend in einer Todesspirale aus Management und Verwaltung selbst niederringt, eine Demokratie die längst ihren Zugriff darauf verloren hat, gesellschaftliche Vorgänge zu deuten, eine Demokratie die in einem global organisierten High-Tech-Kapitalismus keinerlei Marktkontrolle mehr ausübt, eine Demokratie die im Grunde nur noch ihren eigenen Schatten verteidigt, so eine Demokratie ist zu fragil, zu anfällig für Monster. Das lässt sich überall auf der Welt beobachten. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Und fragen Sie mich jetzt: Wie konnte es so weit kommen? Nun. Es war schon so, bevor es so weit kam. Märchen sind keine Grundlage für ein demokratisches Wesen. Als Solon dem attischen Seebund seine Gesetze für eine Demokratie gab, legten die Griechen einen Eid ab, diese für zehn Jahre nicht zu brechen. Um diesen Eid abzusichern verließ Solon Griechenland und ging diese zehn Jahre auf Wanderschaft. So berichtet es uns Herodot. Dieser aus dem heutigen Bodrum (Türkei) stammende Historiker lebte im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Er legte den Grundstein für das Vermischen von Fakten und Mythen. Heute sollten wir eigentlich wissen, dass diese Erzählungen keinen universalen Wahrheitscharakter haben können. Das Ringen darum, wie Rassismus, Antisemitismus und Autoritätshörigkeit in einer fortschrittlichen Demokratie möglich sein können, gründet sich im Mythos. Der Mythos ist ein Versprechen. Bei den Griechen war es eine Rückschau in vergangene Zeiten (das goldene Zeitalter). Bei den Christen ein Chiliasmus für jenseitige Zeiten und in der Demokratie ein Versprechen für kommendes diesseitiges Glück. Immer noch gilt Churchills Versprechen als würdiger: Blut, Schweiß und Tränen. Aber mit solchen Versprechen wird man nicht gewählt.

 

Streifschuss vom 05. Juli 23

 

Anlass: What the hell!

 

Bis ich zu Staub werde

 

Jean Paul prägte den Begriff einst, der mit dem Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit aber auch zu gleichen Anteilen der Unzulänglichkeit der Welt, der Weltverhältnisse einhergeht. Es ist ein Baby-Gefühl. Irgendwas ging gehörig schief in der oralen Phase, wenn man als alter Mann immer noch an diesem Gefühl leidet und es heraus schreien möchte. Die Polen, die Schweden, die Spanier, ja sogar die Franzosen nutzen diesen Germanismus bis heute: Weltschmerz. Was genau tut da so weh? Was heilt nicht?

Letztlich kann ich es nur mit meinen Worten ausdrücken. Manche erleben das Gefühl als Zustand der Melancholie, andere erleben es als Wut, wieder andere flüchten gänzlich, verschließen sich, lassen diese Welt gar nicht mehr an sich heran. Bei mir äußert es sich gerne als Überdruss.


Evagrius Pontikus, ein ägyptischer Einsiedler aus dem vierten Jahrhundert formulierte es so: Der Dämon des Überdrusses, der auch als ‚Mittagsdämon‘ bezeichnet wird, ist der bedrückendste aller Dämonen. Er bedrängt den Mönch um die vierte Stunde (10 Uhr) des Morgens und umgibt seine Seele bis etwa zur achten Stunde (14 Uhr).
Pontikus, man nennt ihn auch den Wüstenvater, sah sich um diese Zeit der Hitze, dem Hunger, Durst, der Einsamkeit und Eintönigkeit besonders ausgesetzt. Um diese Uhrzeit begegnete auch Odysseus den Sirenen. Es war windstill, der Hundsstern Sirius brannte vom Himmel. Die Sirenen waren bärtige Fabelwesen des Meeres, deren herrliche, bezaubernde, sanfte, helltönenden Mädchenstimmen den Seefahrer überredeten, zu ihnen ins Meer zu hüpfen. Und sich in der Folge selbst zu ertränken. Die katholische Kirche brandmarkte dieses Verhalten als besonders sündhaft, als Acedia, als leichtsinnige, allzu sorglose und nachlässig üble Neigung nichts machen zu wollen. A-Kedos, die Verneinung der Sorge.

 

Ach, wie sehr gäbe ich diesen Sirenen, diesen süßen und helltönenden Mädchenstimmen nach und tauchte unter ins ewige Nichts, ins süße, selige Elysion, dorthin, wo ich endlich nichts mehr machen muss. Mein Weltschmerz neigt zur Sehnsucht nichts mehr sein zu müssen, nichts mehr machen zu müssen. Es ist inzwischen mein Verfallsdatum längst abgelaufen. Warum dauert das so lange? Ich bin überfällig. Ich gehöre endlich kompostiert! Aber nein, es wird das letzte Quäntchen Leben aus mir raus gequetscht. Bis ich komplett alle bin, und auch all meine Sehnsucht nach dem Nichts ganz in dieser Hölle voller irdischer Dämonen zurückbleibt. 

 Nichts soll verschwendet werden. Nach meiner Verurteilung vor 59 Jahren! Immer noch keine Gnade. Alles was mein armer Kopf zu bieten hat, wird aus ihm heraus gefoltert, während ich betrogen und belogen, beschimpft und gedemütigt werde. Die träumerische Vorstellung, ich hätte schon vor zwanzig, vor dreißig Jahren den Löffel abgegeben! Ach, wie viel hätte ich mir ersparen können.
Da ich jetzt nicht sehr zur Melancholie neige und mir das Grämen nicht sonderlich behagt, bleibt mir als Wahlemotion tatsächlich die Wut oder die Verachtung. Wie belehrte mich neulich eine Kursteilnehmerin. Emotionen sind weder negativ noch positiv, sie sind angenehm oder unangenehm. Angst könne einem das Leben retten. Mich treibt die Angst nur in die Enge. Die Wut treibt mich ins Verzagen und die Verachtung macht mich stumpf. Als ich kurz vor der Obdachlosigkeit stand, wendete sich das Blatt glückhaft zu meinen Gunsten. Ein kurzes Aufatmen, das nur den Zweck verfolgte, mich weiter in der Hölle schmoren zu lassen. Machen, machen, machen. Von morgens bis abends, nie hast du Ruhe. Und selbst wenn du schläfst ist die Ruhe nur scheinbar und ein Wunder, dass man morgens ausgeruht erwacht. Es ist übrigens ziemlich unwichtig, in welcher Epoche man in der Hölle eingesperrt wird. Für jede Epoche hat die Hölle ihre besonderen Folterinstrumente. Unsere Epoche lässt die süßesten Trauben so nah vor den Augen des Verurteilten baumeln, dass man sie riechen kann, ihren feuchten Saft sieht. Man greift nach ihnen, rudert mit Händen und Füßen, schnappt, atmet, müht sich ab. Und sie werden einem doch entzogen. Derweil bekommt man Trockenpflaumen als Ersatz. Ihr pappiger Geschmack kontrastiert so heftig mit dem unmittelbaren Anblick, dass man kaum noch wertschätzen kann, dass auch diese Trockenpflaumen satt machen. In anderen Epochen gab es nicht mal diese Trockenpflaumen. Aber die süßen Trauben waren so weit vom Auge entfernt, wuchsen so himmelwärts und abseits jeder Hoffnung, dass man für die Trockenpflaumen alles gegeben, alles getan hätte und auch getan hat. Die Wunschmaschine erfüllt keine Wünsche. Sie erschafft nur weitere Wünsche und treibt uns an. Das Leben ist ein einziges Rennen und stehen bleiben heißt sterben, formulierte einst der englische Aufklärer aus dem 17. Jahrhundert John Locke. So ertrage ich die Hölle nur dadurch, dass ich sie auch als Hölle definiere und begreife. Die süßen Trauben, so süß und begehrenswert sie für mich bereitet werden, können mich nicht erfüllen. Selbst wenn ich sie unter Aufopferung meiner eigenen Würde bekäme, sie hätten einen höllischen Geschmack. Wut und Verachtung sind Höllentugenden. Sie sind nur weitere Strafen. Der Tod ist nur dann ein Schrecken, wenn die Hölle einen immer noch gierig macht. Ansonsten ist nicht mehr sein zu wollen, die einzige vernünftige Haltung. Acedia ist keine Sünde, wie die katholische Kirche uns weismachen will, sondern höchste Vernunft. So warte ich geduldig auf den Tod, sitze meine Strafe ab, lausche dem Gesang der Sirenen wie einst Odysseus fest gebunden an seinem Segelmast. Zu behaupten, ich sei unschuldig macht im Rechtssystem der Hölle keinen Sinn. Denn hier gibt es keinen Anwalt, der mich in dieser Hinsicht verteidigen könnte. „Hier, siehst du süßen Trauben!“, sagt mein Anwalt, „begehrst du sie nicht?“. Nein, sage ich. „Dann werden dir auch die Trockenpflaumen entzogen“, belehrt mich mein Anwalt. Denn die Hölle ist Gier. Wenn du nicht begehrst, bist du in der Hölle ein Kardinalverbrecher. „Sieh doch! All die schönen Möglichkeiten! Ist das Leben etwa nicht begehrenswert?“ So fordert mich mein Anwalt heraus. Doch alles hat seinen Preis. „Preise das Leben, preise die Schönheit, preise die Trauben, preise!“ So ruft der Staatsanwalt mir zu. Ein rhetorisches Täuschungsmanöver. Der Richter sieht mich gespannt an. Was wird er tun, der Sünder? Ich werde nicht fluchen, nein! Fluch wäre nur wieder eine Strafe.  Ein Beleg für meine Ohnmacht. Ich werde auch nicht den Blick senken, demütig zu Boden blicken. Ich bin kein Diener dieser Hölle. Ich sehe dem Richter in die Augen. Doch er wird in meinen Augen nichts lesen können. Hier gibt es nichts für mich. Bis ich zu Staub werde. Bis dahin lausche ich den Sirenen.

 

 

Streifschuss vom 02. Juli 23

 

Anlass: Abdera liegt wohl in Ebersberg

 

Aus dem Reiche Absurdistan

 

Vom Ebersberger Amtsgericht bekam ich nach dem Tod meiner Mutter im Rhythmus von zwei Wochen die Aufforderung, dem Nachlassgericht bei der Erbenermittlung behilflich zu sein. Dazu einen Anhang mit drei Seiten voller Multiple-Choice-Fragen, die ich zum größten Teil nicht beantworten konnte, da sowohl ein so genanntes Erbe fiktiv ist und eine Erbengemeinschaft schon aus diesem Grunde nicht besteht. Abgesehen davon, dass ich von eventuellen unehelichen Kindern meiner Mutter nichts weiß. Mir wurde weder vom Vater noch von der Mutter über deren sündiges Leben Genaueres berichtet. Das Amtsgericht möchte es aber von mir wissen. Viele Wochen ignorierte ich diese Briefe einfach. Doch irgendwann kann man es nicht mehr ignorieren und der Postbote könnte sich schon seine Vorstellungen machen, wenn er regelmäßig diese amtlichen, hellbraun verpackten und bedrohlich aussehenden Briefe in meinen Postkasten legt. Also habe ich alles was man von mir verlangte so gut ich konnte getan. Zuerst wollte ich einen bösen Brief dazu schreiben, von der Realsatire die mir da begegnet, von der Papierverschwendung, und von der Verschwendung menschlicher Ressourcen und natürlich meiner Ressourcen. Dann wollte ich vom einzigen Erbe meiner Eltern berichten, einer Neigung zu Gicht vom Vater und mein verwirrtes Verhältnis zu Frauen von meiner Mutter. Aber ich merkte auf! Nein. Das wirkt nicht mehr auf diese Leute, die das Gesetz und ihre Paragraphen auf ihrer Seite haben und legalistisch mit legal verwechseln. Also wendete ich eine andere Strategie an und legte folgendes Begleitschreiben dem Fragebogen bei:

 

Sehr geehrte Damen und Herren vom Amtsgericht

 

Selbstverständlich komme ich meiner ureigenen Bürgerpflicht nach und bemühe mich alle Fragen redlich zu beantworten. Es ist mir eine Ehre und wahres Vergnügen Ihre Anliegen an mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften nachzukommen. Ein Erbe jedoch gab es so gut wie nicht. Wohnungsauflösung und Beerdigung verschlangen eher meine Ressourcen. Eine Erbengemeinschaft ist mir nicht bekannt. Es tut mir so unendlich leid, Ihnen nicht in dem Ausmaß helfen zu können, wie Sie es von Amts wegen jederzeit verdienen. Sollte es noch weitere Fragen an mich geben, so werde ich alles einsetzen was ich habe, um Ihnen und Ihren gerechten Forderungen an mich Genüge zu tun.

 

Herzlichst und in voller Untergebenheit, für Gott und Vaterland

Ihr untertänigst untergebener, einfacher Bürger

 

Mit der rhetorischen Form des Bathos wirkt das viel intensiver und vor allem können sie nichts dagegen tun. Wäre übertriebene Höflichkeit eine Beleidigung, dann haben wir wirklich schwere Zeiten vor uns.

                                                                           

 

Streifschuss vom 01. Juli 23

 

Anlass: Der Wald ist braun

 

Die Waldbewohner von Sonneberg

 

Sonneberg, eine weltoffene Stadt mit immerhin 23.000 Einwohnern, der Landkreis Sonneberg hat schon über 50.000 Einwohner, im Süden Thüringens gelegen, liebevoll umarmt von den oberfränkischen Metropolen Coburg und Kronach, dieses Sonneberg ist Teil der europäischen Metropolunion Nürnberg. Das EUREK, ein europäisches Raumplanungskonzept das seit 1999 existiert und von dem alles genau wissen was es tut, sehen in dieser Region einen wichtigen Brückenkopf in den europäischen Osten. Wirft man einen Blick auf die Internetseite von EUREK, dann ist das viel interessanter, als der Wikipedia-Eintrag über Sonnebergs neuen Landrat Herrn Robert Sesselfurzer, der übrigens nicht der erste Sesselfurzer seines Namens ist. Nein. In den 1960er Jahren war ein ehemaliger DDR Oberliga Fußballer namens Rainer Sesselfurzer in Sonneberg schon Landrat. Also es gibt im sonnig-südlichen nach Bratwurst duftenden Sonneberchle schon immer Sesselfurzer. Also, langweilig, langweilig, langweilig. Und was ist dieser Sesselfurzer in Sonneberg von Beruf? Anwalt, wie alle Politiker. Die EUREK Leute, die nennen sich Raumordnungsminister. Das hat eine ganz andere Klangqualität. Und gemeinsam mit ESPON, dem europäischen Beobachtungsnetzwerk arbeiten diese Leute zusammen, um Sonneberg in die europäische Union einzugliedern. Dazu haben sie auch Strukturfonds die für Sonneberg wichtig sind und mit denen der neue Sesselfurzer aus Sonneberg für den wirtschaftlichen und kulturellen Ausbau seiner Heimat sorgt. Der neue Sesselfurzer von Sonneberg möchte Rentner mehr einbeziehen, Kindern helfen und Schulen erhalten, er möchte den Tourismus stärken und die Heimat erhalten, und vor allem möchte er die Ordnung wieder herstellen, die scheinbar im Süden Thüringens nicht mehr besteht. Gemeinsam mit den Raumordnungsministers Europas wird ihm das alles gelingen. Was also macht den Leuten Angst? Es ist ein Gespenst. Einerseits schimpfen viele Menschen, dass die Politiker den einfachen Mann, die einfache Frau und das einfache Kind nicht mehr verstehen, dass diese Politiker abgehoben sind, dass sie nichts tun, und wenn sie was tun, das Falsche tun. Andererseits wählen sie ausgerechnet einen Anwalt. Vorher hatten sie einen Fahrlehrer als Landrat in Sonneberg. Aber nur, weil Herr Schmitz, der gewählte Landrat und Fußballtrainer von FC Sonneberg, krank wurde.
Nun kennt die Welt diese von oben ins Söderland hineinragende Metropole Sonneberg. Die europäischen Raumordnungsminister  haben einen ersten wichtigen Erfolg erzielt in ihrer Mission zur europäischen Integration Thüringens. Sie haben das einst dem Fürstentum Sachsen-Coburg zugehörige und immer noch zu 60 Prozent aus Wald bestehende Gebiet bekannt so bekannt gemacht, dass man sogar in Israel davon redet. Na denn. Was höcken die aus? Die Waldbewohner von Sonneberg?

 

Streifschuss vom 30. Juni 23

 

Anlass: Wie der Herr, so ‚s Gscherr

 

Oder wie die Dummheit klug wurde

 

„Der Knecht singt gern ein Freiheitslied

Des Abends in der Schenke

Das fördert die Verdauungskraft

Und würzet die Getränke.“

 

Mit viel Bescheidenheit, Demut und gesegnet mit einer hohen Frustrationstoleranz kann man Wissen vermitteln. Nein. Nicht vermitteln. Sagen wir eher demonstrieren. Der Wissensverkäufer hantiert mit Begriffen, wie der alte Alchemist mit seinem Kolben, seiner Kupelle, seiner Retorte. Was für den Wissensverkäufer schön ist und nach Veilchen duftet, stinkt für den Dummen, qualmt und raucht und fördert bei den Dummen nur abwehrendes Husten. Der Nebel der Begriffe, für den Gescheiten ein Medium des Sehens, ist für den Dummen nur beängstigende Dunkelheit. Der Wissensverkäufer muss also mit Geschick das Mittel der Täuschung anwenden, um die Dummen zu begeistern für den – für die Dummen unerträglichen Qualm und Gestank der Vernunft. Als wollte man einen Haufen Kot für einen Diamanten ausgeben! Den meisten Dummen fehlt dazu die nötige Vorstellungskraft.

Mich hat die Natur mit einer eher niedrigen Frustrationstoleranz ausgestattet. Aber – Gott sei gesegnet und gepriesen – die Gesellschaft - oder wie Hugo von Hofmannsthal sie nannte „die Leut‘- haben mich mit der Zeit gestählt. Ich bin mit der Hartnäckigkeit von Dummheit so oft konfrontiert worden, dass ich inzwischen zur Demut neige. Anfangs reagierte ich verzweifelt und anklagend. Bei den Dummen löste das nur Spott aus oder gar Angriffslust. Die Gescheiten hatten manchmal Mitleid mit mir, ansonsten aber schlossen sie mich aus. Die Gescheiten bleiben gerne unter sich. Die traurigen Berichte eines Suchers im vertrockneten Gestrüpp verdummter Nervenbahnen, diese Berichte stören die meisten Gescheiten nur bei ihrer ehrwürdigen Arbeit. Nach meiner Verzweiflung kam die Episode der Wut. Doch wenn man den Hals – der ja den leeren Kopf trägt – würgt, läuft der leere Kopf nur blau an und wird auch nicht gescheiter dadurch. Nach Verzweiflung und Wut kam die Verbitterung, aber in diesem Zustand verzweifelt man nur an sich selbst und quält sich mit dem eigenen Verstand unnötig ab. Schließlich kam ich in die Phase der Ignoranz. Redete jemand dumm, redete ich noch gescheiter daher. Im Haus der Gescheiten ist Ignoranz eine willkommene Haltung. Doch in Abdera führte diese Ignoranz der Gescheiten dazu, dass der Unverständige sich noch mehr vom Verstand entfernte. Kommt das Wissen wie eine Flut über den Dummen, flieht dieser die Wellen der Vernunft als würde er an dieser Vernunft ertrinken. Demut ist die einzige Haltung die es ermöglicht in einer Welt zu leben, in der die Bewohner von Abdera selbst nicht wissen, dass sie in Abdera leben. Kennzeichen der Abderiten ist es ja, dass sie sich ihrer eigenen Dummheit gar nicht bewusst sind. Die Dummen halten sich für gescheit und den Gescheiten für dumm, weil sie ja nicht wissen, dass sie nichts wissen. Dass sich diese Insel dieser Seligen derzeit verbreitet, während das Meer des Wissens ansteigt, ist ein sonderbares Paradoxon. Die Abderiten bauten kräftige Staudämme, um die Vernunfttsunamis zu bannen. Ich freue mich inzwischen, wenn ich einen Tropfen Wissen auf das getrocknete Gehirn eines Dummen fallen lasse, bestaune den Moment des Zischens und Dampfens. Nicht mehr als ein kurzer Aufguss. Danach zerstäubt sich alles wieder in einer Nebelwolke. Aber ich erlebte für einen Augenblick den Hauch von Heureka in den sonst so dumpfen Gesichtern der Abderiten. Demut und Humor. Denn der Abderite lacht gerne. Sein Lachen ist mit einer Nieswurz einfach auszulösen. Gescheite Leut‘ lachen selten, wenn sie lachen, dann in gehobenem Dekorum: sie lächeln eher, schmunzeln. Wenn die Dummen die Gescheiten lächeln sehen, wissen sie daher oft gar nicht, warum der Gescheite jene dem Dummen nicht geläufige Grimasse schneidet. Der Gescheite kann es aber dem Dummen auch nicht erläutern. Für den heroischen Scherz fehlt dem Dummen das Sensorium. Das sorgt ebenfalls für Missverständnisse unter diesen so unterschiedlichen Spezies der Menschheit. Unter diesen von starken charakterlichen Mauern getrennten Leuten, findet dennoch ein Austausch statt unter dem Stichwort „Bildung“. Ein Wunder! Denn sie schreien sich eher über die hohen Mauern die sie trennen hinweg an. Nur noch selten kommt es zu Verbrüderungen oder gar Hochzeiten zwischen Dummen und Gescheiten. Heute, wo es angeblich so viele gescheite Leute gibt wie nie zuvor in der Geschichte der Menschen, heute wird es den Dummen nicht mehr zugestanden, einfach und entspannt dumm zu sein. Nein! Sie müssen gescheit tun und tun es auch auf ihre Art. Und daher kommt es, dass wir uns oft wundern, warum gescheite Leute an Dinge glauben, die kein vernünftiger Mensch ernsthaft glauben könnte. Die Meisterschaft in der Mimesis der Gescheitheit wird von den Dummen tagtäglich in den von Dummheit geradezu strotzenden Bildungsanstalten eingeübt. Eine ganze Industrie widmet sich dieser Täuschung. Oft von so täuschender Echtheit, dass der Gescheite anfängt an seiner Vernunft zu zweifeln und sich selbst als dumm bezichtigt. Quae fuerant vitia, mores sunt. Und wie Seneca weiter ausführt: tunc autem est consummata infelicitas, ubi turpia non solum delectant, sed etiam placent, et desinit esse remedio locus. So gibt es keine Heilung mehr, findet die Dummheit doch allerorten Applaus und geht als Gescheitheit durch, marschiert mit braunen Fahnen und üblem Geschrei wie ein Anruf der Musen daher.

 

 

Streifschuss vom

17. Juni 23

 

Anlass: Die Wirklichkeit ist unmöglich

Eine Kundenkritik

 

Als langjähriger Kunde und Anwender der Wirklichkeit traue ich mir nun – nach reichlich Praxiserfahrung – eine Kritik zu. Viel zu selten wird die Wirklichkeit offen kritisiert, dabei ist hier einiges nicht in Ordnung! Verkauft wird uns die Wirklichkeit als wahr, als authentisch und allen zugänglich. Doch mal ehrlich! Die Wirklichkeit lässt einiges zu wünschen übrig. Schon die Oberflächenanwendung! Das Wetter. Es ist instabil, zufällig, mal heiß mal kalt, mal trocken, mal nass, aber selten so, wie man sich erhoffte. Die haptischen Eigenschaften der Wirklichkeit sind viel zu sehr von der Nutzerbeschaffenheit abhängig und die Wirklichkeit stellt sich viel zu selten auf die eigentlichen Bedürfnisse des Nutzers ein. Zwar werben die Wirklichkeitshersteller mit einem reichhaltigen Nahrungsangebot und der Verfügbarkeit sowie dem großen Genuss all dieser Köstlichkeiten. Doch auch hier sind viele Mängel feststellbar. Häufig enthalten die angebotenen Nahrungsstücke Gift, machen nach langjährigem Nutzen krank, verursachen Abhängigkeiten, verderben schnell und häufig benötigt man zusätzliches Equipment, um die Angebote überhaupt nutzen zu können. Viele Nutzer können sich die Wirklichkeit nicht mehr leisten, oder sie müssen mit veralteten Techniken hantieren, die häufig defekt sind und für die es dann keine Ersatzteile mehr gibt. Die Wirklichkeit ist insgesamt – was das Preis-Leistungsverhältnis betrifft – viel zu teuer in der Anwendung. Dass es dann trotz hoher Kosten und trotz neuester Technik weiter zu häufigen Wirklichkeitseinschränkungen kommt, ist daher nicht mehr zu tolerieren. Da die Wirklichkeitshersteller ein Monopol haben, können sie den Markt allein beherrschen. Hier fordere ich endlich eine effektivere Wirklichkeitskontrolle. Es kann ja nicht sein, dass der Nutzer der Wirklichkeit nur von einem einzigen Anbieter abhängig ist. Und bedenkt man die Mängel der Wirklichkeit, ist das skandalös. Viel zu viele Zufälle bestimmen die Wirklichkeit. Das Regelwerk ist undurchsichtig, schwer zu handhaben in der Bedienung und viel zu oft müssen die Nutzer überteuerte Uploads installieren, um überhaupt noch die Wirklichkeit nutzen zu können. Die Wirklichkeit wird oft günstig und schlecht in Billigländern produziert und bei uns teuer verkauft. Als Anwender der Wirklichkeit hat man sehr oft Probleme, so ist die Wirklichkeit meistens viel zu laut, alles geht viel zu schnell und es gibt häufig Unfälle für die dann der Nutzer selbst verantwortlich gemacht wird, wo doch offensichtlich die Wirklichkeit fehlerhaft war. Und der Support ist dann nicht erreichbar, wenn man ihn braucht. Auch an Freundlichkeit im Service mangelt es der Wirklichkeit. Insgesamt kann ich, als langjähriger Nutzer und Endverbraucher der Wirklichkeit die Wirklichkeit nicht empfehlen und werde in Zukunft auf sie verzichten. Es ist in der Tat ein großes Problem, wie ich dann in der Zukunft ohne Wirklichkeit meine Zeit verbringe. Hier wären mehr Optionen nötig, denn um die Angebote der Unwirklichkeit zu nutzen, benötigt man immer noch die Wirklichkeit – wenn auch in reduzierter Form, aber es nicht hinnehmbar, dass man für alternative Angebote zur Wirklichkeit, die Wirklichkeit benötigt. Das verstößt gegen unsere liberalen ökonomischen Marktgesetze. Das Wirklichkeitsmonopol sollte nachhaltig zerschlagen werden, zumindest sollte man überlegen, ob man nicht ein Wirklichkeitsministerium einrichtet, das sich endlich verstärkt der Wirklichkeit annimmt und die Wirklichkeitshersteller besser kontrolliert. Abschließend empfehle ich Kunden, die sich gerade überlegen, sich die Wirklichkeit anzuschaffen: Lasst es. Es lohnt sich nicht, macht mehr Ärger, als es nutzt. Die Wirklichkeit ist ein dummes Spiel, es endet immer schlecht, kostet unglaublich viel Zeit die man besser mit angenehmeren und nützlicheren Beschäftigungen verbringen kann, als ausgerechnet mit dieser Wirklichkeit. Ich bin enttäuscht, ja. Auch wütend, weil ich mich ausgenutzt und hereingelegt fühle. So viele Jahre hat man mir Wirklichkeit verkauft und was habe ich jetzt davon? Was hat mich die Wirklichkeit an Geld gekostet! Beinahe mein ganzes Einkommen ging für diese Wirklichkeit drauf. Das kann doch nicht sein, dass man am Ende nur noch für die Wirklichkeit arbeiten geht! Damit muss endlich Schluss sein. Am besten wäre es, die Wirklichkeit verschwindet ganz vom Markt. Es gibt doch längst bessere und sicherere, vernünftigere und erfreulichere Angebote, als die Wirklichkeit. Hier stimmt doch etwas nicht und man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, wenn man hier feststellt, dass offensichtlich der Markt von den Wirklichkeitsherstellern kontrolliert wird, auf Kosten der Unwirklichkeit. Also Leute! Lasst die Finger von der Wirklichkeit. Kauft das nicht! Wir Konsumenten haben die Macht!
 

Schäferidylle
Als Zusatzaudio zum aktuellen Streifschuss über Roda Roda und das Landleben
Schäferidylle.mp3
MP3-Audiodatei [1.6 MB]

Streifschuss vom 07. Juni 23

 

Anlass: Das Landleben in der frischen Luft

 

Großmutters Erbmasse

 

Die Natur wird als Leitkategorie aufgefasst und steht im Gegensatz zur Kultur. Wir sprechen oft von natürlichen Ressourcen, als wären Öl und Uran ganz unnatürliche Dinge. Wind und Sonne dagegen sind natürlich. Das Landleben erlebte zuletzt eine Renaissance. Die Schäferidylle wurde von ausgebrannten Stadtmenschen schon immer idealisiert. Ein schönes Fundstück stammt von Sándor Rosenfeld, bekannt unter seinem Künstlernamen Roda Roda, der 1872 in Dirnowitz mitten auf einem mährischen Acker zur Welt kam, Soldat wurde, sich selbst entließ und für den Simplicissimus satirische Texte schrieb. Weil er auch eine Satire über Hitler verfasste, floh er erst nach Graz, nach dem Anschluss Österreichs in die Schweiz, da warf man ihn auch raus, dann – schon in den 70ern – in die USA. Das war am Ende nur noch Flucht. Alles was sein Tun und Schreiben ausmachte, war erloschen, als er 1945 in New York an Leukämie verstarb. Hier eine Erinnerung mit einem wunderbaren Reflex auf das Thema Landleben, das so viele derzeit in ihrer Natur-Verblendung feiern.

 

Roda Roda

In zahllosen Mitbürgern gärt und glimmt heimlich die Sehnsucht nach dem Lande. Man träumt von einem Häuschen im Grünen – einem Garten mit Blumen – Frieden – Abendläuten – Sonnenuntergang.

Nicht Rousseau hat an diese Rückkehr zur Natur erinnert: es ist Großmutters Erbmasse, Atavismus des dritten, entwurzelten, in die Stadt verpflanzten Geschlechts.

Doch warum nicht gleich auf Bäume klettern? wie der Urpapa?

Hört mich an: laßt diesen blödsinnigen Durst nach Landluft! Ich bin auf dem Lande aufgewachsen; mein Geburtsort hatte 49 Einwohner; 96 vom Hundert waren Analphabeten; zwei Prozent konnten lesen und schreiben: ich nämlich.

Da bin ich bis zu meinem zwanzigsten Jahr geblieben. Ich kenne das Landleben durch und durch.

Nieder mit Virgil, Georgica, Bucolica! Pfui Rousseau ! Haller und Mörike an die Laterne! – Es muß endlich enthüllt sein-in Wahrheit verhält sich die Sache wie folgt:

Die Natur besteht aus Ameisen und Brennesseln, das Dorf aus Fliegen, Bauern, Kälberdreck.

Das Land ist unbewohnbar. Die Hütten enthalten Wanzen. Die Mauern triefen. Die Türen klaffen. Die Öfen rauchen.

Der Zustand des W.C. allein schon schreit zum Himmel. Es steht weitab vom Haus, einsam auf der Flur, In das Türchen ist ein Herz geschnitten. Dünste zeigen das Wetter an; schlechtes Wetter. -

Ruhe auf dem Land? Haha : die Stiere brüllen, die Kühe muhen, Schafe blöken, Hähne krähen, Hühner gackern – jegliche Art Vieh macht sein Geräusch. – Und die Bauern ? Ha ! – Und die Balken ? Krachen. – Das ist die Ruhe auf dem Land.

Man wähnt, es gebe selbstgezogenes Gemüse auf dem Land. Der Wahn trügt – es gibt kein Gemüse. Selbstgezogene Karotten erreichen im besten Fall Daumengröße; ich habe auch Westenknöpfe erlebt. – Ich habe, mit dem Schweiß des Fleißes auf der Stirn, Spargelbeete von Meilenlänge angelegt, zwölf nebeneinander, wie Eisenbahndämme. Ergebnis : Stricknadeln, nichts weiter. Einmal ernteten wir einen Bleistift; man mußte ihn vor dem Genuß mit dem Hammer schmieden. – Wirklichen Spargel gibt es nur in Büchsen.

Daß auf dem Lande Obst gedeiht, ist häretischer Aberglaube. Nein, Obst gedeiht nicht. Die Pflaumen sehen nur so aus ; sind aber sauer, hart, wurmzerfressen und mit Harztropfen behängen. – Die Äpfel sehen nicht einmal so aus ; Adam muß ein Rindvieh an Gefräßigkeit gewesen sein – falls er auf dem Lande aufwuchs..

Das Fleisch ist ungenießbar ; es besteht aus Sehnen. – Den Hühnern ist das Federkleid unmittelbar an das Skelett gewachsen. Übrigens krepieren die Hühner vorzeitig an Pips ; die Gänse werden von Hühnerläusen gefressen, die Enten von den Ratten ; nur die Ratten bleiben – Sieger im Daseinskampf.

Die Atmosphäre schneit und regnet. [...] Malzumal, in den Pausen zwischen zwei Katastrophen, prangt er richtig, der goldne Sonnenuntergang.

Dann breitet sich rosiger Kitsch über die Gefilde – eine kosmische Ansichtskarte. Zum Speien.

Soviel über das Landleben.

 

(Roda Roda : Roda Rodas Geschichten, Rowohlt, Reinbek, 1956, S. 59-60).

 

 

Streifschuss vom 25. Mai 23

 

Anlass:  Pfingsten und drum rum herum

 

Die Heilige Familie

 

Der Bischof von Rom Siricius beglaubigte im Jahr 392 die Jungfräulichkeit Marias trotz durchgestandener Schwangerschaft und Geburt. Witziger weise war Siricius der erste Bischof von Rom, der sich Papst nannte, abgeleitet vom griechischen Pappas, also Vater. Aber bedenkt man die Bestätigung der Josefsehe, dann wird das natürlich klar.
Sein damaliger Gegenkandidat  war der berühmte Asketiker Hieronymus, der Siricius als einen einfältigen Trottel bezeichnete. Nutzte nichts, Siricius wurde von Kaiser Valentin III als Bischof bestätigt.
Marias Jungfräulichkeit wurde schließlich zweihundert Jahre später auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel (553) endgültig anerkannt und zum kirchlichen Dogma. Obwohl Maria keine Göttin war (wie die promiskuitive Isis), fuhr sie zum Himmel auf und sitzt seitdem - jungfräulich für immer - neben Jesus, ihrem Kind und gleichzeitig ihrem Bräutigam, wie es die Sponsus-Sponsa-Motivik (Hohelied) nahelegt. Jesus war also das Kind von Maria und Josef aus der Linie David. Das musste sein, denn sonst hätte er nie der Messias sein können. Aber Josef war nicht sein Vater im biologischen Sinn. Das war Gott selbst. Gott steht wiederum über den biologischen Dingen, ist er doch der Schöpfer von allem.  Seine Mutter Maria war zugleich seine Braut und sein Ziehvater Josef aus der Linie David gab ihm auf Erden die verwandtschaftliche Vollmacht, sich als Messias zu erkennen zu geben. Die Heilige Familie ist damit von Anfang an ziemlich ungewöhnlich. Jesus hatte keine richtigen Eltern und verlangte auch von seinen Jüngern, ihre Familien zu verlassen. Wie aus dieser familienfeindlichen Kommune so schöne Familienfeste (Weihnachten, Ostern, Pfingsten) hervorgehen konnten, bleibt daher schon ein Rätsel.

Sigmund Freud sah in dem Opfertod von Jesus eine Weitertradierung des Urmordes. Dort haben die Kinder ihren Vater ermordet, weil er alle Weibchen besaß. Nach einer umstrittenen Theorie wurde auch Moses von seinen Leuten ermordet. Jesus wurde aber von seinem Vater (also von Gott) ermordet. Auch das ist eine Perversion. Der jüdische Sanhedrin ließ Jesus verhaften und verurteilte ihn als Gotteslästerer. Der Sohn Gottes wurde von seinem eigenen Vater ermordet. Das Christentum ist eine Sohnesreligion und Jesus hatte auch was mit seiner Mutter, was den guten alten Ödipus auf den Plan ruft. Tatsächlich gibt es aus dem Mittelalter die Legenda aurea, eine Sammlung mit Heiligenlegenden die sehr beliebt war. Verfasst hat sie im 13. Jahrhundert der Genueser Dominikanermönch Jacobus de Vorigine. Dort erzählt er über Judas, der angeblich von seinen Eltern ausgesetzt worden sei, weil seine Mutter träumte, dass dieser Judas ein böser Mensch werden würde. Eine kinderlose Königin fischte den kleinen Judas aus dem Fluss, zog ihn groß, bekam aber doch noch ein eigenes Kind. Judas erschlug den Stiefbruder, floh nach Jerusalem, erschlug seinen leiblichen Vater und heiratete seine Mutter.   Während also Jesus im spirituellen Sinne was mit seiner Mutter hatte, hatte Judas richtig was mit seiner Mutter.  Der Sinn von Familiengründung ist es, sich fortzupflanzen. Nicht so bei Jesus. Dort wird die Liebe rein spirituell und von jeglicher Fortpflanzung bereinigt. Nonnen bekamen einen Eisprung, wenn sie an Jesus dachten. Und Bischöfe geilten sich an Marias Brust auf, wie Bernhard von Clairvaux, der von Marias Brust Milch trank und mit ihrer Milch auch noch seine Texte schrieb. Es war also möglich trotz Schwangerschaft und Geburt ein intaktes Hymen (Virgo intacta) zu haben, und Milch zu produzieren. Insgesamt ist das Christentum an Perversionen kaum noch zu überbieten. Ephräm der Syrer verfasste im vierten Jahrhundert eine Hymne, dort heißt es: Deine Mutter ist sie, sie allein, - und deine Schwester, zusammen mit allen. Auch ist sie deine Braut,  - zusammen mit allen reinen Jungfrauen. Jesus und Maria sind ein Paar, das allen Tabus widerspricht. Der fröhliche Ring-Inzest wird möglich durch die spirituelle Überhöhung. Sex wird desavouiert. Und zugleich findet eine merkwürdige Disjunktion statt, wie sie in der sehr körperlichen Pietá sichtbar wird. Die meisten Christen sind vermutlich nie mit dieser verdrehten Familiengeschichte klar gekommen. Denn es ist dort wie in einem Traum. Alles scheint möglich zu sein und die vielen sexuellen Konnotationen haben keinerlei Auswirkungen auf die Reinheit des Körpers. Das Christentum ist eine Dunkelkammer der Begierden.

 

Streifschuss vom 02. Mai 23

 

Anlass: Eine Tirade ist eine eher abwertende Bezeichnung für einen Wortschwall oder einen geschwätzigen Worterguss. Der Begriff ist eine Ableitung des französischen Wortes tirage für „Ziehung, Zug, Strecke“. (Wikipedia)

 

 Was nicht zu beweisen ist und trotzdem gut tut, wenn man es mal sagt

 

Thomas Mann, Thomas Bernhard, Wolfgang Koeppen, um nur mal drei Autoren zu nennen, die ohne Universitätsausbildung zu den großen deutschsprachigen Schriftstellern wurden. Wenn Autoren studieren, werden sie zu blutleeren Katheder-Dichtern. Es ist vermutlich das Bachelor-Syndrom, warum deutsche Autoren Romane wie Doktorarbeiten verfassen. Geregelt und nummeriert und für die Literaturwissenschaft gut zu katalogisieren. Aber die meisten Leser verführt das „Gewollte“ im Duktus der literarischen Gelehrsamkeit zu der falschen Annahme, Literatur sei ordnungsgemäß im Sinne einer Straßenverkehrsverordnung zu belesen. Um dieses hier von mir abgegebene Pauschalurteil zu belegen, bräuchte ich natürlich einen Universitätsabschluss. Aber Literatur und Bildungsauftrag sind zwei verschiedene Felder. Doch sie werden vermischt, dem Literaten, dem Dichter in Deutschland wird ständig zugemutet, Bildung zu reproduzieren. Lehrer und Pädagogen aber sind alles Mögliche, aber keine originellen Schriftsteller. Die meisten Lehrer und Pädagogen sind Langweiler. Wie soll das unsere Tik-tok-Jugend belehren? Schon das Wort „belehren“ verursacht gähnende Reflexe der Katatonie. So kommen diese Romane mit ihren korrekten Sätzen im Feuilleton gut an, aber sie schaffen es nicht, in die Gehirne der zu bildenden Masse vorzudringen. Dort stoßen diese sauberen Texte auf den Müll aus Dschungelcamp und Germanys next Top-Model, auf in Massen produzierte geniale Gewalt und Disruption in Netflix, Amazon-Prime,  Disney, oder Wow. Egal wo. Nur nicht in der Literatur. Nicht in den Romanen und Gedichten. Bitte nicht dort mit Abiturientenfleiß. Denn auf Fleiß reimt sich – genau. Das was wir brauchen? Niemand, wirklich niemand braucht Literatur. Das ist ihre große Kraft. Vieles, was wir heute zu brauchen glauben, brauchten wir vor 20 Jahren noch gar nicht. Die Warenindustrie produziert daher auch jenseits der Universitätsgebäude ihre Milliardäre, die alle ganz klein in Vorstadtgaragen oder als Laufburschen angefangen haben. Ganz so, wie einst die Literaten zum Rand des Bürgerlichen zählten, meist verachtet und von den Eltern verstoßen, ihren ganz eigenen Weg gingen. Der Doktorhut ist eine Proteus Maskerade. Literaturen sind nicht klug. Sie sind der Traum, die Tiefe, das Verstörende, Aufwühlende. Sie sind nicht die Belaberer und Belehrer. Sie arbeiten als Doktoren, Dozenten, ja. Sie können auch pflegen, Brote backen, Müll entsorgen. Dann ginge es ihnen vielleicht sogar besser. Sie sind aber keine Verbesserer und keine Schullektüren-Produzenten. Wenn Romane und Gedichte von vorneherein als Schullektüre verschrieben werden, sind sie Remedium, aber keine Literatur.

           

 

Streifschuss vom 26. April 23

 

Anlass: Wer in einem gewissen Alter nicht merkt, dass er hauptsächlich von Idioten umgeben ist, merkt es aus einem gewissen Grunde nicht.

 

Battle of Oldtimer

 

Ich kenne einen netten älteren Herrn, der sitzt meist in einem RCN Walker Gehwagen, da er recht unruhig ist und nicht mehr so gut alleine laufen kann. Auf diese Weise bleibt er mobil. Er redet manchmal verrücktes Zeug, das niemand so recht versteht,  ist aber ein total freundlicher und zugewandter Mann, der positiv auf die Öffentlichkeit wirkt. Alle mögen ihn. Auch er würde sich zum Präsident eignen, keine Frage.

Wenn im nächsten November (im Jahr 2024) die 60. Wahl eines US-amerikanischen Präsidenten stattfinden wird, treten vermutlich zwei Abrahams an. Sollte vorher Russland nicht noch ihre taktischen Atomwaffen taktlos einsetzen – und die auf dem Straßenpflaster fest geklebte letzte Generation Z in den aufgewärmten Himmel schießen. Derzeit wird daher in den Nachrichten sehr viel über das Alter kommentiert. Biden und Trump sind ja etwa gleich alt. Würde das geplagte Volk der Vereinigten Staaten Trump wählen, wäre dieser nicht der älteste Präsident aller Zeiten, weil Biden immerhin gute zwei Jahre älter ist und Trump ihn nur einholen kann, wenn er verliert, noch mal 2028 antritt und dann gewinnt. Beide Kandidaten erinnern mich nicht im Entferntesten an den netten älteren Herrn in seinem RCN Walker Gehwagen, nein nicht im Geringsten. Joe Biden käme ihm noch am Nächsten. Aber dessen Freundlichkeit könnte auch medial aufgesetzt sein. Den älteren, netten Herrn in seinem RCN Walker Gehwagen kenne ich schließlich persönlich und bin von seiner grundsätzlichen Aufrichtigkeit und Lauterkeit absolut überzeugt. Denn sein mentaler Zustand lässt ihm für die Täuschung kaum kognitiven Spielraum. Vielleicht wäre ein dementiell veränderter Präsident des mächtigsten Landes der Welt sogar ein Glücksfall, da diese Menschen eine Form des Hier und Jetzt leben und sich so in einer Form von Aufrichtigkeit und geistiger Wahrheit präsentieren, dass ihre Handlungen nicht mehr in Frage gestellt werden könnten. Aber Alter und Demenz sind keine selbstverständliche Kohärenz. Daher empfand ich die lästernden Kommentare in den Nachrichten über das Alter der Kandidaten unangenehm. Wir leben in einer überalterten Gesellschaft und Jugendlichkeit ist kein Garant für Intelligenz, Tatkraft und politischem Feingefühl. Die vielen jüngeren Optionen in den USA sind nicht umsonst übergangen worden. Es sind viele unsägliche Pfeifen darunter, wie der Hochstapler George Santos, der ein bisschen dem Abituranwärter Philipp Amthor ähnelt.  Oder der Mafia-Boss Ron de Santis, dem Viktor Orban der USA.  Oder der indische Tech-Unternehmer Vivek Ramaswamy, der  Rassismus okay findet, wenn man nur ordentlich damit verdient. Nikki Haley, die aber nur im einprozentigen Bereich liegt und Trump kaum gefährlich werden kann, die wird untergehen, so wie sie immer wieder betont, dass das angeblich mit den USA droht, wenn die Konföderierten-Flagge nicht mehr wehen darf wie sie will. Alle sind sie unter 50 Jahre alt. Gut. Besser? Nö. Gar nicht. Idioten gibt es in jeder Altersstufe,  und nette Leute sind auch mal alt. Klar. Ich vermaledeiter Baby-Boomer verteidige mich hier doch nur selbst oder? Sicher. Ich bin nun auch bald alt. Zu Trump und Biden fehlen mir allerdings noch gute 25 Berufsjahre. Was ich nicht verstehe ist, warum man sich mit 83 Jahren noch so was antun will. Ich wollte schon jetzt niemals Präsident werden.  Präsident sein ist doch furchtbar anstrengend oder? Ist das wirklich Verantwortungsgefühl? Möglich kann das ja sein, und dann sind Trump und Biden keine alten Säcke, sondern Helden des modernen Politik-Trash. Superman ist schließlich auch schon 90 Jahre alt. Es war das Jahr 1933 als er zum ersten Mal in Ohio die Welt rettete, selbstverständlich mit Hilfe von Telepathie und Telekinese, die Kräfte die ihm Jerry Siegel in seiner Kurzgeschichte The Reign of the Super-Man aus dem Jahr 1933 gab. Und mal ehrlich: Adolf Hitler war doch damals viel zu jung für diese heroische Aufgabe der Errichtung eines 1000jährigen Reiches.

 

Streifschuss vom 25. April 23

 

Anlass: Ein Rentner ist eine nicht mehr oder überwiegend nicht mehr erwerbstätige Person (Wikipedia)

Wie jede Blüte welkt

 

Vor ein paar Wochen spürte ich, dass ich allmählich das nötige Alter erreichen würde, das mich zum Rentner qualifiziert. Daher füllte ich am Abend bei einem Glas Bier schon mal probehalber einen Rentenantrag aus auf der Internetseite der Deutschen Rentenversicherungsanstalt aus. Das dauerte dann doch über eine halbe Stunde, all die Fragen zu beantworten, die mir der Algorithmus stellte. Darunter waren viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte. So probierte ich verschiedene Antworten aus, solange bis der Algorithmus die Antwort akzeptierte und mich so für weitere Fragen als geeignet einstufen würde. Ich war sicher schon beim zweiten Glas. Immer noch wurden mir Fragen gestellt. Das nennt man einen guten Lauf. So dachte ich zumindest. Immerhin war ich zu meiner eigenen Überraschung weiter gekommen, als ich mir erhofft hatte. Zwischenzeitlich wollte ich mein Vorhaben dennoch abbrechen. Ich gehöre nicht zu den sehr ehrgeizigen Menschen, verlange nichts Unmögliches von mir. Aber ich war so weit gekommen! Diesmal wollte ich mir selbst etwas beweisen und blieb dran. Früher hätte mich der Algorithmus schon beim Geburtsdatum aus dem Programm geworfen. Also machte ich tapfer weiter. Und ich kam tatsächlich zum Ende. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Nun war nur noch ein Fragebogen übrig. Den musste ich ausdrucken, denn den gab es nur als PDF Datei. Es ging dabei um meine Gefühle. Also wie ich mich fühle, was die Rentenversicherungsanstalt für mich tun könnte, damit ich nicht in Rente müsse und solche Dinge. Das fand ich alles recht absurd und komisch. Ich füllte den Fragebogen dennoch komplett aus. Ich fühlte mich an dem Abend – trotz des überraschenden Erfolgs - nicht so besonders gut, und kreuzte das im Fragebogen an. Bei der Frage, was die Rentenanstalt tun könnte, damit ich nicht in Rente müsse, schrieb ich „nichts“ rein. Das war wahrheitsgemäß. Was sollte die Rentenanstalt tun können? Mir fiel nichts ein. Jungbrunnen gibt es nicht. Diesen Fragebogen schickte ich dann mit einem Anschreiben per Post an die Rentenversicherungsanstalt nach Berlin. So war es Vorschrift. Nach drei Wochen – ich hatte das längst vergessen und abgehakt,  es war ja nur ein Probelauf – bekam ich Post von der Rentenversicherungsanstalt. Einen dicken Brief mit weiteren Fragebögen. Diese warf ich ohne groß einen Blick auf sie zu werfen in den Papierkorb. Ich hatte mir ja selbst bewiesen, dass ich es kann. Ich kann Rentner – zumindest online. Eine Woche später kam wieder ein Brief der Rentenanstalt mit weiteren Fragebögen. Aber diese waren nicht für mich, sondern sollten von meinem Arzt ausgefüllt werden. Was hat ein Arzt damit zu tun? Außerdem bin ich nicht in einer ärztlichen Behandlung, weder körperlich noch seelisch werde ich von einem Mediziner betreut. Ein kurzer Blick zeigte mir, mein Zahnarzt könnte die Fragen nicht beantworten. Also warf ich auch diese Fragebögen ohne große Notiz davon zu nehmen in den Papierkorb zu den anderen verworfenen Fragebögen. Vermutlich wartet die Rentenanstalt nun auf all die Fragebögen, die ich in den Papierkorb geworfen hatte. Und ich warte auf weitere Fragebögen, die ich in meinem Papierkorb entsorgen werde. Nun, in meinem Alter und nach so vielen Berufsjahren wäre ich reif dafür, weniger zu arbeiten, oder sogar gar nichts mehr zu arbeiten, hatte ich jedenfalls angenommen. Ich würde dann in Ruhe meine Memoiren schreiben und die Bücher lesen bzw. wiederlesen die ich noch lesen und wiederlesen wollte, aber nie dazu gekommen bin, weil ich eben noch arbeiten muss. Leider ähnelt die Rentenanstalt mehr einer Quizveranstaltung. Also stelle ich mich darauf ein, an der Arbeit zu sterben. In unserer neumodischen Zeit ist das Sklavendasein erträglich. Ich muss weder Steine schleppen, noch klopfen. Der Stein, den man heute auf den Berg rollen muss, immer wieder und immer wieder, besteht aus digitalen Flächen auf denen wir immer und immer wieder das ankreuzen müssen, was zutrifft bzw. wovon der Algorithmus durch Programmierung überzeugt ist, es müsse zutreffen. An diesem ewigen multiple choice werde ich für den Rest meiner Tage meinen digitalen metaphorischen Stein schleppen. Er ist nicht schwer. Er ist nur wie der Stein des Sisyphos: Kaum auf den Berg gerollt, rollt er wieder runter. Auf den letzten Fragebogen folgt wieder ein neuer Fragebogen ad infinitum ad nauseam. Mein von mir erhofftes rein analoges Rentnerdasein kann ich vergessen. Das gibt es nicht mehr.
 

Streifschuss vom 09. April 23

 

Anlass: feierlich und öffentlich

 

Actus fidei

 

Das Autodafé hat seinen Namen aus dem Portugiesischen o auto de fe, feierlicher Akt des Glaubens. Meist verbrannte man mit den Büchern zugleich die Menschen. Man nannte es ein Glaubensurteil. Schließlich brennen nur die Ungläubigen.

In einem Monat jährt sich die Bücherverbrennung (10. Mai 1933) zum 90ten Mal. Die Vernichtung von Textmaterial in ganz Deutschland war nicht symbolisch.  Im Unterschied zu allen anderen Bücherverbrennungen davor, war es systematisch, überregional und lange vorbereitet. Gabriele Tergit beschreibt es in ihrem Roman „Der erste Zug nach Berlin“ aus den 1950er Jahren so: "Da die wenigsten Deutschen gewagt hatten, Bücher aus der Vorhitlerzeit in ihren Bücherschränken zu lassen, fand man fast nur Naziliteratur in Deutschland." Viele dieser Texte tauchten nie mehr auf. Die Autoren hat man zum Teil auch ermordet oder eben verjagt und vergessen.  Das ist alles bekannt und wen interessiert schon die Vergangenheit, haben wir es doch grade vor allem mit der Zukunft zu tun.
Heute haben wir eine Kulturindustrie die große Textmassen digital konserviert. In einer typischen Minute wurden 2019 über 18 Millionen Textnachrichten verschickt, Tweets von 87500 Menschen gepostet, allein Donald Trump postete 46516 Tweets zwischen 2009 und 2020. Davon wurden allerdings 800 von seinen Mitarbeitern gelöscht.  Im Jahr 2019 erfasste der Crawl-Vorgang im UK-Web Kopien von über sechs Millionen Websites. Obwohl die Zahl ständig wächst, verschwinden jährlich 30 bis 40 Prozent der Websites oder Blogs aus dem Netz und die meisten Archive die das archivieren sind (wie die Wayback Machine aus Kalifornien) private Initiativen mit zum Teil kommerziellen Motiven. Hier bedarf es nicht einmal mehr eines Feuers.

 Wenn Texte verschwinden, dann ist das nicht nur eine schöngeistige Lappalie. Verschmerzbar, weil der verschwundene Text und der verschwundene Autor ohnehin nicht zu den großen Autoren gehörte (wer auch immer das bestimmt).  Es kann zu echten Katastrophen führen. Anfang unseres Jahrtausends, im Jahr 2001 wurden bei dem US-amerikanischen Energiekonzern Enron zahlreiche Bilanzfälschungen festgestellt. Der Skandal um diese Enthüllungen flog auch G.W. Bush ziemlich um die Ohren. Erwähnenswert ist dieser Betrug deshalb, weil Enron-Mitarbeiter eine große Zahl Emails einfach löschte und Wirtschaftsprüfern den Zugang zu digitalen Informationen erschwerten. Und hier bei diesem Problem geht es nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft. Denn auch wenn die Mitarbeiter vergangene Straftaten verschleiern wollten, wurden wesentliche und extrem wichtige Informationen über Lagerungsdaten radioaktiver Abfälle mit gelöscht. Schon jetzt, dank Enron weiß man bei bestimmten radioaktiven Abfällen nicht mehr, wo die eigentlich geparkt sind. Das Wissen darüber sollte wenigstens 500 Jahre gesichert sein. Radioaktive Fässer sind kein Hausmüll. Inzwischen sind viele Archive Hackerangriffen ausgeliefert. Da diese Archive von geplünderten Staatskassen nur mäßig finanziert werden können, ist deren Wehrhaftigkeit gegen solche Angriffe reduziert. Wikipedia ist ständig von solchen Angriffen bedroht, vor allem durch PR Unternehmen, die kommerziellen Interessen bedroht sehen durch kritische Artikel. Der Verlust von solchem Wissen ist nicht nur ein Wissensverlust, sondern eine Form der die gesamte Menschheit gefährdenden Systemdemenz. Und Demenz zeichnet sich weniger durch Vergesslichkeit aus, sondern durch den Verlust von Handlungsfähigkeit (deren Grundlage natürlich das Wissen ist, das man vergaß). Unser Wissen ist im digitalen Zeitalter explodiert, ebenso der Unsinn. Ein gewisser Schwund könnte sogar kathartisch wirken,  wenn nicht dabei zentrales und für uns alle lebenswichtiges Wissen verloren ginge. Aber wer soll das entscheiden? Vielleicht ist es ein Trost, dass nicht nur unser Wissen fragil ist und jederzeit durch einen Hackerangriff oder ein Enter gelöscht werden kann, sondern auch der Unsinn. Aber ich fürchte, dass der Unsinn resilienter ist, als das Wissen. Jedenfalls sieht man das daran, wie viele der Initiatoren der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 – damals noch Studenten – im NS-Regime Karriere machten und nach 1945 ihre Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien weiter führten, von der deutschen Industrie hofiert wurden und von der US amerikanischen Regierung zur Bekämpfung des Kommunismus genutzt wurden.
Gut, es gab auch ein paar Glücksfälle. Zum Beispiel wurde der lautstarke Befürworter des Arierparagrafen Graf Starnhemberg (ein Hitlervertrauter, der schon beim Marsch auf die Feldherrnhalle dabei war), 1955 bei einem Spaziergang in Schruns von einem kommunistischen Journalisten fotografiert. Darüber regte sich der Graf derart auf, dass er an Ort und Stelle an einem Herzinfarkt verstarb. Solche Glücksfälle sind allerdings sehr selten. Und der Graf galt schon immer als Hitzkopf.
Was also hat uns die alte Nazikomödie vom undeutschen Geist gelehrt? Wissen, sagte einst einmal Albert Einstein, heißt zu wissen, wo es geschrieben steht. Und dass es da auch weiter steht und stehen bleibt, könnte man hinzufügen.

Streifschuss vom 04. April 23

 

Anlass: Ich bin die Menge die die Menge nicht enthält

 

metamedialer Diskurs

 

Ein Schulsenator aus Hamburg beschwerte sich bei einer öffentlichen Veranstaltung über die mediale Berichterstattung zum Pandemie-Thema mit den recht drastischen Worten „hingerotztes Gelaber“. Eine Schülerin, die an der Veranstaltung teilnahm, war entsetzt und schickte einen Mitschnitt der Rede an die Redaktion der Zeitung Spiegel. Diese veröffentlichte dann die Medienschelte des Schulsenators, worauf dieser sich rechtfertigen musste und öffentlich entschuldigen. Betrachtet man diesen Vorfall auf einer Metaebene, dann handelt es sich bereits um einen Klassiker. Die Medien sind die Botschaft, wie es McLuhan einmal formulierte. Sie informieren über die wissenschaftlichen Vorgänge mit dem Auftrag, diese in einer allgemeinverständlichen Sprache mitzuteilen. Zugleich informieren sie über die politischen Agenten und deren Handlungsweise. Dabei findet in der Auswahl der Texte eine Redaktion statt. Die vermittelte Wirklichkeit ist damit nicht mehr kongruent zur zeitgleich ablaufenden außermedialen Wirklichkeit. Da nun die mediale Wirklichkeit eine Art Blaupause für die außermediale Wirklichkeit abliefert, sind alle Agenten (die Forscher, die Politiker und die Journalisten) verwirrt. Es gleicht einer Massenpsychose. Die außermediale Wirklichkeit ist nicht vollständig erfassbar. Die Medien müssen sich redaktionell abstimmen und es wäre vermutlich noch schlimmer, wenn sie versuchen wollten die komplette real existierende Wirklichkeit abzubilden. Wer würde sich da noch auskennen? Wer könnte noch die Wahrheit von der Lüge trennen? Und so erscheint die mediale Wirklichkeit als außermediale Wahrheit. Die einzelnen Agenten befinden sich alle außerhalb der Medien. Auch der Medienagent darf nicht mit dem Medium selbst verwechselt werden und befindet sich außerhalb der Medien, wie ein Schauspieler, den man nicht mit seiner Rolle verwechseln sollte.  Die so entstandene zweite Wirklichkeit durch die Medien vermittelt eine Geschlossenheit einerseits und imitiert die Diversität der außermedialen Wirklichkeit andererseits. Der Diskurs wird so immer kurioser, denn er kann ja nur innerhalb der Medien stattfinden, da diese das Wahrnehmungsfeld ist auf die sich die Agenten geeinigt haben. Doch die einzelnen Agenten sind wirkliche, außermediale Personen. Die permanente Reduktion durch die Redaktion sorgt dann für große Unruhe, für Missverständnisse und Verwirrung. Dies ist nicht die Schuld der Redaktion, sondern ein Ergebnis der Unschärfe und mangelnden Kongruenz der zwei Welten. Inzwischen gibt es auch zahlreiche Metamedien, die wiederum die innermediale Kongruenz zwischen vermittelten Fakten und wirklichen Fakten überprüfen. Doch das ist ein Teufelskreislauf. Denn die Metamedien bräuchten nun ihrerseits wieder ein Metamedium, das die Metamedien überprüft. Es entsteht so bei den außermedialen Agenten eine zunehmende Medien-Fatigue. In einer immer komplizierter werdenden Welt benötigt man eine geradezu heldenhafte Entscheidungskompetenz die auch noch einen kaum mehr zu bewältigenden Grad an Informiertheit impliziert. Auf höchstem Niveau können die wenigsten Medienträger agieren, weil ihnen dann niemand mehr folgen mag oder kann. Der Medienauftrag eine breite Öffentlichkeit zu informieren stößt daher auf eine außermediale Mauer. Das ist die Wirklichkeit die ohne Fernseher, ohne Internet und ohne Smartphone nach wie vor existiert. Die wenigsten aber glauben noch daran, dass es so eine Wirklichkeit tatsächlich gibt, also eine Wirklichkeit die nie in den Medien vorkommt. Das ist der Vorteil einer bescheidenen Existenz wie der meinen. Die Schnittmenge meiner außermedialen Wirklichkeit mit der medialen Wirklichkeit ist aufgrund meiner Bedeutungslosigkeit sehr klein. Daher erscheint mir meine Wirklichkeit größer als die mediale Wirklichkeit. So bleibe ich für mich stets metamedial. Gegen Medien-Fatigue hilft daher echtes Leben. Was auch immer das sein soll.  Alles das, was nicht in der Zeitung steht! Das bin ich.

 

Streifschuss vom 21. März 23

 

Anlass: traumatische Blitze aus der Vergangenheit

 

Triggerwarnung

 

Gewalt, Rauchen, Alkohol, Schimpfwörter. So sieht man es auf der linken Seite oben wenn man zum Beispiel auf Amazon Prime Filme anschaut. Das suggeriert die undifferenzierte Vorstellung, Raucher seien zugleich gewalttätig, würden ständig saufen und fluchen. Zugegeben in meinem Fall trifft das ja zu, ich prügele mich täglich fluchend durch die öffentlichen Verkehrsnetze und endlich zu Hause angekommen, Bier aus dem Kühlschrank und Kippe in den Mund. Aber nicht jeder Raucher neigt zu Gewalt und nicht jeder Gewalttätige raucht. Da nun nicht jeder Raucher böse und moralisch defekt ist und nicht jeder Alkoholiker zu einem unflätigen Wortschatz neigt, wird diese Triggerwarnung problematisch. Es diskriminiert Süchtige. Und es diskriminiert Menschen mit eingeschränktem Wortschatz. Mit dem berühmten N*Wort ist das womöglich anders. Aber ich vermute starke Parallelen. Dass sich ein Mensch mit durch den Zufall der Natur getönter Haut geschockt fühlt, wenn er in einem deutschen Klassiker der Literatur über hundert Mal das N*Wort liest und dazu von N*Musik die Rede ist, ist nachvollziehbar. Denn das Opfer hat immer Recht. Nicht der der beleidigt definiert, was eine Beleidigung ist, sondern der, der sich beleidigt fühlt. Der aktuelle Diskurs über die Schullektüre „Tauben im Gras“  ist daher nicht ganz unproblematisch. Ausgelöst hat ihn eine schwarze Lehrerin, die sich geschockt fühlte und den Roman als Schullektüre verbieten lassen will. Ändern lässt sich der Roman wohl nicht mehr. Der 1906 in Greifswald geborene Autor des aktuell problematischen Buches „Tauben im Gras“ war politisch unverdächtig, kein Nazi, eher linksliberal, aber auch kein Widerstandskämpfer. Sein Roman ist im Bewusstseinsstrom geschrieben und knüpft an Werke wie Ulysses oder Berlin Alexanderplatz an. Es zählt daher zu den klassischen Meisterwerken deutscher Literatur und wird bislang durchaus zu Recht an den Schulen besprochen. Der Roman erschien im Jahr 1951, als der Jazz allgemein als N*Musik bezeichnet wurde, was damals wie heute rassistisch zu werten ist. Denn es gab natürlich genügend Weißbrote, die Jazz-Musik machten. Und selbst wenn nicht, ist das Wort selbst schlicht wertend. Aber in dem Roman wird ja nicht gewertet, sondern dargestellt (nicht vorgestellt). Es ist in gewisser Weise mimetisch zu sehen. Doch wie immer bei jeder Buchlektüre von solchem Anspruch könnte man durchaus vom Autor ein empfindsameres Sprachverständnis erwarten, wenn dieser Anspruch doch sonst im Text deutlich spürbar ist. Das Kultusministerium weist das Ansinnen allerdings zurück. Der Roman sei für den Unterricht geeignet. Er zähle zur bedeutenden deutschen Nachkriegsliteratur. Mit ihm könne man den jungen Menschen vermitteln, was Rassismus sei. „Genau dies begründet eine wesentliche Anforderung an Literaturunterricht, nämlich Literatur in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen“, antwortet das Ministerium. Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Magdalena Kißling von der Universität Paderborn hält dies dagegen für unrealistisch. Die Lehrkräfte seien oft nicht dafür ausgebildet, Rassismus in der Literatur zu erkennen: „Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen.“ Außerdem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht noch nicht ausgereift genug, so zitiert sie der SWR. Soweit die problematische Faktenlage. Junge Menschen im Alter von 17 oder 18 Jahren, die von der Professorin für zu unreif betrachtet werden, die nötige Differenzierung von Literatur und Realität nachzuvollziehen, und ein Ministerium, das darauf pocht, dass es gerade die Aufgabe der Schule sei, diese Differenzierungsfähigkeit zu lehren. Dagegen eine Professorin, die eins drauflegt. Nicht nur die Schüler, auch die Lehrer sind eigentlich unfähig. Die Lehrer verfügen nicht über die Ausbildung, Rassismus zu erkennen und die Differenz zwischen Literatur und Realität an undifferenzierte Schüler zu vermitteln. Es kann einem schon schlecht werden dabei. Denn wie verfehlt ist dieser Diskurs. Ein Schwarzer, eine Schwarze liest hundert Mal das N*Wort in einem als genial bekannten Romans und fühlt sich völlig zu Recht schlecht dabei. Literatur darf man kritisieren. Egal ob der Roman gestern, vorgestern oder heute geschrieben wurde. Wir sind alle als Lebende Zeitgenossen. Wir lernen kulturelle Besonderheiten, erfahren, dass es mal eine nationalsozialistische Diktatur in Deutschland gab und dass sehr viele das gut fanden. Aber das muss man ja deswegen heute nicht mehr gut finden. Man kann, soll und muss den Roman von Wolfgang Koeppen kritisieren, wenn er ideologisch problematische Inhalte weiter tradiert – ob gewollt oder ungewollt, weil unbewusst. Koeppen war ein Kind seiner Zeit. Das entschuldigt ihn nicht, relativiert allerdings unser Verständnis. Aber es ist nicht in Ordnung, und es war nicht in Ordnung. Und wir müssen, sollen, dürfen darüber mit aller Dissonanz streiten. Das Problem entsteht, wenn dieser Streit zu einer formalistischen Sprachregelung wird. Dann sind wir mitten im Stalinismus und der Zensur angelangt. Und das darf auch nicht sein. Also fetzen wir uns und bleiben bei der Sache. Die betroffene Lehrerin, die diesen Stein ins Rollen brachte gilt es mit aller Sanftmut zu behandeln und es ist ihr gutes Recht zu diesem Text „nein“ zu sagen. Aber in einem Federstrich Lehrer und Schüler für unfähig zu erklären, wie es die Literaturprofessorin machte, das erscheint mir viel schlimmer. Was passiert da? Was ist da mit der Bildung los? Zensur ist immer dann verstärkt, wenn wir in einer Welt leben, der die nötige Anmut fehlt. Und dieser Mangel an Anmut ist kein natürlicher Mangel, sondern ein kulturelles und auch moralisches Defizit. Nicht Zensur, sondern den Bildungsauftrag wirklich ernst zu nehmen tut daher eher not.
So wie ich es in meiner Einleitung mit der Triggerwarnung illustrierte, gehört zur Sprache immer der Leib und die Differenz zwischen Leib und Sprache darf man nicht vergessen. So wurde jüngst die mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnete Lyrikerin Judith Zander Opfer eines gewaltigen Shitstorms, weil ein Gedicht von ihr auf Facebook scheinbar nicht den Massengeschmack traf. Sie verwendete ungewohnte Enjambements (Zeilenbrechungen) in ihrem Gedicht und spielte mit den Worten und ihrer Bedeutung. Das war einigen Lesern die nicht gewohnt sind Gedichte zu lesen offenbar zu viel und sie vermissten die Regeln der Grammatik. Nun. Regeln machen Menschen. Und Menschen machen Regeln. Wenn wir uns ändern wollen, dann müssen, sollen und dürfen wir Regeln brechen.  Wir müssen, sollen und dürfen das immer kritisieren und vor allem dann, wenn es moralische Konsequenzen hat. Wenn das Prépon, das Quid deceat, das was sich ziemt, nicht mehr funktioniert
, sollten wir nicht am Alten kleben, sondern uns fragen, was sich geändert hat. Es geht um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit. Klar, Literatur konserviert Vergangenheit. Aber das dient uns zur Gestaltung der Zukunft. Und wenn unsere Lehrer und Lehrerinnen nicht mehr in der Lage sind den Schülern den Unterschied zwischen früher und heute zu erklären (laut der Literaturprofessorin), dann fühle ich tiefstes Bedauern.

Schlussfolgernd stelle ich fest, dass der Diskurs über Sprache seinen Zweck verfehlt, wenn wir das durch Sprache Gemeinte nicht mehr entschlüsseln können. Statt den Roman von Wolfgang Koeppen als Schullektüre zu verbieten (der einfache Weg), wäre es sinnvoller, den Literaturunterricht in den Schulen zu stärken. Durch mehr Zeit, mehr Gewicht. So würde auch der Status von Literatur gegenüber den MINT-Fächern wieder an Bedeutung gewinnen und wir würden unseren derzeitigen Mangel an Deutungsfähigkeit wieder kompensieren. Das könnte helfen. Denn wenn wir nicht mehr deuten können, was wir sprechen, schreiben, verlieren wir alles. Die Fähigkeit Widersprüche und Unklarheiten auszuhalten ist ein Teil unserer Resilienz. Wir Menschen sind alle uneindeutig. Wir sind immer mehrdeutig, vielschichtig und komplex im guten Sinne. Das ist ein wichtiger Teil der menschlichen Schönheit. Werden wir dagegen eindeutig, dann verlieren wir unsere Menschlichkeit.

 

Streifschuss vom 09. März 23

 

Anlass: ein Fleischbällchen zwischendurch

 

Joe Fleischhacker

 

Seit ewigen Zeiten wird uns erzählt, der Kapitalismus sei gleichbedeutend mit dem freien Markt. Dieses neoliberale Ammenmärchen glauben viele immer noch. Dabei ist der Kapitalismus das Gegenteil davon, Lenkung, Absprachen, Manipulation. Der Kapitalismus hat mit dem freien Markt so viel gemeinsam wie die lila Milka-Kuh mit einer echten Kuh. Der Kapitalismus ist ein Raubtier. Und wir verhalten uns wie Hühner, die hin und wieder nach einem Körnchen picken, ohne uns darüber bewusst zu sein, dass man uns bald den Kopf abschlagen, uns braten und fressen wird. Wir Konsumenten, wir Verbraucher sind Masthühner. Und die vom Optimismus verblödete Masse serviert sich auch noch pikant gewürzt freiwillig auf dem Teller. Arglose Kreaturen wie wir, nützlich Idioten des Systems haben es dann auch nicht verdient, Wohlstand außerhalb des kapitalistischen Schlachtbetriebs zu genießen. Tagtäglich sehe ich heruntergekommene Menschen, die sich fröhlich ausbeuten lassen. Sie lieben alle ihr Sklavendasein, warten ehrfürchtig auf den Schlachtmeister und beißen die, die anders sind, die nicht versklavt und ausgebeutet werden wollen, die diesen Union Stockyards Wohlstand ablehnen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich schätze, die meisten unter uns sind einfach dumm.

 

Streifschuss vom 01. März 23

 

Anlass: Alles Geschaffene ist vergänglich. Strebt weiter, bemüht euch, unablässig achtsam zu sein." - Letzte Worte, 483 v.Chr. - Digha Nikaya, 16.6

 

Frei und ungebunden

 

Fußgänger dürfen bei Rot über die Ampeln gehen. Zwei Gründe sprechen dafür. Erstens haben Automobile serienmäßig eingebaute Bremsen. Zweitens neigen Autofahrer zu der Überzeugung, es sei für sie nicht vorteilhaft, Fußgänger über den Haufen zu fahren. Einschränkend sei zu erwähnen, dass Kinder die an Ampeln stehen dazu neigen, den Erwachsenen zu folgen. Und Kinder werden von Autofahrern leichter übersehen, weil sie nicht über die Kühlerhaube reichen. Daher ist es nur natürlich, dass Kinder die an Ampeln stehen von erwachsenen Fußgängern als lästig empfunden werden. Fußgänger sind in der Regel langsamer als Automobile und daher haben sie auch weniger Zeit, um gemütlich an roten Ampeln zu stehen und zu warten, bis der von der Straßenverkehrsbehörde programmierte Algorithmus die Farben wechselt. An meiner Straße die ich täglich überquere, um zur U-Bahn zu gelangen, schaltet die Ampel nur zwei Mal am Tag für Fußgänger auf Grün. Daher muss ich dort ein erhöhtes Risiko eingehen. Kinder die an dieser Ampel stehen, schränken meine Existenzberechtigung als kapitalproduktives Mitglied dieser Gesellschaft erheblich ein. Sie wirken dann auf mich wie lästige, unproduktive Stolpersteine. Meist werden diese unproduktiven Kinder auch noch von latent aggressiven Müttern begleitet, jederzeit bereit zuzuschlagen und einfachen, gehetzten Männern wie mir eins auf die Nase zu geben. Wie lösen wir diesen Konflikt? Nun. Ich könnte behaupten, ich hätte dieses kleine Kind gar nicht gesehen. Aber ich bin kein Autofahrer und habe auch keine Kühlerhaube. Ich könnte der Mutter einen gemeinsamen Kampf gegen die Straßenverkehrsbehörde anbieten. Aber – ich bitte Sie – kennen Sie Mütter, die bereit wären, gegen die Straßenverkehrsbehörde zu kämpfen? Noch dazu wäre das auch sinnlos, da diese von einem Algorithmus kontrolliert wird. Und der Diskurs mit einer Mutter, die einem einfachen, gehetzten Mann Prügel androht jetzt auch noch einen Algorithmus zu erklären und mit ihr die Singularität unserer Gesellschaft zu erläutern, erscheint mir als gewagt, wenn nicht als gänzlich unsinnig. Also bleibt als Lösung des Konflikts nur übrig, nicht nur das kleine unproduktive Kind, sondern auch die aggressive Mutter dieses unproduktiven Kindes einfach zu übersehen. Einfach weiter gehen, schnell weitergehen und so tun, als wäre man gar nicht gemeint gewesen. Weg und schnell zur U-Bahn, auf deren Kommen und Gehen man ja auch keinerlei Einfluss hat. Sympathisch wirkt das nicht. Es ist halt nicht anders zu lösen. Diese täglichen Probleme mögen Ihnen vielleicht klein erscheinen. Aber die Energie, die man für solche Konflikte im täglichen Verkehrsraum verpulvert, fehlt dann wiederum für die kapitalproduktive Existenzführung. Abgehetzt und von Müttern beschimpft, von algorithmisch kontrollierten Ampeln terrorisiert, von durchgetakteten  öffentlichen Verkehrsmitteln gnadenlos abhängig, wünscht man sich tatsächlich manchmal ein Automobil mit einer großen Kühlerhaube, einer Stoßstange die alles wegräumen kann, was sich einem in den Weg stellt. Es ist insofern ein großes Wunder in unserer Welt, dass Autofahrer bremsen. Sie tun es. Sie bleiben sogar tief in der Nacht an roten Ampeln stehen und warten geduldig auf das große Nichts. Autofahrer sind die wahren Buddhisten der Moderne. Sie sind frei und ungebunden, und das macht sie großherzig.

 

Streifschuss vom 20. Februar 23

 

Anlass: Die Familie ist eine Jauchegrube voller Monster

 

The Munsters
Monster sind ein Teil des Menschengeschlechts (Augustinus von Hippo)

 

Jassir Arafat wird gerade PLO-Führer seiner Al Fatah. Die Amis ziehen sich aus Vietnam zurück und behaupten sie seien zu Hause besiegt worden. Böll bekommt den Nobelpreis. Der Stonewall- Aufstand begründet die Geburt des Christopher-Street-Days (seit September ist in Deutschland Homosexualität nicht mehr strafbar). Neil Armstrong (21. Juli 1969 3.56 Uhr MEZ) und nach ihm Buzz Aldrin betreten nacheinander als erste Menschen den Mond. Ich glaube nicht, dass es auch nur einen Fernseher gab, der nicht auf dem Kanal eingestellt war. „Mondlandung“ ist ein Wort, das zu den hundert Wörtern des 20. Jahrhunderts gewählt wurde. Eine ganz andere Mondlandschaft gilt es jetzt zu beschreiben: 10.12.1969. Ein Bild, von dem ich beschlossen habe, es abgöttisch zu lieben. Ich bin umrahmt von meinen Halbgeschwistern, die mein Erzeuger (und Kameramann dieses Bildes) in zweiter Ehe zeugte. Zwei weitere Halbgeschwister aus seiner ersten Ehe laufen noch in Wien herum, die kenne ich gar nicht und lege auch keinen Wert darauf. Wir sitzen in scheinbar trauter Eintracht mit dem Hosenboden auf dem Perser-Teppich. Alle drei haben wir die Füße ausgestreckt, so dass man das Sohlenprofil von sechs Hausschuhen sieht. Auf dem Polstersessel hinter uns sitzt unsere Mutter, lässig hat sie ihr rechtes Bein über das linke geschlagen. Ihr rechter Arm liegt locker über dem Schoß. Aber mit der linken Hand scheint sie sich am Rand des pastellfarbenen Polstermöbels fest zu krallen. Sie blickt skeptisch vielleicht mürrisch nach links. Im Hintergrund sieht der Bildbetrachter einen großen Strauß Rosen. Es ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass der letzte elterliche Streit nicht lange her ist. Die Rosen wirken noch recht frisch. Auch das mürrische Gesicht meiner Mutter ist noch ganz frisch – zwei Indizien für Familienkrach. Wir alle drei haben schon unseren Schlafanzug an und einen Bademantel darüber. Marion (meine Halbschwester) ist gerade in ihrer Moppelphase – aus der sie nie ganz raus gewachsen ist. Der rosa Bademantel steht ihr prächtig. Man möchte ihr zurufen: „Sag mal baff.“ Sie schaut sehr konzentriert drein, denn sie zieht gerade einer Puppe ein Jäckchen an. Heute macht sie das mit ihrem Sohn immer noch, obwohl der schon über 30 ist. Und ich befürchte, sie macht es noch, wenn er 50 ist. Ich trainiere noch die militärische Haltung. Allerdings fällt es mir schwer, sie in dieser Sitzposition einzunehmen. Mein roter Bademantel scheint mir zu groß zu sein – er rutscht mir von der Schulter. Als einziger starre ich Richtung Kamera und imitiere das väterliche Geschäftslächeln. Es ist natürlich wie üblich ein völlig verzogenes Grinsen. Ich habe immer eine frische Zitronenscheibe im Mund. Ich habe - wie mein Halbbruder Armin neben mir - die Beine übereinander geschlagen. Bei meinem Bruder sieht es lässig aus. Bei mir möchte man kopfschüttelnd sagen: „Tu sie bloß wieder auseinander, sonst fällst du einfach um.“ Armin hat seinen Kopf seitlich nach rechts unten geneigt. Er hält ein großes Buch in der Hand und fährt mit dem rechten Zeigefinger eine Zeile ab. „Ist es die große Familien-Chronik?“, frage ich mich. Ich habe allerdings nur Augen für die Kamera. Wir sind vier. Und mit ihm, dem großen Kameramann, sind wir fünf. Die Monsterfamilie ist komplett.
 

Einen Monat vor dieser Aufnahme haben die Tupamaros in Westberlin einen Anschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus verübt. Und die Bombe? Stammte von Peter Urbach, einem V-Mann des Verfassungsschutzes! Heute (2023): über fünfzig Jahre später löst sich der Verfassungsschutz beinahe selbst auf. Natürlich von rechts. Es hat sich nichts verändert. Und betrachte ich dieses Foto, gibt es keinen Grund für mich, etwas anderes zu behaupten. Diese Familie hat sich aufgelöst in nichts, in Spurenelemente. Es war nicht einmal eine Bombe nötig. Diese Mondlandschaft von 1969 hat auch nicht mehr zu bieten als altes Geröll ohne Atmosphäre. Die dunkle Seite des Mondes aber, die spürt man.

Streifschuss vom 08. Februar 23

 

Anlass: nicht alles hat seine Zeit, weil alles Zeit braucht

 

Les- und Schreibarten

 

Es gibt zwei Lesarten. Die einen können nicht von sich lassen beim Lesen, die werden Literaturkritiker und die anderen, die Bücherwürmer, vergessen sich selbst beim Lesen, lernen mit Absicht sich beim Lesen zu vergessen. Bücherwürmer werden selten Literaturkritiker, weil sie sich dann wieder an sich erinnern müssten und das war ja beim Lesen nicht ihre Absicht. Natürlich sind das die Extreme. Die einen, die sich nicht loslassen und die anderen, die sich sein lassen. Sphären auf denen wir uns belesen. Natürlich müssen wir aufpassen. Schriftsteller sind hinterhältige Konstrukteure die es nicht sein lassen können, beim Schreiben auf ihre Wirkung zu achten. Immerzu beobachtet sich der Schriftsteller selbst, wenn er schreibt und gerät nur in seinen besten Momenten in einen Flow, einen Sog, der ihn beim Schreiben ganz von sich weg trägt. Daher sind die Romane oft so regulierte Texte. Denn die besten Stellen, dort wo der Schriftsteller sich gehen ließ, müssen gestrichen werden, wegen der Textlogik. Als wären gerade, planierte Landschaften schöner, als solche, die sich selbst überlassen wurden. Natürlich, wenn die Müllabfuhr streikt, die Straßen verfallen, die Brücken bröckeln, das Unkraut wuchert entsteht ein Dschungel voller Widersprüche und man stolpert oft, flucht über die Hindernisse, murrt über das Ungeziefer das einem das Gesicht zersticht und ist froh, wenn man endlich durch ist und in einem gepflegten Wirtshaus endlich ein gepflegtes Bier serviert bekommt, gebraut nach dem Reinheitsgebot. Autobahnen, Schienen, glatte Weg, keine Hindernisse. Wir kommen voran. Hie und da hat der Landschaftspfleger eine hübsche Allee angepflanzt, ein interessantes Kunstwerk wurde an den Straßenrand gestellt. Wir preschen Ah und Oh rufend in Hochgeschwindigkeit an den Nettigkeiten vorbei. Aber der Dschungel, das echte Leben, sperrige Sätze, ungereimte Figuren, Widersprüche, ja Unsinnigkeiten, wirres Gestrüpp, Kraut und Rüben, das ist so intensiv, dass wir uns dabei vergessen können. Wirklich vergessen können, oder uns verängstigt von all den unsicheren Plagen fester an uns selbst klammern. Das ist eine Frage der Abenteuerlust. Und Lesen ist ein Abenteuer. Keine Pauschalreise. Die muss es auch geben. Denn auch Pauschalreisen haben ihren Charme. Alles ist zubereitet, aufbereitet, der Cocktail steht bereit zum Empfang, das Hotelzimmer ist ordentlich, der Tourguide animiert uns vorbildlich und wir erholen uns königlich. Auch das ist wieder sphärisch zwischen Dschungel und Pauschalreise angelegt. Manchmal brauchen wir wirklich Erholung und keine Widersprüche bitte. Manchmal brauchen wir Anregung und jetzt bitte nicht wieder diese banalen und oberflächlichen Allgemeinplätze. Manchmal rutscht man auch auf einem Allgemeinplatz aus. Und manchmal ist es eine Lust sich durchzukämpfen. Alles hat seine Zeit? Was bitteschön ist Alles und was bitte schön ist Zeit? Genau. Manchmal wollen wir das alles nicht so genau wissen, manchmal aber brennt es uns unter den Nägeln, was per se unangenehm klingt und auch wieder seinen Reiz hat.
 

 

Streifschuss vom  03. Februar 23

 

Anlass: Eine Wunschfabrik die Mängel produziert

 

Mängelware Arbeit

 

Wir sind inzwischen an die Grenzen unserer Arbeitsteilung gelangt, dort wo die Vernunft schon wieder ins Irrationale umschlägt. Die  Maschine produziert Einschnitte und diese Einschnitte wiederum selbst Maschinen die weitere Einschnitte produzieren. Gilles Deleuze nennt dies eine Vakuolisierung. Das löchrige Aussehen gesellschaftlicher Arbeitsprozesse (vom Fachkraftmangel bis zum Kompetenzmangel) lässt sich begreifen, wenn man den Urzustand des Arbeitszytoplasmas betrachtet. Ich hatte das große Glück, in der königlich-bayrischen Psychiatrie in München in den 1990er Jahren noch die letzten Randreste nicht disjunktiver Einschnitte in die Arbeitsmaschine erlebt zu haben. Ich erzähle das an einem Beispiel:

So hatte ich in der psychiatrischen Akutstation einen Kollegen, Schwanzi nannte man ihn, Schrafstetter war sein eigentlicher Name. Ich wusste lange nicht, wie er wirklich heißt. Schwanzi arbeitete nur nachts. Er war dick, glatzköpfig und hatte keine Zähne mehr, trug auch keine Prothese (er konnte mit dem Zahnfleisch eine Schnitzelsemmel zerkauen), daher verstand man ihn oft schlecht bis gar nicht. Wobei ich mir vorstelle, dass man ihn auch mit Zähnen nicht verstanden hätte. Denn er war zweifelsfrei verrückt. Dennoch war ich immer froh, wenn ich mit ihm Nachtdienst hatte. Es waren immer ruhige und entspannte Nächte wenn Schwanzi Dienst hatte. Eine Nacht mit Schwanzi: Es ist ruhig, still, zwei Uhr nachts. Doch plötzlich, schlagartig wird die Stille durchbrochen. Ein schreiender, hoch erregter Mann kommt auf die Station, in Begleitung eines pickligen, jungen und verängstigten Assistenzarztes. Das ist normal. Sie kommen nun am Flur entlang auf das Stationszimmer zu. Der Mann brüllt und gestikuliert wild. Hätten die Gestapo Hilfsärzte (die vernünftigen Pfleger und Schwestern) Nachtdienst gehabt, wäre das eskaliert und in einer Fixierung des Patienten geendet. Doch Schwanzi tritt nun – Bauch voraus und mit ausgebreiteten Armen vom Stationszimmer auf den Flur und begrüßt den Irren. Der Irre ist sofort entspannt und grüßt zurück. Sie kennen sich. Schwanzi kannte alle Irren. Denn sie kommen immer wieder und immer wieder. Drehtürpsychiatrie nennt man das. Im normalen Tonfall miteinander redend, spazieren der Irre und Schwanzi durch den Flur. Schwanzi bringt den Irren auf sein neues Zimmer. Der Irre war sofort ruhig und entspannt, als er Schwanzi sah, denn Schwanzi war einer von ihnen.

Kein Arbeitgeber der Welt würde heute in unseren so vernünftigen Zeiten je einen Verrückten einstellen, der sich um Verrückte kümmert. Als ich damals, vor beinahe dreißig Jahren in der Psychiatrie angefangen hatte zu arbeiten (noch unter D-Markzeiten) arbeiteten noch ein paar Verrückte – kurz vor der Rente - an meiner Seite. Sie sind sicher längst verstorben. Sie waren die Idealbesetzung. Ein Kollege dieser Art erhielt geheime Botschaften von den Tabletten die er nachts stellte, ein anderer nahm die Tabletten selbst. Es war eine bunte, höchst heterogene und ineffektive Mannschaft. Die vernünftigen Ärzte haben die Irren nie geheilt. Es waren immer die verrückten Ärzte, Schwestern und Pfleger, die geholfen haben. Sie verstanden die Irren wirklich, weil sie selbst irre waren. Heute ist die Vernunft selbst irrational, weil die Spezialisten kein Produkt der Maschine sind, um die sie sich kümmern sondern von einer anderen Maschine her andocken und in disjunktiven Synthesen eine signifikante Kette produzieren, die aus Zeichen besteht, die selbst nicht signifikant sind. Wenn Zigarettenverkäufer selbst nicht rauchen, wenn Apotheker die Wirkung der Tabletten und Tinkturen nur aus der Wirkungsbeschreibung anderer kennen, wenn Politiker den Gesetzen die sie gestalten selbst nicht unterworfen sind, wenn Fußballtrainer selbst nicht Fußball spielen können, wenn Psychiater Verrücktheit nur aus Büchern lernen, wenn Fahrkartenkontrolleure selbst schwarz fahren, Regisseure nicht schauspielern können, Literaturkritiker nicht schreiben können, Frauenärzte keine Frauen sind, Sozialarbeiter weder sozial sind noch arbeiten, Jäger kein Wild essen, Bibliothekare die nicht lesen, Journalisten die von geisterhaften Bots erzeugte DPA-Meldungen verbreiten und so weiter. Die rhizomatische Struktur eines Puzzles bei dem die Stücke nie passen, das Ganze erzwungen wird, nur damit es dem Konsumenten univok erscheint. Diese Vernunft ist irrational. Aber sie stampft daher wie eine große Wahrheit. Die Arbeitsteilung wir so zu einem gesellschaftlichen Würgengel. 

 

Streifschuss vom 26. Jänner 23

 

Anlass: Metaphysische Tollheiten

 

Esse est percipi

 

Kein Bischof hat Gott je gesehen.

 

Viele, wenn nicht die meisten Menschen irren sich in der Annahme, sie wären aus sich selbst heraus bedeutend. Wir nehmen uns als unabhängige selbstevidente Wesen wahr. Das ist der Irrtum. Denn wenn ich tot bin, bin ich für die anderen nicht seiend, nur noch gewesen. Eine Gewissheit meiner selbst besteht so nur durch die anderen. Denn die anderen werden meinen Tod betrauern oder sich in irgendeiner Art gegenüber meinem Tod verhalten. Ich selbst kann das nicht, denn wenn ich tot bin, bin ich nicht. Im Angesicht meiner Sterblichkeit ist meine Selbstevidenz hinfällig. Gewiss sind für mich nur die anderen. Nur als Gattungsbegriff in der wiederholten Selbsterzeugung bin ich evident. Das ist alles. Es begann alles mit der bürgerlichen Identitätssuche. Diese ging von einem nicht seienden aus, das seiend wird. Das ist aber unmöglich. So wurde der Existenzialismus zum bürgerlichen Aggregat der eigenen Identitätssuche und versteckt so die wirkenden gesellschaftlichen Zusammenhänge. Die gemeinsame Erfahrungswelt ist ein gesellschaftliches Phänomen und in einer Warenwelt wie der unseren wird die gemeinsame Erfahrungswelt natürlich von den Waren aus gedacht.

It is indeed an opinion strangely prevailing amongst men, that houses, mountains, rivers, and in a word all sensible objects have an existence natural or real, distinct from their being perceived by the understanding. Quelle: Treatise on the Principles of Human Knowledge

So wunderte sich schon der irische Theologe George Berkeley (1685 – 1753). Eine gemeinsame Erfahrungswelt – unterstellte er als Anglikaner – sei nur durch Gottes Hilfe möglich. Er allein harmonisiert das alles.

So haben es die Theologen immer gemacht. Fragen die letztlich auf gesellschaftliche Unstimmigkeiten (warum ist der reich und der arm, warum gilt der als angesehen und der nicht) wurden ins Reich Gottes verlegt. Die eigentliche Berkeley-Frage ist also nicht, ob es eine Welt außerhalb meines Bewusstseins gibt (Außenwelthypothese, die auch Descartes mit seiner res extensa verfolgte), oder alles nur ein Traum ist (oder Gottes Willkür). Nein, die Frage ist: Wie kamen die Verhältnisse zustande, die jetzt unsere gemeinsame Erfahrungswelt ausmachen. Alle sozialen Vergleiche kommen durch die gemeinsame Erfahrungswelt des Reichtums der Warenwelt zustande. Und diese beruhen auf einer nicht vergleichbaren, auf Äquivalenz des Geldes basierenden Wahrnehmung. Den Fetisch ins Reich der Metaphysik zu verlegen war von jeher der Trick der Theologen und später der bürgerlichen Wissenschaft (die nur die Negation der Metaphysik sind, so wie der Atheist nur die Negation der Theologie). Da ich kein unabhängiges Ding bin, da es unabhängige Dinge nicht gibt, ohne einen Wert zu setzen, die Wahrheit über etwas immer einer Funktion unterliegt, ist meine Selbstevidenz ein Trugschluss. Meine Wirkung in der Welt, meine Aufgaben in der Welt unterliegen den gesellschaftlichen Bedingungen meiner Welt. Das Bewusstsein meines Selbst ist eine Frage der Praxis.

Das Durchsichselbstsein der Natur und des Menschen ist ihm unbegreiflich, weil es allen Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens widerspricht.(MEW Band 40 Seite 545)

So ist es natürlich bitter sich einzugestehen, dass die eigene Scheiße in der man steckt die Bedingungen der Welt sind, in der man steckt. Aus diesen Bedingungen kommt man nicht einfach heraus. Hier beginnt das Problem der Praxis. Meine eigene Evidenz erlebte ich im Auftauchen durch das Tun. Man kann Wasser nur begreifen, wenn man darin schwimmt.

Streifschuss vom 23. Januar 23

 

Anlass: Vom Götzen Preis

 

Der Krieg ist kinky

 

Das Wort „Kink“ bedeutete ursprünglich in den 1670er Jahren „Verdrehung in einem Seil“ auf Holländisch.(onlinesprache.de)

 

 Seit zwanzig Jahren steigen die Preise. Die Leute bekommen das gar nicht mit. Der Zusammenhang zwischen Ware und ihrem Preis ist den meisten Menschen kein Begriff. Man zahlt halt an der Kasse, was es kostet. Wenn die Waren teurer werden, dann murrt man halt. Die Preisstabilität wird aber künstlich erzeugt. So waren die Preise 2017 teilweise um 80 Prozent im Niveau gestiegen (Bundesamt für Statistik). Dagegen wurde der Leitzins 2016 auf null gefahren, um die Preisstabilität zu sichern. Da man den Leitzins nicht mehr weiter senken konnte, stiegen die Preise noch vor dem Krieg weiter an. Dass sie nun zu Kriegsausbruch weiter steigen, ist nicht Ursache des Krieges. Im Gegenteil verhindert der Krieg in der Ukraine geradezu eine Preisexplosion. Aber die Nationalökonomen haben den Menschen jahrzehntelang vorgegaukelt, dass der angeblich „freie Markt“ durch seine unsichtbare Hand durch Angebot und Nachfrage die Preise ermittle. Das ist Hokuspokus… Element der Marktregulierung laut Wirtschaftslexikon: Diese werden entweder vom Staat verordnet (Regulierung) oder privat von den Unternehmen verabredet. Mögliche Formen sind Festpreise,  Mindestpreise, - Orientierungspreise,  Preisdisziplin-Abkommen mit anderen Ausfuhrländern sowie Gebote zur Einhaltung von Listenpreisen der Erzeuger durch die Händler. In Krisensektoren sollen dadurch höhere Preise als unter Wettbewerbsbedingungen garantiert und die Einkommenslage einer Erzeugergruppe stabilisiert werden. Die Preisregulierung bezieht sich entweder auf alle oder auf die wichtigsten Produkte mit "Eckpreis"- Funktion eines Wirtschaftszweiges.
Vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2016 hat sich das Kursvolumen auf der Börse (laut Investorseite der Deutschen Bank / historische Kurse) verzehnfacht. Es ist eine einfache Rechnung, dass dieses Finanzvolumen die Preisstabilität auf dem so genannten Realmarkt destabilisiert. Der Krieg wurde geradezu eine Notwendigkeit. Die asymmetrischen Kriegsschauplätze in Afghanistan oder Irak reichten längst nicht mehr aus, um den Geldmarkt stabil zu halten.
Wenn wir heute in den Discounter gehen und über die Inflation klagen, dann sollten wir daran denken, dass ohne den Ukraine-Krieg die Inflation in den Himmel geschossen wäre. Dabei sage ich nicht, dass der Krieg in kühler Absicht quasi von den Börsen der Welt eingeleitet wurde. Das wäre wirklich Schwachsinn. Es gibt einige historische Vorbedingungen und kulturpolitische Vermengungen die als Kriegsauslöser dienten. Vom Revanchismus-Gedanken der russischen Administration seit Zerfall des Sowjet-Reiches bis zur Nation-Building der Ukraine, den gegenseitigen Provokationen der EU und der russischen Föderation. Aber auch die Kapitalakkumulation ist ein Faktor und ein Kriegsauslöser. Daran sollten wir denken und diesen Faktor nicht unterschätzen. Denn was das, was täglich auf unserem Teller liegt kostet, ist immer von Bedeutung. Und die Preisregulierung obliegt nicht dem Einzelbürger oder einzelnen Unternehmern, sondern ist eine große weltpolitische Maschine. Wenn nun an der Börse ein Volumen gehandelt wird, das man als aufgebläht bezeichnen kann, weil die dort verhandelten Gewinne noch gar nicht erwirtschaftet wurden (durch die üblichen fleißigen Händchen der fleißigen Bienchen am Arbeitsmarkt), dann entsteht ein gewaltiges Problem. Dieses aufgeblähte Geldvolumen ohne Sinn und Verstand muss weg. Und das macht der Krieg für gewöhnlich. Denn auch das gilt es zu bedenken, dass der moderne Krieg eine Erfindung der Industrialisierung ist und in seiner zerstörerischen Form zur Geschichte der Ökonomie gehört. Im 19ten Jahrhundert wurde das Gemetzel quasi rationalisiert durch allgemeine Wehrpflicht, technischen Fortschritt und völkerrechtliche Regulierung. Staaten bekämpften sich, wo es zuvor meist Schwester und Bruder waren. Die Regel ist der Bürgerkrieg. Am ehesten erschlägt der Mensch seinen Nachbarn (H.M. Enzensberger in Aussichten auf den Bürgerkrieg). Im Krieg tötet man abstrakt und hat noch nicht einmal ein richtiges Feindbild, weil man seinen Gegner gar nicht kennt. Die Frage ist also: Ist der Ukraine-Krieg ein erweiterter Bürgerkrieg zwischen Brüdern, so wie das Putin uns verkaufen will, oder ist es ein Staatskonflikt? Egal wie wir diese Frage beantworten. Der Krieg ist eine Maschine der Geldverbrennung. Und damit ein Teil der bürgerlichen Ökonomie.


 

Streifschuss vom 18. Januar 23

 

Anlass: Deutschlands neuer Torwart


Im Bild sehen Sie einen Torwart der Sportart Bandy, das ist Vorläufer des Eishockey. Die erfolgreichste Nationalmannschaft im Bandy ist die Männermannschaft von Russland.

 

Torwarte haben in den meisten Sportarten Sonderrechte
(Wikipedia)

 

Boris Pistorius, unser frischer neuer Torwart bzw. Verteidigungsminister war viele Jahre in Niedersachsen und in Osnabrück zuständig für den Schulsport. Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Referenz für einen obersten Heerführer, der eine derzeit 180.000 Mann und Frau starke Armee übernimmt. Diese Armee hat noch zusätzlich knapp eine Million Reservisten zur Verfügung und immerhin 33 Millionen wehrtaugliche Männer und Frauen. Schulleiter Pastorius steht nun dem obersten Heerführer Russlands gegenüber. Der verfügt über eine Million aktive SoldatInnen und zwei Millionen ReservistInnen, und hat ein wehrtaugliches russisches Volk von immerhin 44 Millionen zur Verfügung.
Aber nicht nur das. Pastorius hat einen Generalinspekteur (Eberhard Zorn), der nicht dafür ist (laut einem Focus-Interview) noch mehr Waffen an die Ukraine zu liefern.
Nun ist die ehemalige Familienministerin auch ehemalige Verteidigungsministerin, was wohl daran liegt, dass sie auf Twitter suggerierte Deutschland könnte sich mit Feuerwerkskörpern im Kirschblütenformat gegen die russische Armee verteidigen. Eberhard Zorn war allerdings der Meinung, Drohnen sind bessere Verteidigungsinstrumente als Knallfrösche und Lady-Cracker. Seit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 hatten wir nun 21 Verteidigungsminister. Aber das täuscht, weil unsere Ursel immerhin mal sechs Jahre am Stück auf dem Posten durchgehalten hat. Ansonsten waren es teilweise nicht einmal ein Jahr, das die Verteidigungsminister auf dem Stuhl sitzen bleiben konnten. Es gab so viele grauenvolle und nicht wehrtaugliche Politiker (Kramp-Karrenbauer, die Homosexualität für Inzest hielt zum Beispiel). Oder Rudolf Scharping, der lieber mit dem Fahrrad als mit dem Panzer fuhr, oder Guttenberg, der die Bundeswehr „abgeschrieben“ hätte. Die Wehrtauglichkeit Deutschlands sollte man trotzdem nicht unterschätzen. Viel drängender ist daher die Frage, wer wird nun das niedersächsische Sportministerium übernehmen? Und das ist so wichtig, weil auch die niedersächsischen Polizisten vom niedersächsischen Sportministerium geführt werden. Das sind immerhin 24.000 Polizisten, die uns vor den über die Nordsee auf ihren Gokstad-Schiffen einfallenden Wikingern retten können.

 

Streifschuss vom 05. Jänner 23

 

Anlass: Blicket auf zum Retterblick / alle reuig zarten / euch zu seligem Geschick / dankend umzuarten. / werde jeder beßre Sinn / dir zum Dienst erbötig; / Jungfrau, Mutter, Königin, / Göttin, bleibe gnädig

 

In Sand geschrieben

 

Sucht man nach einem Sinn und Zweck in der Geschichte der Menschen, macht man auf kollektiver Ebene das, was die meisten Menschen auf individueller Ebene auch machen. Wir suchen nach Mustern in den Geschehnissen. Doch es ist alles Chaos. Man kann Prozesse nicht vorhersagen. Man kann sie machen. Damit ist klar: Die Geschichte der Menschen ist nicht beschreibbar im Sinne realer Ereignisse, sondern wird gestaltet. Wer sich erinnert phantasiert meistens mit. Die Muster die wir zu erkennen glauben, sind Verhaltensmuster von Ereignissen. Jede Leere die sich füllt hängt ab von den Begrenzungen ihrer Leere. Keine Wohnung gleicht innen der anderen, setzt sich aber aus Dingen zusammen, die allgemein bekannt sind und die mehr oder weniger alle benutzen. Irgendwo zwischen all den indeterministischen Abweichungen liegt die Musterwohnung. Es geht um Orientierung innerhalb der Leere. Alles was sich in der Leere befindet wird zu Orientierungszwecken gestaltet. Wollte man dem Kollektiv wie dem Individuum einen Sinn unterstellen, dann den, dass es sich in der Leere zu orientieren versucht. Dieses Suchen nach Orientierung ist ein Verhalten. Das Repertoire von Verhalten ist bei Menschen ungleich größer als bei Tieren. Dieser quantitative Unterschied kippt irgendwann um in einen qualitativen Unterschied. Und dieser qualitative Unterschied zwischen Mensch und Tier ist das Bewusstsein von Sinn als Orientierung in der Leere. Die Suche nach dem Sinn ist damit selbst der Sinn. Wer aufhört nach einem Sinn zu suchen, verliert diesen Sinn gleichsam und wiederholt ganz repetitiv Verhaltensmuster. Menschen mit geringer Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen und gleichzeitig hoher Gewissenhaftigkeit suchen keinen Sinn mehr im Leben, sondern glauben ihn gefunden zu haben. In einer Religion, einer Gesinnung, einer Methode. Sie werden steif, zwanghaft und erstarren. Den letzten Sinn findet jeder Mensch daher in seinem Tod. Diese für alle zutreffende Rückkehr zur vollständigen Leere ist die Ziellinie jedes Lebens. Diesen Sinn muss man natürlich nicht suchen. Da kann man sich von Anfang an zurücklehnen und einfach warten. Wäre der Mensch jedoch definiert als Tier das auf den Tod wartet, würde alles Tun sinnlos werden. Daher suchen wir im Leben weiter nach Sinn und definieren dies als unsere eigentliche Aufgabe im Leben. Ausgestattet mit einem Sinnesapparat können wir die vielen Muster in der sich füllenden Leere des Universums erkennen und ordnen. Doch diese Ordnung ist immer instabil. Jede Leere strebt zurück zu ihrem Ursprungszustand. Jede Ordnung löst sich wieder auf. Man könnte daran verzweifeln und alles das als sinnlos erklären. Doch das ist ein Paradoxon. Denn wer alles sinnlos findet, hat so einen Sinn gefunden. Der Sinn der Sinnlosigkeit endet im Tod. Daher wäre meine Empfehlung wohlgemut weiter den Sinn zu suchen. Denn das ist ja der eigentliche Sinn der ganzen Geschichte. Jetzt hat der Sinnsucher, der sich darüber im Klaren ist, dass er ihn nie findet, weil er ihn längst in der Suche selbst gefunden hat, ein Problem der Motivation. Seine Suche wird läppisch. Es ist dann keine Suche mehr, sondern eine Sucht. Suchen um des Suchens willen fehlt gänzlich das Objekt des Suchens. Es ist selbstreferenziell und solche Art des Suchens läuft im Kreis. Daher kann man hier einen Trick anwenden. Es gibt einen höheren Sinn außerhalb des Suchens selbst. Dieser Sinn ist, wie die Ordnung instabil. Man spricht auch vom Sinneswandel. Offen und verletzbar zu bleiben, dabei nicht seine Unbekümmertheit verlieren. Es gibt einen höheren Sinn. Das kann gar nicht anders sein, denn sonst wäre es sinnlos. Dieser Pragmatismus ist eine durchschaubare Strategie. In einer Folge von „The Good Doctor“  erklärte Dr. Resnick eine Frau für tot. Sie lag zehn Jahre im Koma und zeigte keine Hirnaktivität mehr. Als man im Beisein ihres trauernden Ehemanns die Beatmungsgeräte abschaltete, beobachtete Dr. Murphy wie ein Finger der Frau zuckte. Der Ehemann wollte, dass sofort wieder die Atmungsgeräte angeschlossen würden, was Dr. Resnick etwas widerwillig auch machte. Bei einer Untersuchung stellten sie nun einen Nebennierentumor fest. Der Ehemann wollte die Entfernung des Tumors. Er hatte große Hoffnung. Die Hoffnung der Ärzte war eher gering. Dennoch operierten sie die komatöse Frau. Bei der Operation öffneten sie versehentlich die Dura des Tumors, der in der Folge hohe Mengen Dopamin ausschüttete, was das Gehirn sozusagen triggerte. Die Frau erwachte aus dem Koma. Doch das Dopamin würde in einigen Stunden abgebaut, die Frau wieder ins Koma fallen.  Die Menge an Dopamin, die nötig wäre, die Frau bei Bewusstsein zu halten, konnte nicht substituiert werden, da die Menge letal toxisch wirken würde. Sie würde daran sterben. Und so starb sie auch. Die Szene ist genial. Denn dieser medizinische Zufall ermöglichte dem Ehepaar, sich voneinander zu verabschieden. Ich erzähle diese Geschichte, weil sie es auf den Punkt bringt, was wir tagtäglich in der Leere des Universums erleben. Zufall und Sinn liegen so nahe beieinander, dass man kaum einen Unterschied erkennen kann. Es ist immer eine Frage unsere Perspektive. Wir können alle in der Leere des Universums umherwandern. Unsere Suche nach dem Sinn wird belebt. Wir finden immer wieder einen neuen Sinn im Leben. Immer wieder bis zum Ende.

 

Streifschuss vom 02. Januar 2023

 

Anlass: eine Auswahl der letzten Notizen

 

Gedanken beim Denken

 

So. Alle uns vertrauten Angestellten des Bundes haben sich nun mit ihren Weihnachts- und Neujahrsansprachen über Krieg, Viren und Gas geäußert. Es war meist langweilig, zuweilen peinlich und  vor allem belanglos. Es wäre doch viel schöner, sie würden ihre wirklichen Gedanken bringen und keine textbasierten Monologsysteme.

Hier garantiert kein Bot, sondern die Gedankenschnipsel aus dem letzten Monat des Jahres 2022:

 

1*

Ich komme inzwischen an die Grenzen meines Wachstumspotentials, aber im Kapitalismus muss ich trotzdem weiter wachsen. Ich müsste also Leute beschäftigen in meinem Wissensgeschäft. Nur kann ich das nicht leisten.

2*

Ich bräuchte noch zwei Leben, um all das zu schaffen, was in meinem Kopf vorgeht und ausgebildet werden müsste. Ich werde nicht fertig. Das ist das Erschütternde an meinem Leben. Ich werde einfach nicht fertig. Ich werde nur, wie viele vor mir und viele nach mir, Stückwerk produzieren. Als Individuum baue ich auf all die anderen vor mir und hoffe auf all die nach mir.

3*

Die Entfernung durch die Individualgeschichte deckt sich nicht mit der Nähe unserer Herkunft.

4*

Mit Kindern und alten Menschen komme ich klar. Sie sind auch klar. Verwirrt sind die, die sich selbst der Vernunft bezichtigen.

5*

Es ist so lustig inzwischen, dass ich in allen Schichten (Klassen) tanze und keine Schicht (Klasse) von der anderen weiß, außer mir.

6*

Alles wird. Nichts ist. Manches war.

7*

Die Medien hassen ihn, und haben ihn gleichzeitig groß gemacht.

8*

Die Leute in der Kulturbranche sind irgendwie unangenehm, müffeln etwas.

9*

Was mich von meiner Familie unterscheidet? Ich erinnere mich nicht nur daran, was andere sagten, sondern auch daran was ich selbst sagte.

10*

Thomas Mann war ein Meister der Montage, ich der Demontage.

11*

Innerhalb kurzer Zeit drei Prosa-Stücke geschrieben. Und alle drei wollte ich genauso. Das ist das schönste Geschenk für mich. Anderes zählt kaum. Ist nur pures Geld verdienen.

12*

Aber das Duschen war heute so schön. Wenn man nur alle paar Tage duscht, dann ist das wie ein Fest.

13*

In der Medizin spricht man von einem iatrogenen Bluthochdruck, einer Hypertonie von der man die Ursache nicht kennt. Man verschreibt Betablocker. Zwei Drittel der Männer über 50 nehmen das täglich. Dabei müsste man nur dafür sorgen, dass die Schwiegermutter auszieht, dann würde sich der Blutdruck wieder normalisieren. Aber wohin mit der Schwiegermutter? Solange Ärzte sich konsequent weigern, Lösungen für die pathogenen Schwiegermütter zu finden, werden die Pharmakonzerne viel Geld verdienen. Zeit, den Schwiegermüttern eine Dividende auszuschütten.

14*

Zurückbleiben, Türen schließen, Richtung Max-Weber-Platz.
Wenn das Fenster offen ist, höre ich diese Frauenstimme.
Manchmal die erste Frau am Morgen, eh der Buffo des Tages
meine tragische Oper weiter singt
Türen schließen, denke ich der undefinierbaren Frauenstimme noch nach
aber zurückbleiben?

15*

Bei Goethe gibt es den Begriff des Aperçu. Im Französischen wohl eine rasche Erstwahrnehmung bezeichnende, bei Goethe ein plötzliches, totales Erlebens mit Wandlung des Erlebenden. So dass man von einem Vorher-Nachher-Effekt sprechen kann. Bezogen auf die Liebe ist das gewiss dieser entzündende Moment des sich Verliebens. Daher sind Goethes Liebesreflexionen oft von Naturbeobachtung begleitet. Jede neue Liebe ist für Goethe ein Zwischenkieferknochen des Gefühls. Und dass sich dieses Liebesgenie nicht binden wollte, ist ja wohl klar.

16*

Jetzt muss ich mich da als alleinstehender Teilzeitdozent mit Goethes Liebesleben herumschlagen.

17*

Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit mehr, sie zu übertreten, hat der olle Goethe, das Schlitzohr, mal irgendwo geschrieben. Interessant ist der doppelte Konjunktiv in diesem Satz. Sollte, hätte. Einfach gesagt: Man sollte sie schon studieren, nur was hätte man davon? Das ist der Witz am Gesetz. Ein Strafrechtler kennt sich nicht aus im Steuerrecht und hinterzieht. Ein Arbeitsrechtler kennt sich im Mietrecht nicht aus und kann dem Obdachlosen Arbeitssuchenden auch nicht helfen.

18*

Behörden arbeiten langsam, aber sie arbeiten. Die meisten Verbrecher haben ihre Tat schon vergessen, eh sie zur Rechenschaft gezogen werden.

19*

Inzwischen führen sich die staatlichen Behörden wie Kohlhaas auf und halten sich für die personifizierte Gerechtigkeit. Und wie eine nicht mehr zu stoppende Maschine rollt diese Gerechtigkeitshypertrophie über den einzelnen Bürger hinweg.

20*

Es ist eine besondere Situation, wenn man plötzlich Zeit hat, die man gar nicht einplante. Fast ist es so, dass diese plötzlich frei verfügbare Zeit Glücksmomente erzeugt, die man noch zusätzlich steigern und auskosten möchte.

21*

Ich hatte mal unter dem Einfluss hochwertigen Cannabis den Gedanken, dass ich ein Kunstbauer bin, Bauernkunst betreibe, ein Ernährer bin, weniger im Rampenlicht stehe, vielmehr wie ein moderner und alternativ denkender Bauer weniger Masse und mehr Qualität erschaffe.

22*

Wenn man einen Château Margaux 1787 aus einem Plastikbecher trinkt, dann liegt die dekadente Würze dieses Tuns sicher nicht am Wein. Inhalt und Form mengen sich zu einer hochprovokanten Aussage. Und Goethes berühmter Spruch „Das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters besteht darin, dass er den Stoff durch die Form vertilgt“, bekommt eine hinterhältige Bedeutung. Wenn man dagegen einen Domkellerstolz von seiner Plastikflasche in ein edles Zwiesel-Glas schüttet, ist dann die Dekadenz dieser Handlung nicht vom Wein abhängig? Noch verwerflicher, wenn man den Domkellerstolz auch noch degustiert? Als notorischer Biertrinker hätte ich nicht die geringste Chance, diesen Betrügereien auf die Schliche zu kommen. In der Form liegt die Täuschung. Damit ist der Meister im Sinne Goethes ein Betrüger. Wertfrei gesehen, kann man auch zum Wohle anderer betrügen, ohne Egoismus schöne Werke schaffen, die dennoch Betrug sind. Die große Gefahr besteht darin, dass der Betrug auffliegt. Und dazu sagte Thomas Pynchon trefflich: In der Arglosigkeit der Kreatur liegt die Amoral des Meisters.  

23*

Gen Süden rauchend schrieb ich: zwischen der armseligen Leiche die vom Finanzamt ausgecheckt wird und dem papiernen Kunstsubjekt fehlt der Haken. Und jetzt, wieder gen Süden rauchend denke ich: hab ich vergessen, den Haken zu machen? Und! Ist das wirklich alles? Nur ein vergessener Haken? Im Kleingedruckten übersehen? Für das Finanzamt ist das Leben abgeschrieben.
Ich habs dagegen aufgeschrieben. Die nach mir schreibens um.

24*

In der Ökonomie wird nicht erst seit gestern ohne Not dilettiert.

25*

Ich bin viel zu selten so böse wie ich bin. Halte mich viel zu oft zurück und bin hasenfüßig. Andererseits liebe ich es, spitz zu sein.

 

 

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