Literaturprojekt
Literaturprojekt

Neue Streifschüsse

Wann immer nötig - im Schnitt ein Schuss pro Woche mehr oder weniger

 

 

Streifschuss vom 28. Dezember 22

 

Anlass: In wenigen Tagen feiert eine kleine Minderheit das kommende, neue Jahr

 

Von guten Mächten still und treu ergeben

 

Weihnachten ist vorbei, das alte Jahr noch nicht. Zwischen den Jahren nennt man diese Periode. Etwas Neues anzufangen lohnt sich grade gar nicht. Nächstes Wochenende starten alle durch. Alle? Nie und nimmer. 1,5 Milliarden Chinesen feiern das Jahr 2023 am 21. Januar. Das Jahr des Wasser-Hasen beginnt am 22. Januar 2023. Etwa 15 Millionen Juden feiern das Jahr  5784 am 17. September 2023. Fast zwei Milliarden Muslime feiern das Jahr 1445 am 19. Juli 2023. Und etwa 35 Millionen Kurden feiern am 21. März ihr neues Jahr. Und sicher habe ich noch einige vergessen. Bei den Mapuche-Indianern beginnt das neue Jahr am 24. Juni. Das sind eine gute halbe Million Menschen die sich über Chile und Argentinien verteilen. Ach ist der Westen nicht woke? Jedes Jahr am 31. Dezember feiert der arrogante woke Wessi total PC für alle einfach mit. Das ganze Gerede lässt sich also  mit einem kurzen Federstrich dekonstruieren. Die Aymara feiern ihr Willkakuti, ihr Neujahrsfest am 21. Juni 5530, denn die Aymara fingen bereits bei der Wintersonnwende 3507 vor Christus mit dem zählen an. Das sind auch noch ein paar Millionen Bolivianer, Peruaner und Chilenen. Die Römer feierten Jahrhunderte lang das neue Jahr nach dem zehnten Monat, doch im Zuge der gracchischen Reformen unter Tiberius und Gracchus wurde diese Volkssitte 153 vor Christus auf den 01. Januar festgesetzt. Das ging dann wieder unter. Traditionell feierten die Christen ihren Jahreswechsel an Ostern. Es war Charlie, der König von Frankreich, genannt Karl IX.  (zuständig für das Massaker an Hugenotten in der so genannten Bartholomäusnacht) der den Jahreswechsel vereinheitlichte und willkürlich auf den 01. Januar festsetzte. Dadurch endete das Jahr 1566 (Edikt) das am 14. April begann bereits nach acht Monaten am 31. Dezember. So wurden September, Oktober, November und Dezember denen man im Namen noch die Zahlen 7, 8, 9 und zehn anmerkt zu 9, 10, 11 und 12., was widersinnig ist. Zwei Milliarden Christen böllern am kommenden Wochenende und wissen nicht einmal warum. Klar, wer an einen Gott glaubt, der sich in einer Oblate reinkarniert hat, der ist natürlich total sicher, dass in ein paar Tagen für alle das neue Jahr beginnt.  

 

Streifschuss vom 16. Dezember 22

 

Anlass: "Wir leben in einer Zeit der Massenverblödung" (Peter Scholl-Latour 2014 bei Telepolis)

 

Den Dummen gehört die halbe Welt

 

Im Verhältnis zu früher gibt es sicher nicht mehr dumme Menschen. Aber in absoluten Zahlen erweckt es doch den Eindruck einer generellen Verblödung der Menschheit. Es gibt diese Minderheit der Exzellenten, den Mainstream und das Heer der Dummen. Der Mainstream wird zunehmend dümmer. Wenn man selbst – so wie ich – nicht zu der kleinen Gruppen der Exzellenten zählt, dann befindet man sich als ein weniger Klügerer unter einer ziemlich verblödeten Masse. Dieses dissonante Gefühl drückt sich in Kleinigkeiten aus. So fällt mir auf, dass viele Menschen trotz der Grippewelle und Zunahme schwerer Atemwegserkrankungen keine Gesichtsmaske mehr tragen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Warum? Weil es nicht mehr verboten ist und nur noch eine Empfehlung. Dumme Menschen gehen aber auf Empfehlungen nicht ein. Der immer kleiner werdende Teil der etwas Klügeren im Mainstream trägt sie noch. Oder neulich stieg ich aus der U-Bahn aus und stand für einen Moment einer jungen, telefonierenden Frau (ohne Maske) im Weg. Sie machte mit der Hand Wischbewegungen, als wollte sie mich auf ihrem Display wegwischen. Doch ich bin nicht virtuell. Im öffentlichen Raum, dort wo der Mainstream täglich seine Arbeits- und Besorgungswege mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel vollzieht, herrscht eine Atmosphäre der Ignoranz. Der Mangel an Rücksicht ist dabei überhaupt nicht böswillig. Es ist nur Dummheit. Ein Mangel an Aufmerksamkeitsfähigkeit. Dumme Menschen können sich nicht konzentrieren. Sie sind fahrig, schusslig und weitestgehend davon überfordert, gleichzeitig ein Smartphone zu bedienen und auf ihre Umwelt zu achten. Sie sind dann nicht widerstandsfähig genug, das Smartphone wegzustecken, wenn sie aus der S-Bahn oder U-Bahn aussteigen. Vielmehr gehen sie weiter mit starrem Blick auf ihr Display. Die Tatsache, dass sie nicht alleine sind überfordert sie. Die datensetzende Macht durch technische Artefakte tritt in Konkurrenz und das Subjekt wird dabei zum Spielball. Einerseits gibt es den technischen Artefakt sich öffnender U-Bahn-Türen, fest vorgegebene Wege führen zur Rolltreppe, meist eng und getaktet. Die einen wollen aussteigen und die anderen einsteigen. Gleichzeitig werden die Menschen im öffentlichen Raum von den dauernden Reizen ihres Smartphones in Beschlag genommen. Beide technische Artefakte wissen nichts voneinander. Der Whats-App-Anbieter weiß ja nicht, dass das Nachrichten empfangende und weitergebende  Subjekt gerade gleichzeitig in einem den Bewegungsraum begrenzenden Umfeld unterwegs ist. Das Subjekt ist nun zwischen diesen beiden Artefakten wie gefangen. Es müsste eine Entscheidung treffen. Zum Beispiel die Whats-App-Nachricht etwas später schicken, wenn sie wieder einen Überblick hat über ihren Bewegungsraum. Doch gerade dummen Menschen fallen Entscheidungen schwer. Sie lassen sich von Reizen leiten und können ihnen nicht widerstehen. Wenn man nun ständig und in Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen muss, erzeugt dies Stress. Dumme Menschen sind nicht widerstandsfähig genug, werden also dadurch vulnerabel und so kommt es, dass eine junge Frau eine Wegwischbewegung macht, obwohl sie einfach einen Schritt zur Seite gehen könnte.  Jetzt ist das großartige technische Angebot in unserer wunderbaren Welt ja nicht daran schuld. Als wäre der Kühlschrank schuld, weil ich in ihm die falschen Lebensmittel lagere. Als wäre das Auto schuld, weil ich den Ölwechsel vergessen habe oder das falsche Benzin tankte. Als wäre mein Computer schuld, wenn ich das falsche Programm aufrufe und mit einer PDF-Datei keine Musik abspielen kann. Kurz: Die wunderbare Welt der Überforderung bringt dumme Menschen an ihre Grenzen. Es sind in der Relation nicht mehr geworden. Aber es wurden mehr Menschen gezeugt und in absoluten Zahlen ist das halt eine Massen-Verblödung.

 

Streifschuss vom 14. Dezember 22

 

Anlass: Zwischen Putsch und Woke

 

Nach dem Putsch ist vor dem Putsch

 

Konventionen werden immer übermächtiger. Der Abbau an Demokratie spiegelt sich in der formalistischen Sprachregelung „to stay woke“. Einen unmittelbaren Zusammenhang möchte ich hier nicht intendieren. Es ist eine Analogie, kein Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Sprachliche Sensibilisierung zeigt eher auf statt an. Wir erkennen also im Nahfeld der Achtsamkeit gegenüber Diskriminierung die Defizite der Demokratie. Nun reagiert Sprache immer formalistisch auf äußeren Druck, nimmt sich zurück, agiert vorsichtig, stilisiert. Regulierung ist grundsätzlich ein antiliberaler Reflex.

Nach jetzt gut hundert Jahren demokratischer Nervosität sind wir erschöpft. Der Liberalismus gerät in die Krise und so auch der Naturalismus. Formalistische Sprachregelungen sind Ausdruck der Krise und der Erschöpfung. Ebenso die Neigung zu autoritativen Herrschaftsidealen. Im weitesten Sinne ist es ein Spiegel der ökonomischen Krise. Der Handelsstand, die Kaufleute spüren zunehmend einen kaum noch zu ertragenden Druck. Gewinnmaximierung erreicht zunehmend sein Maximum. In solchen Krisen sind Rückschritte nichts Ungewöhnliches. Sie sind Teil einer Entwicklung für neue Spannkraft.  Abbau von Demokratie ist auch ein Lernprozess innerhalb der demokratischen Matrix. Zuweilen bedarf es einer Diät, zuweilen bedarf es einer Strenge und zuweilen brauchen wir die Disziplin. Diäten, Strenge (Arete) und Disziplin (im archaischen Sinne Arete, Kalokagathie und Sophrosyne), also heroische Tugenden der Vortrefflichkeit im körperlichen wie geistigen Sinne, als auch Selbstbeherrschung und Mäßigung existieren nicht um ihrer selbst willen. Sie sind notwendige Übel für Empfindsamkeit, Freiheit und Individualität. Wer sich überfrisst verliert seine Empfindungsfähigkeiten, wer sich gehen lässt verliert seine Freiheit, wer sich nicht mäßigt und beherrscht verliert seine individuelle Besonderheit. Die Trägheit der Masse präjudiziert Herrschaft. Da nun Demokratie in der Matrix des 21. Jahrhunderts Massenherrschaft bedeutet, ist ein Konflikt vorprogrammiert. Die erschöpften Massen benötigen Anregung, suchen nach Reizen, auch in den entlegensten und verworrensten Gebieten. So erklärt sich auch, dass ein erfolgloser Immobilienhändler mit Abstammung aus dem Fürstentum des Hauses Reuß mit einer kleinen Gruppe einen modernen Staat mit 80 Millionen Einwohnern zu putschen versuchte. Aber es erklärt sich daraus auch, dass die Vorsitzenden einer ehemaligen Volkspartei die einst für ihre wirtschaftliche Vernunft bekannt war, gegen jeden ökonomischen Sachverstand nationale Töne anstoßen.

Charisma ist nach Max Weber keine an ein Subjekt gebundene Eigenschaft, sondern lebt von der Zuschreibung anderer, deren Emotionen in der charismatischen Figur gebunden werden. Charismatiker sind Menschen, die Emotionen anderer intensiv erleben, sie spiegeln ohne selbst von ihnen ergriffen zu werden. Charismatiker sind daher weit weniger gebildet als eingebildet. Sie sind unempfindlich gegenüber dem Charisma anderer. Ihre narzisstische bis autistische Selbstwahrnehmung ermöglicht ihnen, wie ein Brennglas die emotionalen Strahlen der Masse zu bündeln und als Kraft abzuspiegeln. Daher wäre es ein Fehler, sie nur als Spinner abzustempeln. Es wäre aber auch ein Fehler, ihnen zu viel zuzutrauen. Entwaffnung und strafrechtliche Verurteilung gebietet die Vernunft des Staates. Aber das löst das Problem keineswegs. Heroisierung könnte darauf folgen, wie das schon bei Adolf Hitler möglich wurde. Daher ist die nachhaltige Vernichtung der Strukturen solcher Organisationen dringend geboten. Das geht nicht ohne Verluste in den eigenen Reihen. Eine Massen-Demokratie benötigt eine gefestigte konfuzianische Beamten-Armee. Diese kann nicht demokratisch agieren. Gerade der Status des Beamten erfordert Arete, Kalokagathie und Sophrosyne. Im Sinne des Machterhalts demokratischer Strukturen sind Beamte paramilitärische Papierkrieger, die eine feste hierarchische Eingliederung benötigen. Leider habe ich auch hier den verstärkten Eindruck, dass ebenso die Beamten unter Erschöpfung und deren Symptome leiden. Sie sind im Formalismus gefangen. Entlastung kann hier nur technologisch funktionieren. Und auch da hat die Massen-Demokratie in Deutschland nachhaltig versagt. Das lässt sich nicht mehr aufholen. Insofern ist es eine Frage der Zeit, wann der nächste Putschversuch von wem auch immer gestartet wird.

 

Streifschuss vom 07. 12. 22

 

Anlass: post hoc

 

Nervöses Lachen

 

Der Kaffeehausmensch liest nur mehr die Tagesblätter und allenfalls auch illustrierte Zeitschriften. Aber auch diesen nicht allzu anstrengenden Lesestoff vermag er bald nicht mehr gründlich zu bewältigen. Ernst und Gründlichkeit gedeihen nicht in der Atmosphäre des Kaffeehauses. Die Nerven werden überreizt, Gedächtniskraft, Aufmerksamkeit und Fassungsvermögen werden geschwächt. Der Kaffeehausleser gelangt dahin, jedenArtikel, jedes Feuilleton, Alles, was mehr als hundert Zeilen lang ist, ungenießbar zu finden. Er hört überhaupt auf zu lesen, er blättert nur mehr. Zerstreuten Blicks durchfliegt er die Zeitungen und nur das Unterstrichene, das Großgedruckte, nur gesperrte Lettern vermögen sein Auge noch ein Weilchen zu fesseln. Er wird unausstehlich blasirt. Er braucht, um aus seiner öden Gedankenlosigkeit aufgerüttelt zu werden, etwas Sensationelles, wie der verlebte Wüstling raffinierter Ausschweifungen bedarf, umnoch seine Reizung zu empfinden.
(Wiener Zeitung 15. Mai 1891 von Edmund Wengraf)

 

Die meisten heutigen Romane die ich gelesen habe, sind nur Storys, in die Länge gezogene Erzählungen, die ein guter Schriftsteller auch in fünf Seiten erzählen kann ohne den geringsten Bedeutungsverlust. Was bleibt sind immer einzelne Passagen die Stimmung, ein punktuelles Daseinsgefühl ausdrücken. In den Seiten schindenden Romanen muss man sie suchen. In der Lyrik sind sie immer da und in der kurzen Prosa als Erleben eingebettet.

Die Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft bekommen wir nie mehr in den Griff, und ebensowenig können wir die Lebensrealität, die Dingwelt durch Sprache abbilden. Nicht ansatzweise. Wir sind zurückgeworfen auf Stimmung und Reizbarkeit. Wir fangen Momente ein, oder überzeichnen: Die Sonne fällt zur Erde. Gellend zerspring ihr Licht. Dicht vor dem blauen Tempel rollt sie nieder. Die berstenden Strahlen jagen durch den Tempelhain. Das Laub fliegt in braunroten Fetzen, geronnene Blutschlacken, triefende Purpurbrände. Alles rast durch die Bäume. Und die Bäume alle von unten in gequollenem Blut und stockend gründumpf (Dauthendey). Aber das erkennen wir zu gut und sehen gelassen der Wirkung nach. Zurück geworfen auf  Töne und Bildfetzen sind die von blinkender Werbung durchbrochenen durch Schläge gelichteten und mit dem Daumen jederzeit wegwischbare  Internetseiten unsere Wirklichkeit. Doch nichts in der Welt lässt sich einfach wegwischen. Verwischt ist es dennoch. In all den Bruchstücken kein Zuhause. Da kommen die Philister und zementieren alles. Versiegelte Wirklichkeiten führen zu überschwemmenden Gefühlen.
 Und dann kommt mir bloß nicht mit einer zusammenhängenden Geschichte. Wie kann man heute im 21. Jahrhundert noch erklären, dass so was gelesen wird? Gelesen ja, aber geglaubt? Nie und nimmer. Der moderne Leser ist ein hochgradig Ungläubiger und pickt sich nur heraus, was ihm beliebt. Nur noch raffiniert im Wortsinn. Ultrohocherhitzte Literaturmilch im Reagenzglas für Leser, die beim Genuss echter und unbehandelter, roher Literatur an einer bakteriellen Lesevergiftung sterben würden. Andrerseits: Der Magen wird geschont und man wird älter, liest mehr als man bräuchte - im Metabolismus der Literaturverdauer breitet sich eine Art Lesediabetes aus, ein Hochdruck und eine innere geistiger Verfettung. Man könnte Dennis Scheck als ein pathologisches Beispiel nennen. So krank an Literatur, der Arme. Wer als einfacher und grüner Literaturbauer seine kleine Scholle pflegt ist aber auch nicht ernst zu nehmen, da auch das längst vom Markt entdeckt wurde. Alles ist nur noch lächerlich. Warum also nicht weiter lachen und sich erfreuen, dass alles zugrunde geht, und zwar nicht dramatisch als Tragödie, sondern ganz komödiantisch. Ein Spaß und zum Ende lachen wir uns die Seele aus dem Leib.

 

Streifschuss vom 03. Dezember 22

 

Anlass: Boomer-Kohorte  (Bildquelle bpb Symbolbild Babyboomer. (© FuN_Lucky / 35 images, Pixabay)

 

Dann erschlugen sie wahllos alle, die ihnen in den Weg kamen. Das Morden dauerte volle fünf Tage und Nächte. (Der römische Senator Cassius Dio über die Babyboomer-Legion)

 

Bumm Bumm

 

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 Prozent der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen, bezogen auf das Berichtsjahr 2021. Interessant an dieser Zahl der Woche ist, dass man davon ausgeht, dass das Renteneintrittsalter überschritten wird. Ich gehöre damit als letzter Jahrgang (Boomer  ist die  Nachkriegsgeneration von 1946 bis 1964) zu den Glücklichen, die man trotz Überreife weiter wurschteln lässt. Wenn ich also mit meinem neu erworbenen Rollator, nur wenig jünger als meine senilen Klienten im Altenheim einen jungen Kollegen der Generation Z (das sind die armen Socken, die jetzt anfangen müssen zu arbeiten und noch alles vor sich haben) bitte, mir zu helfen, wird dieser Vertreter der Generation Z höflich „nein danke“ sagen. Denn so tickt diese junge Generation laut Wirtschaftswoche. Die Generation Z hat gelernt, sich abzugrenzen. Boomer sagten nie „nein“, sondern bekamen ein Burnout. Ihr „Nein“ war ein Aufstöhnen. Die depressive Generation (denn Burnout ist nur das Diminutiv der präsuizidalen Dauer-Boom-Phase) Boomer trafen in den letzten Jahren die meisten und wichtigsten Entscheidungen. Buhu heul. Buhumer. Schon unsere flotte Dorothea sah immer so aus, als würde sie gleich losheulen. Das hat ihr langjähriges Amt als Kanzlerin geprägt: Weinerlich und „Ja“ sagend, wurden wir von russischem Gas abhängig und Deutschland zum chinesischen Wirtschaftsflüchtling, weinerlich ja sagend ließen wir zu, dass der Klimawandel einfach weiter wandelt, heulend ja sagend ließen wir zu, dass die uns Boomern folgenden Generationen die Scheiße auslöffeln müssen. Dorotheas Vorläufer dagegen, der schlaue Michel,  guckte noch so wie eine Zitrone. Wer hat meinen Kohl geklaut? Aber Helmut Josef Michael Kohl war noch vor der Machtübernahme der Nazis geboren worden und wusste noch, was stahlharte Arbeit ist. Während unser schöner Robert bereits zur Generation X gehört, die laut Wirtschaftswoche nur gut verdienen wollen und einen sicheren Arbeitsplatz. Annalena dagegen ist ein Millenial. Und die möchten nach einer Shell Studie lieber Spaß haben bei der Arbeit und sich selbst verwirklichen. Was natürlich für eine Kriegsministerin so einen Geschmack hat.
Wie auch immer. Diese Kohortenstudien sind voller Verzerrungen. Sie werden ihrem Namengeber aus dem römischen Reich nicht gerecht. Wie jeder Primus Pilus weiß: Es braucht viel, viel Härte und Disziplin, um eine Legion zusammenzuhalten. Denn der Adler kann nicht fliegen. Und Boomer erst recht nicht.

 

Streifschuss vom 02. Dezember 22

 

Anlass: Eine Mini-Postille

 

Vom Brot und den Kindlein, Apfelböck oder die Lilie auf dem Feld

 

Die Bewohner von Costa Rica (reiche Küste), zählen zu den glücklichsten Menschen der Welt, laut dem HPI (Happy Land Index). Und gestern Abend ging dieser Index für einige Minuten sicher durch die Decke. Da wäre Costa Rica Gruppensieger vor Japan gewesen. Leider kamen die Gegner zurück. Das Land mit dem größten BLI (Mieses Land Index) gewann am Ende und schied dennoch aus. Das ist für Badland Germany normal geworden. Noch vor einem halben Jahrhundert regierte der Kaiser den Fußball und sein Trainer Helmut Schön war sogar noch unter Kaiser Wilhelm geboren worden. Monarchie ist halt immer erfolgreicher. Ich weiß, ich weiß. Alte Männer beschwören die alten Zeiten. Und der alte Fußballkaiser ist inzwischen ein korrupter FIFA-Söldner mit einer langen Geheimakte. Steuerhinterzieher und Uhrenträger haben die WM in Katar eingeleitet und das Gas kommt. Die 11 Bad Boys aus Germany haben ihren Auftrag erfüllt. Was guckst du da? Sie sind Helden. Sie haben sich geopfert. Obwohl sie nicht Fußball spielen können fuhren sie gemeinsam nach Katar und erkämpften das Gas. Gas geben! Rief Hansi von der Seitenlinie! Genau.
Ach! Für ein paar Augenblicke war der Fußballhimmel strahlend und allein dafür liebe ich Katar, denn für einige Minuten war Costa Rica Gruppensieger. Ein nächster Schritt? Marokko wird Weltmeister. Verdient hätten sie es allemal, kicken die doch schon seit Jahren besser, als unsere Bad Boys. Aber gemach, gemach. Nichts geht über unsere Helden. Sie setzten sich heldenmutig der Scham aus, dem Fremdschämen und Selbstschämen. Sie sind raus und kehren heim. Mission erfüllt! Mehr dürfen wir nicht verlangen. Also hört endlich auf zu meckern ihr Miesen Tropen.

 

Streifschuss vom 23. November 22

 

Anlass: Die Binde für weniger als einen Monat

 

Verbandsmaterial oder politischer Irrsinn

 

Die Binde! Das zeigt vor allem, dass wir in einer unterirdischen und peinlichen Mediendemokratie leben. Denn wer wertet diesen Stofffetzen auf? Nicht die FIFA, die sind die Mafia und wollen Geld akkumulieren wie immer schon, nein, die Medien machen einen Wind, der nur noch verdrießlich zu nennen ist. Es ist eine Binde, die weder original die LGBT Gemeinschaft widerspiegelt, noch irgendeine Aussage hat. Alles das ist ein Medienhype. Statt ihren Job zu machen und über Fußball zu berichten, glauben diese Leute vom Fernsehen, sich pseudopolitisch ausagieren zu müssen. Die komplexen Zusammenhänge, die Hintergründe, die Bedeutung des DFB als Teil der Mafia, all das wird völlig ausgeblendet. Es ist nur noch traurig. Und ich wünschte, es gäbe einen arabischen Sender, der in meiner Sprache die Fußballspiele kommentiert. Dann müsste ich diese Farce nicht mehr hören. Der Widerspruch zwischen der exzessiven Übertragungslust der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und ihrer heuchlerischen Kritiklust ist kaum zu übersehen. Wenn alles in Katar schon so schlecht ist, warum übertragen sie dann alle Spiele immer noch? Und warum versuchen sie in ihren pseudokritischen Kommentaren immer wieder mit der Floskel „Jetzt zurück zum Sport“, die erbärmliche Kurve zu bekommen? Die Übertragungen dieser WM durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sind inzwischen reinste Realsatire. Binde hin und Binde her. „Aber jetzt zurück zum Fußball, denn dazu sind die Spieler ja hier“. Gott im Himmel. Lasst es. Sport und Politik ist an sich schon peinlich in ihrer Kombination. Wenn ein Vollhonk wie Bela Rethy sich politisch äußert, dann kann man nur die Schablonen wahrnehmen und ansonsten weghören. Insgesamt schaue ich die WM aus reinster Bürgerpflicht. Ich will ja weiter Gas haben und hoffe auf einen Katar-Rabatt. Ich habe daher dem Emir Hamad Al Thani schon eine Email geschickt.
Als heimlicher Monarchist und Fan der Wüstenspringmaus bin ich fasziniert von einer Gesellschaft deren Einwohner nur 10,5 Prozent indigen sind. Katar ist – und das ist ja typisch für Monarchien – ein Vielvölkerstaat. Nationen dagegen, Diktaturen und Demokratien (beide beginnen mit einem D) sind homogen und verblödet. Katar ist eine großartige multiethnische Wüstenmonarchie und keine One-Love-Satire aus einem Staat, der sich noch nicht einmal zu einem Bürgergeld durchringen kann. Shame on you Germany… Es lebe Katar.

 

Streifschuss vom 22. November 22

 

Anlass: Alles halb so schlimm

 

Träume von einer besseren Welt

 

Mein Bruder sagte neulich zu mir: „Du bist immer so negativ, da musst du aufpassen.“ Das nahm ich mir zu Herzen und wollte heute im Unterricht was Positives sagen. Ich erklärte, dass die Welt doch viel besser geworden sei und man könne da etwas Zuversicht haben. Da wurde mir sofort in die Parade gefahren. Was heißt denn gut oder schlecht? „Das ist doch eine moralische Wertung“, meinte eine ehemalige Geschichtslehrerin. Ihre Gesichtsarchitektur dokumentierte die vielen Jahre schlechte Klassenzimmerluft. Einem natürlichen Reflex folgend, hätte ich mein Zeug zusammen packen müssen und „Danke, macht es gut, schön war es, bzw. beschissen.“ Aber selbstverständlich folgte ich nicht diesem allzu natürlichen Impuls. Ich wolle die Welt ja nicht schöner reden als sie ist, blablabla, ruderte ich zurück. Aber ich konnte es nicht mehr verbessern. Die gute Stimmung war dahin. Immerhin, dachte ich etwas später, bekomme ich ja eine Aufwandsentschädigung, respektive ein Dozentenhonorar mit dem die Bildungsmisere wenigstens auf meinem Bankkonto etwas ausgeglichen wird. Gegenwartsverzweiflung. Einige Beispiele: weltweiter Rückgang der Armut, über 60 Prozent aller Mädchen in Ländern mit niedrigen Einkommen absolvieren mittlerweile die Grundschule, weniger als halb so viele Menschen sterben bei Naturkatstrophen wie vor 100 Jahren und 80 Prozent aller Einjährigen werden geimpft. Die Rechte der Frauen, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit haben sich in vielen Teilen der Welt in den letzten Jahrzehnten erfreulich verbessert. In den letzten 20 Jahren wurde der Anteil extrem armer Menschen deutlich mehr als halbiert! Im Jahr 1800 lebten ungefähr 85 Prozent der Menschen in extremer Armut. Überall auf der Welt hatten die Menschen schlicht nicht genügend zu essen. Auf diesem Niveau lebte bis etwa 1966 die Mehrzahl der Menschen. Bis dahin war extreme Armut die Regel, nicht die Ausnahme. In den letzten 20 Jahren hat sich die extreme Armut schneller vermindert als in jeder anderen Phase der Weltgeschichte. 1997 lebten in China und Indien 42 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut. 2017 hatte sich dieser Anteil in Indien auf zwölf Prozent verringert: 270 Millionen Menschen weniger lebten in extremer Armut als 20 Jahre zuvor. Lateinamerika senkte seinen Anteil von 14 Prozent auf vier Prozent: weitere 35 Millionen Menschen. Factfulnes, das Buch von Hans Rosling hat weitere solcher Fakten.
Die Geschichtslehrerin verließ dann selbst den Raum, der ihr offenbar zu zuversichtlich geworden war.  Vermutlich ist es schlimm für Menschen, zu erfahren, dass nicht alles so schlimm ist.

 

Anleitung für ein digitales Wuschkonto mit eigener Währung
Ökonomie versus Wirtschaft Teil 2.mp3
MP3-Audiodatei [2.7 MB]

Streifschuss vom 19. November 22

 

Anlass: Fundstelle

 

Der postpaläolithische Mensch im 21. Jahrhundert

 

Wir wissen, dass sie (die Menschen im Paläolithikum) die Kunst von primitiven Jägern war, die auf einer unproduktiven, parasitischen Wirtschaftsstufe standen, ihre Lebensmittel sammelten oder erbeuteten, nicht erzeugten; allem Anschein nach in lockeren, kaum gegliederten Gesellschaftsformen, in kleinen isolieren Horden, im Stadium eines primitiven Individualismus lebten, vermutlich an keine Götter, kein Jenseits und kein Dasein nach dem Tode glaubten. Als ich das in der Kunstgeschichte von Arnold Hauser las, war ich für einen Moment, einen sogar etwas längeren Moment etwas verunsichert.  Denn gar nicht wenige Menschen leben auch heute so. Und zwar hier, in meiner Nachbarschaft. Wie viele Menschen produzieren tatsächlich nichts, oder nichts von dem sie genauer wissen, was sie da täglich tun um zu leben. Wenn ich in den Discounter gehe, sehe ich lockere, kaum gegliederte Gesellschaftsformen, Menschen die auf parasitische Weise ihre Lebensmittel einsammeln, die weder an einen oder mehrere Götter glauben, die das Jenseits vollständig dem Diesseits opferten und nachdem sie bezahlt haben (die ihnen kaum bewusste Komplexität des erwirtschafteten Geldes dokumentiert ihren primitiven Individualismus), kehren diese primitiven Jäger mit ihren gesammelten oder erbeuteten Lebensmitteln in ihre kleinen, isolierten Horden-Unterkünfte zurück. Würden nun – wie es ja manche fürchten – die großen Volkswirtschaften zusammenbrechen – ich weiß nicht, aber würde sich dieser heutige Mensch wirklich unterscheiden von den Menschen, die vor über 50.000 Jahren im Paläolithikum lebten? Wer – und jetzt mal ganz ehrlich – wer von uns kann ganz alleine und ohne stromabhängige Technik einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, ein Auto, ein Haus bauen? Es gibt noch ein paar – die Glücklichen – Handwerker, die tatsächlich selbst was können. Aber sie sind – wie Kinder selten. Ich? Ich kann fast nichts. Was sollte ich in einer Welt ohne Volkswirtschaft mit diesem Alphabet groß anfangen? Ich müsste Priester werden. Aber die Leute glauben nicht mehr an diesen Unfug. Der ganze Zauber unserer modernen Welt erscheint mir dann tatsächlich als reinster Popanz. Verstehen Sie, warum mich diese Zeilen von Herrn Hauser (die ja auch schon bald 100 Jahre alt sind) so irritierten? Was haben wir wirklich drauf, wer sind wir heute wirklich? Unseren primitiven Individualismus leben wir vor allem dadurch aus, dass wir Lebensmittel sammeln, erbeuten. Und ich denke, dass der Mensch vor 50.000 Jahren ebenso friedlich koexistierte, wie der moderne Konsummensch, solange eben genug Lebensmittel für alle zu sammeln, zu erbeuten sind. Und dass der Mensch im Paläolithikum bereits die impressionistische Kunst vorweg genommen hat, die dann mit dem Aufkommen der Jungsteinzeit und der Magie verloren ging, das lässt auch tief blicken. Und hinzu kommt, dass ich den Eindruck habe, dass durch die Digitalisierung die – einige Jahrhunderte gewohnte – Stabilität der Begriffe durch die Unmittelbarkeit der sinnlichen Eindrücke ersetzt wurde. Wir haben uns also jetzt wieder zurück entwickelt; oder uns verbessert, wenn man dem Alten den Vorzug geben möchte, gegenüber dem Neuen. Der Dualismus des Sichtbaren und des Unsichtbaren wurde weg-digitalisiert. Heute ist alles sichtbar. Das Rationale wurde sensorisch. Unsere moderne Welt ist eine große, eindrucksvolle Höhle von Lascaux.

 

Streifschuss vom 14. November 22

 

Anlass: Entgleisungen

 

Um sechs Uhr in der früh, so früh auf stehst du nie, die ganz normalen Leute gehen zur Arbeit, lautet der Refrain eines Liedes des bayrischen Barden Georg Ringsgwandl. Stellen Sie sich also nun vor, Sie stehen an einem nebligen Novembermorgen um sechs Uhr früh an einem sehr hässlichen Münchner S-Bahnhof, nennen wir ihn Leuchtenbergring, denn der ist furchtbar hässlich und an einem nebligen Novembermorgen nicht nur hässlich, sondern auch deprimierend. Sie stehen da also, noch lange nicht wach, von der Lohnabhängigkeit gezwungen den gesunden Schlaf zu unterbrechen, und warten auf die S-Bahn. Sie müssen arbeiten und wollen auch nicht zu spät kommen. Sie sind etwas überrascht, dass an der Zugzielanzeige steht, die S-Bahn käme erst in 40 Minuten. Auf der App steht etwas anderes. Sie trauen eher der App. Dennoch zünden Sie sich noch eine Zigarette an und beobachten ein oder zwei versprengte Kollegen, die auch den Novembermorgen genießen. Auf dem Gleis gegenüber fährt eine S-Bahn ein. Das hat etwas Beruhigendes. Denn offensichtlich geht alles noch. Dann beobachten Sie, wie die S-Bahn wieder abfährt. Kaum ist die S-Bahn auf dem gegenüber liegenden Gleis abgefahren, kommt die Zugdurchsage, dass Ihr Zug diesmal auf Gleis 1 fährt. Es handelte sich um den Zug, der gerade abgefahren war. Sie hätten vor einer Minute das Gleis wechseln müssen. Aber woher können Sie das wissen? Nebelschwaden ziehen dahin, der Bahnhof ist still, die wenigen versprengten Kollegen suchen sich alternative Routen in die Arbeit. Doch Sie haben keine Alternative. Sie werden zu spät in die Arbeit kommen.
Am nächsten Morgen stehen Sie wieder in der Kälte am S-Bahnhof. Es hat noch an Nebel zugelegt. Man hat den Eindruck, sich in der Kulisse eines frühen britischen Cyberpunk-Krimis verfangen zu haben. Die Züge werden noch mit Dampf betrieben. Sie warten wieder. Aber gespannter, diesmal mit fokussiertem Blick auf das Gleis gegenüber, um die Chance Ihren Zug zu bekommen, nicht zu verpassen. Doch dann kommt die Durchsage, dass Ihr Zug diesmal ganz ausfällt, da der Zug repariert werden muss. Sie kommen wieder zu spät in die Arbeit.

Tja. Nun sind Sie in der Minderheit. Wen schert schon ein kleiner Krankenpfleger, der am Wochenende arbeiten muss, und zu spät kommt. Die Münchner Verkehrsgesellschaft schert es jedenfalls nicht. Auf einer kaum verlinkten Seite der Münchner S-Bahn heißt es lapidar – so recherchieren Sie später nach: S 6 Ost beginnt/endet am Leuchtenbergring. Zur S 6 benutzen Sie bitte andere Verkehrsmittel bis Trudering.  Aja. Nutzen Sie mal andere Verkehrsmittel am Wochenende um diese Uhrzeit! Wer um vier Uhr früh aufstehen muss, soll halt dann schon um drei Uhr aufstehen? Nur dass es wenig nutzt, weil kein Verkehrsmittel Sie um diese Uhrzeit zeitig genug nach Trudering bringt. Sie sind eine Minderheit. Diese Gemeinheiten der MVV oder MVG - oder wie diese Schurken auch heißen mögen - strukturelles Mobbing gegenüber Krankenpfleger zu nennen, wäre wohl übertrieben. Aber gemein war es. Das steht außer Frage. Und dafür viel Geld zu zahlen? Das erfordert echt Motivation.

 

Streifschuss vom 08. November 22

 

Anlass: Verbotenes Plakatieren im öffentlichen Raum

 

U-Bahn-Ficker
(nach einem Musikvideo von Eko Fresh feat. Joko & Klaas das am 6. Oktober 2014 erschien. Verarbeitet wird in dem Song ein Fall von öffentlichem Geschlechtsverkehr in der Berliner U-Bahn.)

 

„Mehr Amore auf Münchens Straßen“ las ich heute auf einem Plakat die Aufforderung des Mobilitätsreferats der Landeshauptstadt München. Und ich wunderte mich etwas, dass ein Referat der Landeshauptstadt öffentlich die Menschen zu einer Straftat auffordert. Denn Geschlechtsverkehr im öffentlichen Raum ist nach StGB §183a strafbar. Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, so heißt es im Gesetzestext. Wer sich also beispielsweise auf einer Parkbank am Gärtnerplatz der Paarung hingibt – sofern er menschlich ist, denn Hunden, Katzen, Vögeln kann man es schwerlich verbieten- wird also bestraft. Egal um welche Uhrzeit übrigens und egal auch, ob er oder / und sie über einen regulären Fahr- respektive Verkehrsausweis verfügen. Warum also fordert uns ausgerechnet jenes Referat zur Gesetzesübertretung auf, das in ihren Verkehrsmitteln nicht über bequeme Paarungsmöbel, geschweige denn Paarungsplatz verfügt? Während im präkolonialen Tahiti öffentlicher Sex unter Einheimischen keinem Tabu unterlag, wurde man vor 200 Jahren in Europa noch ausgepeitscht oder sogar hingerichtet. Was letztlich zur Praxis des öffentlichen Amore zählte, variierte über die Jahre immer wieder. Manche gehemmte Zeitgenossen stören sich schon an knutschenden Paaren. Dies ist mit dem Gebot der Maske zumindest in den öffentlichen Verkehrsmitteln nur noch der Jugend möglich, denn die jungen Leute weigern sich inzwischen notorisch beim U-Bahn-Fahren eine Maske zu tragen. Das ist auch verständlich, denn deren Gesichter sind zum größten Teil ja noch mit Genuss zu betrachten. Sollte man dem Mobilitätsreferat empfehlen, auf ihrem progressiven Plakat wenigstens eine Altersobergrenze für Amore im öffentlichen Raum zu erwähnen? Oder strebt das Mobilitätsreferat generell an, eine Art Münchner Tahiti einzuführen? Dann sollten sie auch für mehr Kokospflanzen in München sorgen. Bitte nicht das zusätzliche O überlesen.
Tatsächlich träumte mir vor einigen Jahren von einer S-Bahn-Fahrt, wo eine Gruppe von Menschen in besagter geträumter S-Bahn Amore machten, und ich? Ich war mitten drin. Aber da war ich noch jünger und heute sind nur noch meine Gedanken schlüpfrig. Und übrigens, der Leiter des Münchner Mobilitätsreferates Georg Dunkel spricht gerne auch von einer „Verkehrswende“  - also wirklich. Was stellt er sich jetzt darunter wieder vor? Wenn das so weitergeht, werden vielleicht doch mehr SUV-Fahrer auf die U-Bahn umsteigen. Vielleicht ist genau das sein Ziel: Mehr Amore auf Münchner Straßen… für eine verbesserte CO2-Bilanz.

 

 

Streifschuss vom 31. Oktober 2022

 

Anlass: Gruseln mit Halloween (Foto von : Marek Peters / www.marek-peters.com)

 

Von den deutschen Zombies

 

Es ist schon ein besonderes Schmankerl, dass der rechtspopulistische Antaios-Verlag in dem all die Vertreter der Neuen Rechten wie Alexander Gauland, Jürgen Elsässer, Jack Donovan, Götz Kubitschek bis Antoine de Benoist ihre Plattform haben, dass dieser Verlag einst von einem Juden gegründet wurde, nämlich von Arthur Trebitsch, Sohn eines reichen Fabrikanten und erfolgloser Romanautor. Weil er für seinen Roman keinen Verlag fand, gründete er kurzerhand selbst einen, den Antaios-Verlag. Die darin von Trebitsch veröffentlichten völkischen Pamphlete lobte später sogar Adolf Hitler („Lesen Sie jeden Satz, den er geschrieben hat. Er hat die Juden entlarvt wie keiner.“). Anfang der 1920er Jahre hat sich Hitler sogar von dem reichen Sohn eines Seidenindustriellen finanzieren lassen. Arthur Trebitsch zog 1919 als eine Art Wanderprediger gegen das Judentum durch deutsche Städte, hielt sich für einen germanischen Helden im Stil des Nibelungenlieds und gelangte zu der Überzeugung, die Vorsehung habe ihn zum Retter und Erlöser der nordischen Rasse bestimmt. Verschiedene Juden, denen dies bewusst sei, würden versuchen, ihn mit „elektrischen Strahlen zu vergiften“. Er hatte sich eine Theorie zurechtgelegt, die den sehr alten Gegensatz zwischen schaffenden und konsumierenden beziehungsweise ausnutzenden Menschen in die Terminologie: Fixation und Fixationsbeweglichkeit umsetzt, wodurch die Sache ein originales Aussehen erhält. Noch originaler, vielmehr origineller ist die Nutzanwendung dieser Fixationstheorie auf Germanen und Juden. Die Germanen sind die fixierenden, die schaffenden, die primären Geister, die Juden die Fixationsbeweglichen, die gut Zählenden, die Erraffenden. So berichtete damals die Verbandszeitschrift CV über einen Vortrag dieses – übrigens – österreichischen Wanderpredigers.

Bitte verwechseln sie Arthur nicht mit seinem 12 Jahre älteren vernünftigen Bruder Siegfried Trebitsch, der mit Franz Werfel und Alma-Mahler-Werfel allerdings auch einen hübschen Umgang pflegte und erfolgreich Bücher schrieb. Theodor Lessing setzte sich dann in seinem umstrittenen Buch „der jüdische Selbsthaß“ mit Arthur Trebitsch auseinander. Von Otto Weininger bis Hugo von Hoffmannsthal reicht die Linie der jüdischen Selbstverachtung. Auch Joseph Roth hat diesem verwirrten jüdischen Antisemiten Arthur Trebitsch in seinem Debütroman Das Spinnennetz ein Portrait geliefert. Da taucht er an der Spitze der TA auf. Der Technischen Abteilung, deren Aufgabe es war, Streiks zu brechen. Als sich aus dieser Technischen Abteilung (gegründet von dem Rittergutsbesitzer und Pionieroffizier Otto Lummitzsch) nach dem zweiten Weltkrieg das THW gründete, war wieder Herr Lummitzsch der Leiter und damals in den 1950ern fürchteten die Gewerkschaften noch, dass dieser Verein wieder nur Streiks brechen würde. Heute bauen sie Brunnen. Nützliche Nazis? Die postfaschistische Bonner Republik hat fast alle alten Nazis wieder beschäftigt. Aus dem ehemaligen Freicorps Abteilung SII wurde die Organisation Gehlen und daraus der BND, geleitet von Gehlen persönlich, der noch im Unternehmen Barbarossa mit den Nazis die Russen überfallen hatte. So geht die Entwicklung sehr kontinuierlich. Die ersten Ostbeauftragten der Bonner Republik waren alles Mitstreiter im Unternehmen Barbarossa. Und wir sind überrascht, dass der Hobby-Historiker Putin überall Faschisten wittert? Ich bitte Sie…

 

Streifschuss vom 10. 10. 22

 

Anlass: Waschen ohne nass zu werden

 

Sparzwang

 

In den letzten Wochen meldeten sich immer wieder fürsorgliche Politiker die uns normal Sterblichen im Ritual des Waschens belehrten. Weniger Wasser verbrauchen beim Waschen, nur einmal in der Woche waschen,  kälter waschen, Waschlappen nutzen, stinken gegen Putin, mit Achselhöhlenschweiß die ukrainische Armee unterstützen, Sparwaschumlage, und so weiter. Und dann sah ich auf dem Nachhauseweg dieses Objekt! Es plätschert 24 Stunden am Tag, ist angenehm anzusehen, gibt dieses lange vermisste Geräusch laufenden Wassers von sich, ähnlich einer Dusche (die wir dank unseres neuen Waschlappens ja nicht mehr nutzen). Während wir normal Sterblichen stinken für den Weltfrieden, sprudelt an der U-Bahnhaltestelle am Arabellapark Tag um Tag der Brunnen, verbraucht Wasser, Strom und alles finanziert durch tapfere, Ökologie bewusste, auf Auto und Motorrad, Flugzeug und Hubschrauber verzichtendes Fußvolk. Alle tragen brav ihre Maske (zum Schutz gegen den Achselschweiß) und erfreuen sich an dieser öffentlichen Waschanlage. Natürlich ist das jetzt vom Autor furchtbar kleinkariert. Und das Bedürfnis diesen kostspieligen kriegslüsternen Operetten imitierenden Protzbrunnen mit einer Drohnenbombe ins Jenseits zu befördern, kann der Autor nur mühsam unterdrücken. Das ganze Thema – ich weiß es wohl – reicht nicht für einen Streifschuss. Dennoch sehe ich diesen Brunnen tagtäglich. Schön ist er ja, und wohlgefällig gluckert - beinahe lüstern, das Wasser im Strahle. Das Wasser singt einer Fiakermilli gleich. Direkt beim Aufzug zum Rosenkavaliersplatz. Alles Operette, verarmter Adel, „wo ein Mädel als Zeichen der Verlobung dem Bräutigam ein Glas Wasser aus dem Brunnen schöpft“.

Danke MVG für dieses kleine Habitat Normalität in Kriegs- und Krisenzeiten: einfach einen Brunnen plätschern zu lassen, koste es was es wolle. Dieses bisschen Wohlstand sei uns noch vergönnt.

Streifschuss vom 01. Oktober 22

 

Anlass: sparrig verzweigt, stark gebogen, hakenförmig,  Krüppelwuchs beziehungsweise Krüppelform

 

Krummes Holz

 

Nein, ich bin kein Humanist. Nicht einmal Demokrat. Ich bin auch kein Satanist oder Monarchist. Ich habe in nun beinahe 60 Lebensjahren so meine Erfahrungen gesammelt und bin die restliche Lebenszeit damit beschäftigt einen halbwegs passenden Meinungsschuh daraus zu basteln, irgendwas aus all dem zu zimmern, was halbwegs bewohnbar ist. Und nur weil ich hier in dieser Welt lebe, in ihr geboren und erzogen wurde, akzeptiere ich die gängige Anschauung, dass die Demokratie die bestmögliche Staatsform wäre. Und ich akzeptiere weitestgehend die Grundlagen des Humanismus die Würde des Menschen zu achten, ein gewaltfreies Leben anzustreben in der jeder seine Meinung frei äußern darf. Aber ich bin weder Demokrat noch Humanist. Ich bin nun alt (betagt sagt man heute), also grau und mit leicht überschrittenem Verfallsdatum naturgemäß angesäuert. Alte weiße Männer sehen die Welt wie sie ist, bzw. halten sie dafür, sind geneigter (krümmer) geworden, die Welt für das zu halten, was sie ihrer Ansicht nach sei. Das ist typisch für einen Geist, der schon müde wird, aber diesen Zustand noch nicht mitbekommen hat, sich also für wacher hält, als er ist. Auch einer der berühmtesten Sätze der letzten Jahrhunderte (aus dem Jahr 1784) stammt von einem Mann in diesem Alter, von dem 1724 geborenen Immanuel Kant, der ihn in einer kleinen Nebenschrift mit dem Titel „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aufschrieb. Das ist ein Text mit neun längeren Sätzen – also kein allzu langer Text – in dem sich der preußische Sohn eines Sattlers mit der Vorstellung beschäftigt, dass die menschlichen Naturanlagen einem bestimmten Zweck dienten und entwickelt werden sollten. Nach Immanuel Kant eigne sich dazu die republikanische Staatsform am besten. Dazu bedarf es auch einer Geschichtswissenschaft, die sozusagen die Fortschritte dokumentiert, die der Mensch beim Ausbau seiner Naturanlagen mache.  Alle Kultur und Kunst, die schönste gesellschaftliche Ordnung schreibt  Kant im fünften Satz, sind Früchte der Ungeselligkeit. Durch unsere Disziplin haben wir der Natur diese Kunst abgedrungen (entrissen). Doch ohne äußeren Zwang würden wir nach unserem Wohlgefallen in wilder Freiheit leben und folglich nicht lange überleben. Im sechsten Satz schreibt er: Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Das ist konsequent. Denn Disziplin bedarf der strengen Zucht. Doch Kant erkennt den Widerspruch sofort und folgert daraus die Schwierigkeit, dass das höchste Oberhaupt der Menschen einerseits gerecht sein sollte, aber dennoch ein Mensch ist. Das ist die schöne Idee der Monarchie, dass das Oberhaupt von Staat und Kirche durch seine Gottnähe der menschlichen Neigung zur Faulheit und wilder Freiheit entrückt ist. Aber Kant ist überzeugter Republikaner. Es besteht also ein eklatanter Widerspruch darin, dass  wir Menschen nicht ohne Führung leben können, aber der Anführer auch nur ein Mensch ist, der eigentlich geführt werden müsste. Diesen Widerspruch kann Kant nicht auflösen und daraus folgt jetzt dieser berühmte und gern zitierte Satz Kants: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden.
Kant hat also keine sehr hohe Meinung vom einzelnen Menschen, vom Individuum. Immerhin sind wir – laut Kant - in der Lage von der Welt in der wir leben uns einen richtigen Begriff zu machen (durch die Wissenschaft).  Dies, etwas Erfahrenheit in der Welt und etwas guter Wille, reichen nach Kant wohl aus, um auf lange Sicht eine gerechte und friedfertige Gesellschaft zu schaffen. Dazu aber sollte sich der Mensch frei entfalten können, um seine Naturanlagen so weit als möglich ausbilden zu können.
Das sind nun aber schon eine ganze Menge Widersprüche, die Kant da aufgehäuft hat. Denn nicht nur ein gerechtes Oberhaupt ist unter den krummen Hölzern schwer zu finden, auch gute und vernünftige Lehrmeister sind ja Menschen, und folglich krumm.  Und wie lässt sich äußerer Zwang zur Entfaltung meiner Naturanlagen (Beispiel Schulpflicht) mit der freien Entfaltung vereinbaren?  Kant sieht das mit der Freiheit ganz pragmatisch. In der Metaphysik der Sitten schreibt er es so: Das Meer gehört dem Herrn der Küste, so weit von da die Kanonen reichen. Das offene Meer ist frey. Damit ist klar, dass die freie Entfaltung des Menschen unter der Vorstellung Kants nur dann  würdig sich entwickelt, wenn ihr äußerer Zwang entgegen gesetzt wird. Aus dieser Dualität entsteht Disziplin, die dem äußeren Zwang begegnet. Das ist fein beobachtet und ein Wissen aus der Natur. Aber haben wir denn wirklich nichts Besseres verdient, als eine Gesellschaft nach dem Vorbild der Natur? Wäre das nicht sozialdarwinistisch? Wir sind damit schon nachweislich und trotz Kant viel weiter als Kant.
Auch wenn wir gerade wieder einmal Krieg spielen soweit unsere Kanonen im Sinne Kants reichen und Existenzen damit verspielen: Wir sind besser als die Meinung alter weißer Männer über uns. Wir sind auch besser als meine Meinung über uns. Ich bin – ich wiederhole es gerne – weder Demokrat noch Humanist, und doch hat mich diese Gesellschaft dazu gebracht diese Werte zu schätzen und auch zu vertreten. Bin ich ein Heuchler? Nicht wenn ich einsehe, wie uneinsichtig ich sein kann. Oder um Viktor Frankl zu zitieren: Man muss sich nicht alles von sich selbst gefallen lassen. Auch nicht die eigenen Meinungen, möchte ich hinzufügen.
Natürlich sind die Herren die uns führen so krumm wie wir selbst. Das ist Kennzeichen der Demokratie, in der wir die Herren die uns führen selbst wählen. Nach der Wahl glauben diese krummen Herren manchmal, sie seien jetzt gerade gezimmert. Das ist das Problem mit der Macht. Ein Leitbild ist die Vorstellung von etwas Besserem. Manchmal verknüpfen wir unser Leitbild mit einem Portrait und orientieren uns an Einzelpersonen. Das macht uns und auch die Herren nicht gerade. Das Wunder besteht darin, dass jeder Einzelne eine Vorstellung über das Bessere hat und Begriffe dafür. Und das sind Ideen. Wir sehen das Gerade nicht in der Natur. Die Natur ist mindestens so krumm wie wir, die wir ja aus ihr stammen. Woher kommt denn nur diese Idee des Guten, Besseren, Geraden?  Frieden ist besser als Krieg, aber nicht jeder Frieden. Was ist gerecht? Was ist der Wert des Menschen? Kant sah die Ideen ganz pragmatisch als nützlich an. Sie können auch anders sein. Darin sind wir frei. Ideen gibt es viele. Doch nicht jede Idee ist nützlich, und nicht jede nützliche Idee ist auch zugleich das Bessere, Gerechtere, Geradere.

Mein ohnehin schon grauer Bart wurde beim Versuch Ordnung in diese Sachen zu bringen nur noch grauer. Und zugleich quält mich der Gedanke, dass diese Ordnung nicht notwendigerweise besser ist. Oder nützlicher. Zum Ende dieses Textes kann ich immerhin sagen, dass ich für einen Vormittag ungesellig war und mit Disziplin der ungebundenen, wilden Freiheit des Denkens ein wenig Wohlgefallen abgedrungen habe. Nicht mehr ganz so krüppelig, schief und krumm als zuvor. Aber da ich nur ein Mensch bin, noch lange nicht gerade.  

 

 

Streifschuss vom 23. September 22

 

Anlass: Stellt euch mal vor….

 

Affengeil

 

Heute bin ich aufgewacht und es war nichts, nichts in meinem Kopf. Diese Leere war gar nicht so schlimm, wie es klingt. Doch wenig brauchte es, um diese Leere aufzulösen. Der wohlige Zustand der Vorstellungslosigkeit kann nur kurz gehalten werden, nur Momente. Die Penetranz dieser Welt ist sofort da. Durchdringend, scharf, beißend. Jeden Morgen vergewaltigt mich diese Welt, zwingt mich teilzunehmen. Da ich diese Welt nicht anklagen kann, ohne mich dabei lächerlich zu machen, da ich diese Welt nicht los werde, ohne gleichzeitig mich los zu werden, bleibe ich ihr weiter ausgesetzt. Sie penetriert mich mit atmen müssen, trinken müssen, essen müssen, verdauen müssen, bewegen müssen, bis hin zum regelrechten arbeiten müssen, Zeugs einkaufen müssen, und um das ganze Zeugs zu verstauen zwingt mich die Welt zum wohnen müssen, in dieser Wohnung dann für Ordnung sorgen müssen und das immer und immer wieder. Diese Welt macht meine Wohnung immer wieder schmutzig, das eingekaufte Zeugs verschwindet und ich muss wieder Zeugs einkaufen, dafür muss ich immer wieder arbeiten gehen, dazu muss ich essen, um Energie zu haben, trinken, atmen, abends erschöpft einschlafen, und am Morgen erwacht man und spürt ganz kurz die Vorstellungslosigkeit postsomnal verklebter Schlafaugen. Doch kaum löst sich der klebrige Schlaf von den Äuglein, kommt schon die Welt und penetriert mich. Die Welt ist ein geiler Affe. Die Zivilisation hat diesem nackten Affen ein paar stilvolle Kleider umgestülpt, ihn einparfümiert und ein paar Manieren beigebracht. Aber die Welt bleibt ein geiler Affe. Und es fühlt sich nur geringfügig erträglicher an, täglich vergewaltig und missbraucht zu werden, wenn der Täter nach Parfüm riecht und höflich danke sagt nach der widerwärtigen Tat.
Ja, zugegeben. Es ist hier nicht alles schlecht. Das wäre ja noch schöner. Aber unsere Sterblichkeit ist doch ein schlagender Beweis dafür, dass niemand es hier ewig aushält. Ich kenne jedenfalls niemanden, der schon ewig da ist. Und viele Hochbetagte sind dann auch froh, wenn es endlich vorbei ist und die Vorstellungslosigkeit nicht nur Momente dauert. Die Vorstellungslosigkeit ist ja auch der Zustand mit dem wir auf die Welt kommen. Wir brauchen dann zwei bis drei Jahre, um das Vorstellen zu lernen. In dieser Zeit sind wir vollständig unselbständig und die Welt lässt uns erst mal in Ruhe. Doch kaum können wir uns was vorstellen, werden wir auch schon penetriert. Anfangs spielerisch, dann kommt die Schule und der Spaß wird mit Noten, Zucht und Ordnung eingeschränkt. Dann kommen die  Zukunftsängste und schon arbeiten wir brav. Nichts davon ist freiwillig. Alles ist der Vorstellung geschuldet. Und glaubt man an das ganze Kirchenzeugs, könnte das ja noch weiter gehen nach dem Tod. Das will ich mir nicht vorstellen, nein. Gott sei Dank haben wir Religionsfreiheit. Denn irgendwo und irgendwann muss auch mal Schluss sein.

 

Streifschuss vom 15. September 22

 

Anlass: Meine an allem zweifelnde Sanftmut erregte seinen unerschütterlichen Glaubenszorn. (Ich über meinen Psychoanalytiker)

 

Eine Lanze dem Skeptizismus

 

Skeptiker nennt man heutzutage gerne vorwurfsvoll Menschen, die an nichts glauben und nichts für gewiss halten. Seit dem Christentum und dem wütenden Angriff gegen sie von Augustinus, werden sie auch gerne „Zweifler“ genannt und sogar Nihilisten. Sie sind unglückliche Menschen, weil sie die Wahrheit nicht kennen, so der Generalvorwurf durch Augustinus. Doch Skeptiker sind keineswegs Zweifler. Es fällt ihnen lediglich schwer, sich auf etwas Bestimmtes festzulegen. Skeptiker verteidigen auch nicht das, was sie vermuten. Die Skeptiker, meinte Erasmus von Rotterdam,  folgen dem, was sich bewährt hat, Nicht-Skeptiker aber dem, was sie für gewiss halten. Aber auch das greift zu kurz. Skeptiker sind nicht nur Praktiker. Die Praxis ist dem Skeptiker durchaus wichtig und womöglich überstimmt sie die Theorie. Aber das ist nicht alles. Denn wenn die Inkongruenz zwischen Praxis und Theorie zu groß wird, dann verwirft der Skeptiker auch die Praxis. Die Hauptarbeit und Notwendigkeit des Skeptizismus ist es, zu untersuchen und zu hinterfragen. Vor allem allzu festgefügte Konzepte und so genannte Selbstverständlichkeiten machen den Skeptiker skeptisch.  Wir wissen alle, dass es sinnvoll sein kann gewisse Vorurteile beizubehalten. Aber sie stimmen dennoch nicht immer. Morgen geht die Sonne auf. Es ist ein auf  langjährige persönliche, historische und kulturelle Erfahrung gegründetes Vorurteil und meine Skepsis gegen diese vermeintliche Wahrheit ist – zugegeben – nicht sehr ausgeprägt. Dennoch kann ich es anzweifeln. Es gibt genug Hinweise darauf, dass dem auch einmal nicht so sein könnte. Die Endlichkeit allen Seins, der eigene Tod, oder kosmische Ereignisse von denen ich als einfacher Mensch gar nichts wissen kann, könnten den Sonnenaufgang verhindern. Natürlich sind das Gedankenspiele.  Es gibt andere und lebensnähere Beispiele. So hörten wir in der letzten Zeit häufiger den Satz, dass Waffen Menschenleben retten würden. Ich wurde skeptisch. Waffen töten in der Regel oder verletzen zumindest. Leben rettet ein Defibrillator.  Ich dachte nach und stellte fest: Waffen retten bestimmte Menschenleben. War das also nur ein sprachliches, bzw. rein logisches Problem und nun wurde es gelöst? Ich glaube nicht. Denn nun muss man doch weiter nachhaken. Was ist denn an diesen bestimmten Menschenleben so anders, dass man diese rettet indem man die unbestimmten Menschenleben durch Waffen tötet? Und zunehmend geraten wir in das Feld der Überzeugungen, des Dogmatismus. Der deutsche Soziologe Hans Albert lehrte in den 1960er Jahren in Mannheim und prägte in seiner Erkenntniskritik den Begriff des „Münchhausen-Trilemma“. Darin zeigte er sehr schön, dass man wohl keine Möglichkeit der Letztbegründung finden könne. Jede Begründung erfordert immer ihrerseits eine Begründung und dann kommt man logisch in einen infiniten Regress. Jeder der Kinder hat, kennt diesen infiniten Regress. Warum ist die berühmte Banane krumm? Weil sie durch Licht ihr Wachstum verändern. Warum tun sie das? Weil sich Pflanzen von Licht angezogen fühlen. Warum? Weil – Gott im Himmel! Ich bin schon überfordert. Warum ist also die Banane krumm? Darum! Blödes Kind und jetzt geh spielen.

Das wäre dann der zweite Faktor, des Trilemmas, der Zirkelschluss. Warum müssen wir einkaufen? Weil der Kühlschrank leer ist. Warum ist der Kühlschrank leer? Weil wir nicht einkaufen waren. Warum waren wir nicht einkaufen. Weil der Kühlschrank da noch voll war. Warum war der Kühlschrank da noch voll? Weil wir einkaufen waren. Warum waren wir einkaufen? Weil der Kühlschrank leer war. Warum ist der Kühlschrank leer? Weil wir nicht einkaufen waren.

Kinder geben daraufhin Ruhe. Aber schön ist es nicht. Es fehlt bei diesem Zirkelschluss gefühlt irgendwas. Dann kommt der Dogmatiker und gibt uns das fehlende Glied: Gott, Evolution, Kapitalismus, Demokratie, Wahrheit.

Also haben wir entweder das Problem ewig weiter fragen zu müssen und daran zu verzweifeln, oder wir zirkeln uns in eine Selbsttäuschung die uns verdummt, oder wir machen einfach irgendwann ein Ende und sagen Gott, Kaiser, Vaterland.

Skeptiker fragen dagegen immer weiter ohne zu verzweifeln. Sie sind Kinder und haben auch noch Spaß daran. Das macht mich skeptisch gegen alle, die mit Skeptikern und Kindern Probleme haben.

 

 

Streifschuss vom 04. September 22

 

Anlass: Rolle ist etwas Walzenförmiges, zu einer Walze (länglich mit rundem Querschnitt) Zusammengerolltes oder –gewickeltes…

 

Filmrolle oder Rollfilm, das ist hier die Frage

 

Solange ich nicht weiß, was das Ganze soll, wozu sich ereignet was sich ereignet, kann ich auf diese Welt nur mit einer Art interessierten Neugier blicken, bin dieser Welt damit entfremdet. I would prefer not to, sage ich wie der berühmte Barthleby, allerdings mit einem Schmunzeln und mir meines Statistendaseins bewusst. Aber auch Statisten leiden unter Zahnschmerzen, bekommen Krebs oder eine Fettleber. Wozu denn das?
Der Mathematiker Pierre-Simon
(Marquis de
) Laplace (1749 bis 1827) entwickelte dazu das Gedankenexperiment eines Dämons, der einer Weltformel gleich alles weiß. Dieser Dämon kennt alle Bedingungen, alle Antezedenzien unseres jetzigen Zustandes. Dieser Determinismus-Dämon macht all mein Tun zu einem bloßen Geschehen. Alles, was ich tue oder was ein anderer tut, ist ein Stück eines größeren Ereignisverlaufes, den niemand vollzieht, der vielmehr geschieht. Und selbst wenn der Determinismus von Pierre-Simon nicht vollständig ist, weil unser epistemologisches Wissen nicht ausreicht, ist die Bedrohung meiner Autonomie enorm. Der schottische Philosoph David Hume (1711 bis 1776) war ein Zeitgenosse von Pierre-Simon. Hume prägte den Begriff des Kompatibilismus, eines weichen Determinismus, der geradezu Voraussetzung meiner Handlungen sei. Hume zitiert dazu den alten Philosophen Chrysippos von Soloi, der etwa 200 Jahre v. Chr. in Athen lebte. Der stellte sich einen schlafenden Hund vor, der von einem bösen Menschen an den Karren gespannt wird. Der Hund erwacht, weil der Karren anfängt sich zu bewegen. Nun entscheidet sich der Hund, einen Spaziergang machen. Er folgt dem ihn ziehenden Karren. Hume wollte darin eine hypothetische Freiheit erkannt haben. Ich sehe darin nur einen Hund, der sich etwas vormacht, was es leichter macht. Wir können – so mein Gedanke - eigentlich nichts machen, nur uns etwas vormachen. Ein dem Hund von Chrysippos ähnliches Bild erdachte sich der holländische Glasschleifer Baruch de Spinoza (1632 bis 1677). Ein fliegender Pfeil, der in der Luft sein Bewusstsein erlangt, glaubt nun er flöge aus freien Stücken. Selbst wenn wir uns die Antezedenzien nur zufällig vorstellen, wir in einer Welt der Wahrscheinlichkeiten oder des Chaos leben, selbst dann sind wir nicht mehr als an einer Karre gebundene Hunde oder abgeschossene Pfeile. Es spielt keine Rolle, ob das zufällig geschah oder die Vorbedingungen von einer höheren Intelligenz geplant wurden. Denn so oder so sind meine und Ihre Handlungen damit ein großer Witz, nicht mehr als ein Schauspiel. „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, // Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht // Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr // Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt // Von einem Blöden, voller Klang und Wut, // Das nichts bedeutet.“ So Macbeth im 5. Akt, 5. Szene als Reaktion auf den Tod der Königin. Diesem Satz von Macbeth widerspricht eigentlich alles, was wir empfinden. Aber denken Sie an das Höhlengleichnis von Platon, die Welt als Schatten, als nur Vorgestelltes. Oder denken Sie an die Strophe 4.427 in Goethes Faust: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Erstaunlich und erschreckend dazu: eine ganz aktuelle Sichtweise der theoretischen Astrophysik. Und das ist jetzt kein Witz! Denn ich habe auch mit Physikern gesprochen. Alle sagten mir, dass diese Theorie große Aussicht hat, unser Universum zu erklären. Die Universität Wien gab 2015 folgende Pressemitteilung heraus: „Auf den ersten Blick scheint jeder Zweifel ausgeschlossen: Das Universum sieht für uns dreidimensional aus. Doch eine der fruchtbarsten Ideen der theoretischen Physik in den letzten beiden Jahrzehnten stellt genau das infrage: Das ‚holographische Prinzip‘ besagt, dass man für die Beschreibung unseres Universums möglicherweise eine Dimension weniger braucht, als es den Anschein hat. Was wir dreidimensional erleben, kann man auch als Abbild von zweidimensionalen Vorgängen auf einem riesigen kosmischen Horizont betrachten.“

Unter diesem Aspekt ist das Leben tatsächlich nur ein Schauspiel, eine Projektion von einem fernen Punkt des Universums. Wir sind nur Figuren auf einer Leinwand und die Götter lachen sich schlapp über uns, die wir uns für bedeutend halten. Die spannende Frage ist daher: Wie in aller Herrgotts Namen sind wir auf diese verfluchte Leinwand gekommen? Irgendwer muss uns doch gespielt haben! Solange das nicht geklärt ist…, - spiele ich meine Rolle. Auf einem Rollfilm. Egal was ich mache. Das Skript ist bereits fertig. Und irgendwer war mal, der mich spielte so wie ich jetzt bin. I would prefer not to.

 

Streifschuss vom 29. August 22

 

Anlass: Freiheit

 

Die Freiheit ist ein wundersames Tier

 

Die Ukraine verteidigt weiter unsere Freiheit. Wer das glaubt, der kann sich als Gehirn amputiert bezeichnen. Wer unsere Freiheit in diesem ehrenwerten Land - dessen Kanzler ein Bankbetrüger ist - als frei bezeichnet, der hat einen sehr reduzierten Freiheitsbegriff. Hol ich mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank oder nicht? Das ist unsere Freiheit. Also nichts als ein Luxusproblem. Und dieser Luxus ist ja bald vorbei und für viele Menschen schon jetzt. Derzeit verdiene ich mir ein paar Brötchen zusätzlich in einem Altenheim. Meine sehr herzlichen Kollegen sind großenteils eingewanderte und angelernte Kräfte, die wahrlich ihr Bestes geben. Und zwar sehr wörtlich, da dieses Beste nahezu komplett einfließt in den Profit des Heimbetreibers. Nur mal als Randbemerkung zu unseren Freiheiten. Andere übers Ohr hauen, über Leichen gehend Karriere machen und möglichst viel Immobilienbesitz raffen. Das ist Freiheit. In einem berühmten Lied fragte der österreichische Liedermacher Georg Danzer einmal einen Zoowärter nach dem Namen eines Tieres.
"Das ist die Freiheit.", sagte er dem Liedermacher, "Die gibt es jetzt so selten auf der Welt, drum wird sie hier für wenig Geld zur Schau gestellt."
Der Liedermacher schaute genauer hin und sagte: “Lieber Herr, ich seh ja nichts, der Käfig ist doch leer!"
"Das ist ja grade", antwortete der Zoowärter "der Gag, man sperrt sie ein und augenblicklich ist sie weg."
So. Nun überlegen Sie mal ganz genau, was sie wirklich ohne die geringste Einschränkung tatsächlich machen dürfen. Schon am Morgen wenn der Wecker läutet werden Sie reglementiert, gezwungen für ihr bisschen Hab und Gut zu schuften, sich einzureden, dass das auch noch Spaß macht. Die schönen Angebote unserer bunten Warenwelt können Sie nur kaufen. Das bedeutet, dass sie nur gegen den Aufpreis von Freiheitseinschränkungen zu erwerben sind. Sobald Sie etwas kaufen, ist Ihre Freiheit weg. Komplette Freiheit hätten Sie dann nur noch als Penner. Sie erinnern sich an den berühmten Dialog zwischen Jules und Vincent? Sie unterhalten sich darüber, was ein Wunder ist?
Eine Tat Gottes.
Und was ist das?
Wenn Gott das Unmögliche möglich macht.
Willst du aussteigen?
Aus diesem Leben? Auf jeden Fall.
Verdammt. Was willst du dann tun?
Tja ich werde ich über die Erde spazieren.
Was heißt das? - Wie Caine in "Kung-Fu".
Menschen treffen, Abenteuer erleben.
Und wie lange?
Bis Gott mich dahin bringt, wo er mich haben will.
Und wenn er das nicht tut?
Dann spaziere ich ewig.
Dann willst du ein Penner werden?
Nein, ich will Jules sein.
Nein, ein Penner. Wie all die Scheißtypen, die um Kleingeld betteln. Pennen in Mülltonnen, fressen, was ich wegwerfe. So was nennt man einen Penner. Und ohne Job, ohne Wohnung wirst du genau das sein. Ein Penner.

Also noch mal: Wenn die Ukraine unsere Freiheit verteidigt, mit Waffen, mit Waffengewalt und mit humanen Ressourcen, sprich Leichen durch Waffen, dann passt Pulp Fiction gut für diesen Krieg. Dann ist die Ukraine nichts weiter als ein Haufen Auftragskiller und Deutschland Marcellus. Und wer aufhört unsere Freiheit zu verteidigen ist dann eben ein Penner. Und jeder weiß, wie es um die Freiheit eines Penner bestellt ist.

 

Streifschuss vom 25. August 22

 

Anlass: Verblüffung ist ein Zustand großer Überraschung (Yogawiki)

 

Einen Lanz brechen

 

Für eine politische Karriere benötigt man zwei Eigenschaften: eine enorme kriminelle Energie und die Fähigkeit, die eigene Unfähigkeit als Fähigkeit zu verkaufen. Von Helmut Kohl bis Olaf Scholz hatten wir in dieser Hinsicht wirkliche Vorbilder. Unsere führenden Politiker in diesem Land sind im Dreck wühlende Schweine, die uns allen vormachen, das sei besonders vornehm. Jeder der sich schon mal im Feld der Politik betätigte weiß, dass man im Grunde nichts ändern kann. Man wühlt und wühlt, aber es wachsen immer wieder die gleichen Kartoffeln. Nach ein paar Jahren muss man sich entscheiden. Wer in der Politik bleibt, kümmert sich nur noch um seine eigenen Kartoffeln. Mit geschickter Rhetorik und gemeinsam mit den Medienpartnern der Politik kann man dann behaupten die eigenen Kartoffeln und trockenen Schäfchen seien das Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Geldgier, Machtgier und Geilheit lauten die geteilten Gewalten in einem demokratisch versauten Kapitalismus. Oder kapitalistisch versaute Demokratie? Da sitzen sie in den Fernsehstudios, umgeben von Experten winden sie sich schlangenartig aus dem Griff des Wissens, verbreiten mit leutseligen Blicken Dummheiten, dabei unverblümt den Experten wohlwollend zunickend. Die Experten sind verblüfft. Der Lehrer fragt das Kind: „Also, hast du verstanden?“ Das Kind sagt mit munterem Blick „ja“.
„Also“, fragt der Lehrer weiter, „wie viel ist zwei Mal zwei?“
„Fünf“ antwortet das Kind mit strahlendem Lächeln und stolz auf die richtige Antwort.
So jedenfalls jüngst Sachsens Landesvater Herr Kretschmer bei Lanz zur Klimapolitik gegenüber Prof. Quaschning (im Bild). „Warum“, fragt ihn der Klimaexperte „haben Sie in Sachsen nur ein Windkraftrad gebaut?“
„Wir brauchen dringen erneuerbare Energien“, antwortet der sächsische Landesvater mit leutseligem Blick.
„Aber Sie haben nur ein Windkraftrad gebaut!“
„Das ist so nicht richtig.“
„Doch!“
„Es gibt Verordnungen…“
„Die Sie selbst eingeführt haben.“
„Das ist so nicht richtig.“
„Doch.“

Über diesen Mann, der schon auch ein bisschen Ähnlichkeit mit Adolf Höcke hat, aber nur äußerlich, denn Höcke ist auf perfide Art intelligent, während Herr Kretschmer auf perfide Art dumm ist, über diesen Mann noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren, wäre ein verlorenes Wort. Warum sitzt dieser Schwachkopf bei Lanz? Na, das muss man wirklich nicht erklären. Jedenfalls war den Blicken des Klimaexperten Prof. Quaschning große Verblüffung anzusehen.
Solche Sendungen werden produziert, Millionen schauen zu! Ihr, die ihr zu Lanz kommt, lasset alle Hoffnung fahren. Die Fernsehklassenzimmer von Lanz, Illner, Maischberger und so weiter, sie repräsentieren die verschimmelten und von Unterrichtsausfall, verstopften Toiletten und mit Kaugummis gekennzeichneten Schulräume der bundesdeutschen Bildungsoffensive. Warum tut die Regierung nichts? Das ist so nicht richtig. Doch. Sind unsere führenden Politiker wirklich machtgierig, geldgierig und ständig geil? Ich glaube nicht. Denn längst sind sie von außerirdischen Echsen kontrollierte reptiloide Marionetten. Anders kann man sich die verblüfften Gesichter der Experten über beratungsresistente Politiker nicht mehr erklären.  

 

Streifschuss vom 23. August 22

 

Anlass: Die Erde ist der Ursprungsort und Heimat aller bekannten Lebewesen. (Wikipedia)

 

Irgendwo im Nirgendwo

 

Vor über 300 Jahren dachte schon ein deutscher Mathematiker darüber nach, was das Ganze hier eigentlich soll und warum nicht einfach nichts ist. Fragen Sie sich das auch manchmal? Vor allem wenn Ihnen zu Bewusstsein kommt, dass in ein paar Jahren ohnehin alles vorbei ist. Und zwar wirklich alles. Sie sehen schon. Fragen Sie lieber nicht. Man will nicht alles so genau wissen. Gut, überhöhte Mieten zahlen, sich im Schweiße seines Angesichts seine Brötchen verdienen, gegen Putin auch noch frieren und den ganzen Ärger mit der Verwandtschaft, den Kollegen und dem Rest der Menschheit aushalten, wenn das endet, dagegen ist nichts einzuwenden. Aber mit dem eigenen Tod endet auch das Großartige, Unglaubliche, Phantastische, das dieses vollkommen sinnlose Projekt Leben ist. Und damit ist der Tod eine Ungeheuerlichkeit, ja eine echte Unverschämtheit. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass mit dem eigenen Tod wirklich alles zu Ende ist und es nicht in der Hölle weiter geht. Immerhin kann man beim Anblick einer Leiche verzweifeln. Man rüttelt den leblosen Körper, brüllt ihn an er möge sich erheben, verdammter Lazarus, das hat doch mal angeblich geklappt! Aber auch das ist lange, lange her. Und nicht jeder von uns ist so talentiert wie Jesus. Daher kann man davon ausgehen: Tot ist tot. Und dann ist nicht nur unsere Innenperspektive weg, sondern auch die Außenperspektive. Dann kann man sich nicht einmal mehr vorstellen, tot zu sein, weil man ja dann tot ist. Kann man sich nur vorstellen was nicht ist, bzw. was ist gar nicht vorstellen? Was ist, ist keine Vorstellung. Man stellt sich nur vor, was nicht ist und sein könnte. Der Optativ ist damit die Außenperspektive, die aber nicht ohne Innenperspektive, also ohne das was ist, möglich ist. Dass das was ist, so eng mit dem verzahnt ist, was nur möglich ist, und zugleich das was möglich ist ohne das was ist nicht ist, also nicht möglich, das zeigt auf, dass wenn man tot ist, nichts mehr ist. Auch keine Hölle oder ein Himmel. Andererseits ist es womöglich die Hölle, wenn gar nichts mehr ist. So gesehen kann ich mir die Hölle allerdings nicht vorstellen, wenn ich nicht mehr bin. Denn dann wäre sie, sprich wenn man tot ist, ist es die Hölle und nicht mehr eine mögliche. Jeder mögliche Höllenhorror ist nur dann möglich, wenn ich bin. Insofern ist der Verlust der Außenperspektive auch nicht so tragisch. Alles was entsteht ist wert, dass es zugrunde geht. In dieser Verneinung des kleinen Höllenfürsten, den Goethe vor gut 260 Jahren in Italien erdacht hat (und von dem die Kinder laut Beschluss der Regierung nichts mehr wissen müssen), in dieser Szene in Faustens Studierzimmer spiegelt sich genau diese Außen- und Innenperspektive. Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt,  gewöhnlich für ein Ganzes hält. Von Körpern strömt’s, die Körper macht es schön, ein Körper hemmt’s auf seinem Gange, so, hoff‘ ich, dauert es nicht lange, und mit den Körpern wird’s zugrunde gehn. Und die anderen, die weiter leben, wenn wir tot sind? Nun ist dieser plumpen Welt nicht beizukommen. Aber was soll’s. Alles steht und fällt mit uns. Wozu dann also die ganze Aufregung, diese Karrieren, diese verzweifelte Suche nach Liebe, diese Bitterkeit des Versagens? Die Sorge, sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein. Hast du die Sorge nie gekannt? Ich bin nur durch die Welt gerannt. Das ist die Innenperspektive, Hamster sein im Hamsterrad. Verantwortung dagegen ist ein Konzept, das unter der Flagge des Subjektivismus schwer einzuhalten ist. Und doch ist dies alles – und diesmal wirklich alles – bald vorbei, das Universum zugrunde gegangen, schon vorher der Planet, und auch schon vorher die ganze Menschheit und alle Tiere und Pflanzen. Unter der Flagge des Nihilismus verlottert man erst recht. Ein verschwenderisches, ausschweifendes, luxuriöses Unternehmen wie das Leben, einfach weg! Wozu der Aufwand? Und meine kleine Person verschwindet wie viele andere kleine Personen. Es spielt keine Rolle, ob heute, morgen oder in einer Woche. Unter dieser Perspektive erscheint es mir oft völlig unverständlich, warum wir Menschen uns gegenseitig derart quälen und uns selbst dazu. Doch nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen. Für alles gibt es einen passenden Spruch und sein Gegenteil dazu. Das Ganze ist nicht fassbar und es ist gut, dass es so unfassbar ist. Aber irgendwie auch gar nicht gut. Ein Teil des Ganzen, ein Teil von etwas von dem ich nichts weiß. Also etwas, irgendwo im Nirgendwo, das man schlicht nur aushalten muss und sonst nichts.

 

Streifschuss vom 08. August 22

 

Anlass: Es gibt nur eine Klasse in der Gesellschaft, die mehr an Geld denkt, als die Reichen. Das sind die Armen. (Oscar Wilde)

 

Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung (Wikipedia)

 

Alles kostet Geld. Jede Form der Teilhabe am Leben ist mittelbar oder unmittelbar an Geld geknüpft. Alles? Ja, alles. Das Atmen ist noch umsonst. Aber damit kommt man nicht sehr weit, auch wenn man ohne das Atmen gar nirgend wo hin kommt. Da aber alles im Leben an Geld geknüpft ist, kann man sich nur zwei Grundarten der Utopie vorstellen. A) eine Utopie ganz ohne Geld und b) eine Utopie in der Geld eine Art Allmendegut ist.
Sehen wir uns zuerst einmal Punkt a) an. Eine Welt ohne Geld? Es wäre der Schleier den alles umgibt gelüftet. Wie sollte man in einer Welt ohne Geld die Güter verteilen? Wie könnte man Besitz überhaupt erklären? Auf einmal wäre klar, dass jeder Besitz der andere ausschließt Diebstahl ist. Aber eine Verteilung von Gütern müsste dennoch irgendwie stattfinden. Eine Art sozialistischer Verwaltung die bestimmt, wer was bekommt und wie viel davon. Die meisten Menschen bekämen dann wohl das Gleiche. Beamte die Güter verteilen. Wie gut das klappt, sieht man schon bei den letzten kümmerlichen sozialistischen Resten in Deutschlands Sozialstaat. Menschen vergleichen sich gerne miteinander (genauer vergleichen sie sich gerne gegeneinander). Wenn aber alle gleich sind, gleich aussehen, gleich leben, herrscht Tristesse. Der geringste Farbtupfer könnte eine solche Gesellschaft unangenehm erregen. Eine kleine Abweichung im Verhalten und die allzu Gleichen (Gleichgemachten) gehen auf den Abweichler los. Also eine Welt ohne Geld würde die Menschen nackt und so wie sie Gott schuf zeigen. Und der Mensch wurde schon von Gott aus dem Paradies geworfen, so unerträglich fand sogar der Schöpfer seine eigene Kreatur. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen… heißt es im dritten Kapitel des ersten Buch Moses. Und der Schweiß ist meist der Scheiß mit dem Geld. Leistungsfreies Einkommen offenbart die Menschen. Man sieht das bei den Reichen und den Armen. Sie verlottern beide. Niemand will etwas mit einem superreichen Widerling (Elon Musk, Zuckerberg, Jeff Bezos) zu tun haben. Es existieren Gott sei Dank weltweit nur 70.000 Superreiche Arschlöcher (Ultra-High-Net-Worth Individuals nennt man Leute mit über 100 Millionen Euro Vermögen) auch wenn immerhin 9.000 superreiche Arschlöcher im Jahr 2021 dazu gekommen sind. Arme Arschlöcher gibt es viel mehr. Und mal ehrlich: Wer möchte einem armen Arschloch ständig das Bier bezahlen? Egal. Viel Geld verdirbt den Charakter genauso wie zu wenig Geld. Die richtige Menge Geld (vermutlich derzeit etwa 60.000 Euro pro Jahr laut einer Studie) verdirbt nur deshalb nicht den Charakter, weil man froh ist, kein Arschloch zu sein, also weder ultra high noch ultra low. Der soziale Vergleich stärkt den Charakter.

Lieber Punkt b), eine Welt mit Geld aber als eine Art Allmendegut. Stellen wir uns einen großen Topf vor, der mitten auf dem Dorfmarktplatz steht. Der ist prall gefüllt mit Golddukaten und jeder kann sich bedienen. Ist er leer, wird er wieder gefüllt. Von wem? Von denen die das Gold haben. Von allen, die es dort hinein tun. Man könnte sich das ähnlich wie mit dem Büchertausch vorstellen. In manchen Stadtteilen Münchens stehen allen zugängliche Regale. Dort hinein stellen Leute die Bücher die sie gelesen haben und nicht mehr zu Hause benötigen. Andere haben das noch nicht gelesen und nehmen es. Auf diese Weise entsteht ein geldfreier Fluss von Büchern und jeder hat etwas davon.  Schon hier sieht man, das funktioniert mit Geld nicht. Geld ist etwas völlig anderes. Hätte jeder genug Geld für alle Güter, wäre das nicht genau so wie unter Punkt a)? Geld ist kein Gut. Nur in der Finanzwelt wird mit Geld spekuliert, Geld mit Geld gekauft und Geld durch Geld vermehrt. Vor dem Kapitalismus war Geld ein klassisches Tauschmittel das man horten konnte und das einem dann Macht verlieh. Aber jedem war klar, dass Geld seinen Wert nur als Tauschmittel gegen Güter hatte. Alles Geld der Welt nutzt einem nichts, wenn keine Güter da sind. Wir lernen das gerade wieder ein wenig in Bezug auf das russische Gas (durch den Ukrainekrieg kam es zu politischen Verwerfungen gegen Russland und diese reduzieren die Gaslieferungen an Deutschland). Der Kapitalismus hat alles auf Geld gesetzt und uns gelehrt, dass Güter da sind, sobald Geld da ist. Dieser Schluss war trügerisch und auch zerstörerisch. Also ist b) Geld als Allmendegut keineswegs eine ideale Utopie.
Geld abschaffen funktioniert nicht, Geld für alle funktioniert auch nicht. Also bleibt weiter die Realität wirksam, in der das Geld als knappes Tauschmittel einerseits und als unendlich vermehrbares Wirtschaftsgut andererseits wirkt. So bleiben viele arm und ein paar werden unendlich reich. Die kleine Gruppe Superreicher zerstört die Welt in der die Armen sowieso nicht mehr leben wollen. Na super. Alles wie gehabt. Dystopie for ever. Und alles voller Arschlöcher in dieser Welt.

 

Streifschuss vom 07. August 22

 

Anlass: Sonntagsmuffelei

 

tohu ṿavohu

 

Das Leben hat – wir wissen es alle längst – keinen Sinn. Die Natur die uns draußen umgibt ist chaotisch. Selbst Wetterfrösche sind nur verwirrte und traurige Hyla arborea die man gegen ihren Willen in ein Glas sperrte und die nicht wissen, warum sie jetzt auf einmal in einem engen röhrenartigen Gefäß stecken.
Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen nun Ordnung in dieses Chaos zu bringen, zählen die Sterne, mähen den Rasen, räumen das Obst in Regale, planieren den ganzen verrückten Wildwuchs mit Teer, sortieren Buchstaben in Büchern, malen Bilder in Quadrate, bauen eckige Häuser, laufen mit Zirkeln herum und vermessen alles. Es sieht auch vordergründig total aufgeräumt und sauber aus auf dieser Welt. So versucht der Mensch mit seinen Händen, seinem Herzen und seinem Verstand Ordnung und Sinn in diese verrückte Welt zu bringen. Dazu hat ihm einst der Herr den Odem eingehaucht. Bring Ordnung rein in die Scheiße, die ich da gebaut habe. Der senile alte Gott, Alzheimer im Anfangsstadium schuf sich gerade noch rechtzeitig den Menschen als seinen Betreuer. Doch nach und nach kümmerte sich der Betreuer nicht mehr um den immer seniler werdenden alten Gott, fand das ständige Beten und Anhimmeln lästig. Zumal dieser alte verblödete Gott jedesmal vergaß, dass man ihn gerade angebetet hatte. Was sollte das? Das macht doch keinen Sinn, sagte der Mensch. Doch nichts, gar nichts macht Sinn. Diese ganze Ordnung und dieser ganze Sinn den Menschen anrichten, machen der das Chaos so liebenden Welt allmählich echte Probleme. Das war dann doch zu viel des guten. Dennoch bleiben die Kirchen weiter bestehen als Symbole der Ordnung und Sinnstiftung. Die Kardinäle und ihr Papst machen weiter ihr Ding mit Kindern (ihr Kinderlein kommet…).  Die Zeugen Jehova, Scientology, in Jesus vernarrte Freikirchler, und weiß der Teufel wer noch alles herum betet auf dieser verrückten Welt, die doch schon von jeher Ginnungagap war. Nichts, es steckt nichts dahinter. Keine höhere Ordnung, keine Transzendenz. Ordnung, Transzendenz, Sinn! Das sind doch die Probleme, nicht die Lösungen. Und wenn man sich selbst den Sinn ausdenkt ist das lächerlich, so wie die menschlichen Erzeugungen einfach nur lächerlich sind. Seit ein paar Wochen bin ich ebenfalls Besitzer eines dieser modernen, leicht tragbaren und mit vielen bunten Knöpfen die man drücken kann ausgestatteten Telefons, mit dem man nebenbei immer noch telefonieren kann (was aber nur noch selten vorkommt, weil ja die vielen anderen Knöpfe, grüne, blaue, rote, zu drücken sind). Ein Plastikspielzeug für Erwachsene. Ordnung über Ordnung, bunte piepsende Knöpfe in Reih und Glied auf dem so genannten Touchscreen. Blöder geht es kaum und wenn ich das lächerliche Ding in der Hand halte, fühle ich mich verhöhnt. Sinnloser Schwachsinn. Vor allem für so jemanden wie mich, der kaum Freunde hat und im sinnlosen Ginnungagap lebend täglich auf seinen Bauchnabel blickt, in dem sich das Chaos dieser Welt blitzblank spiegelt. Was bedeutet für so jemanden ein Smartphone? Nun was es eben bedeutet: Ein Zeichen dafür, dass man ein Sklave dieser von Menschen halb tot gezüchteten und durch Ordnung zerstörten Welt ist. Doch bleibt man ein Stück Treibholz in Ginnungagap dem alle anderen ständig einreden, dieser ganze Schwachsinn hier sei sinnvoll.
Nun ja. Möget ihr alle glücklich werden.

 

 

Streifschuss vom 01. August 22

Anlass: bonus tempum mori –

Fututio

 

Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zu sterben, sagt man gerne wenn man sich sehr glücklich fühlt. Aber immer wenn so ein guter Zeitpunkt zu sterben da ist, will man ja nicht sterben. Das ist das faustische Dilemma. Augenblick verweile doch. Du bist so schön. Dann mag ich zugrunde gehen. Absurd. Na, ob ich schon sagen könnte, der Augenblick solle verweilen, bezweifle ich sehr. Abgesehen davon bin ich nicht so pathetisch veranlagt, dies rauszuhauen. Denn ich weiß ja, dass der Augenblick immer gleich weg ist. Denn in so einen Augenblick kann man nicht viel reintun und daher auch nicht beurteilen, ob er bleiben soll oder nicht. Da braucht es schon mehrere Augenblicke. Vielleicht so um die 50 bis 500 Augenblicke? Aber wie klänge das? Ach, Stunde verweile doch…, da fehlt einfach das Plötzliche, das Platon im Höhlengleichnis anwendete (Exaiphnes), das von Ruhe in Bewegung und von Bewegung in Ruhe umschlägt. Es gehört keiner Zeit an, weil es weder ist noch nicht ist. Wenn dieses Plötzliche verweilen sollte, was sollte das sein? Wenn also jemand sagt, er habe keine Zeit, dann muss er wohl ein glücklicher Mensch sein. Ist es das, was Goethe in Wahrheit ausdrücken wollte, als er seinen Faust als 100 Jahre alten und von Sorgen erblindeten Tycoon-Greis sagen ließ: Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß… Gott wie mühsam geht die Weisheit hier zugrunde…
Und dann nach so viel Anstrengung und zermürbender, die Menschen versklavender Chef-Mentalität kommt es Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn.  – Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.

Was verweilen soll, ist also das, was nicht ist und auch nicht nicht ist. Ein Schwebezustand, frozen Reality, ein Werden in statu nascendi. Einen Moment zu erleben, den man so für immer haben möchte, der auf alle Ewigkeit hin so bleibt! Was ist das für ein Moment? Wer, wirklich wer könnte je so etwas erleben? Und wollte das dann für immer und ewig genau so erleben und haben? Das kann ja nur das Erleben eines Orgasmus sein. Aber ist ein ewiger Orgasmus wirklich erstrebenswert? Zeichnet sich der Orgasmus nicht gerade durch seine Plötzlichkeit aus? Wäre es noch so schön, wenn das dauernd und immer so wäre? Könnte ja sein, dass das bald anfängt richtig weh zu tun. Hat sich Goethe da nicht ein bisserl vertan, verschätzt? Oder ist das genau die Empfindung dabei, dass es einem das Vorgefühl der eigenen Ewigkeit liefert?

Dann wäre es in der Tat das Beste wenn man beim Vögeln abnippelt – um es mal ganz unliterarisch auszudrücken. Etwas Viagra und etwas Hypertonie und los geht’s. Ist eigentlich ganz simpel, glücklich zu sterben. Machen aber trotzdem die Wenigsten…

 

 

Streifschuss vom 23. Juli 22

 

Anlass: Versprechen

 

Du stirbst! Versprochen

 

Wir wissen alle, dass die Werbung ihre Versprechen selten einhält. Aber besonders bitter finde ich das Versprechen der Tabakindustrie: Rauchen ist tödlich. Ich rauche seit über 40 Jahren. Und? Nichts. Ein bisserl schnaufen muss ich halt, wenn‘s steil wird. Aber ich bin kräftig gebaut. Da muss man eh schnaufen, weil: mehr tragen. Von wegen „Rauchen ist tödlich“. Ja, zugegeben, das ist morbid von mir. Aber ich bin zur Hälfte Österreicher und das ist nun mal mein erblicher Anteil. Die andere Hälfte ist meine bayrische Bierruhe. Morbide Bierruhe in Summa. Das hilft beim Sterben. Anderes habe ich hier eh nicht mehr zu tun. Ich warte schon sehr lange. Im Alter von 27 bekam ich den ersten Dämpfer. Ich überlebte, gehörte nicht zu diesem besonderen Klub für immer, war kein Hendrix, kein Morrison, kein Cobain, nicht mal Musiker. Im Alter von 33 Jahren schon der nächste Schock! Ich war auch kein Jesus. Wieder überlebte ich und rauchte und rauchte. Und dann, um die Jahrtausendwende, als ich auf die 40 zuging, wurde dieser Spruch auf jede Zigaretten-Packung geschrieben. Was sollte das! Ich hatte schon 20 Jahre Rauchen hinter mir und nicht zu knapp, dazu Bier (für die Ruhe). Ab da wurde mir klar, dass man mich verhöhnt. Ich wusste schon lange, dass der Tod unvermeidlich ist. Er ist das einzige Ereignisse das zu 100 Prozent eintreffen wird. Daher macht es doch Sinn, sich darauf vorzubereiten. Auf das einzige wirklich sichere Ereignis nicht  vorbereitet zu sein, halte ich für Ignoranz. Während die meisten Menschen dieses zu 100 Prozent sichere Ereignis ignorieren und ihr ganzes Leben auf Eventualitäten ausrichtet, auf hypothetische Ereignisse sozusagen, bin ich im Wesentlichen nur damit beschäftigt zu sterben. Dank meiner bajuwarischen Gelassenheit warte ich auf den Tod wie ein Fahrgast der deutschen Bahn auf seinen Regionalzug. Doch dabei – und das ist unentschuldbar – versäumte ich zu leben. Ich habe viel gelesen, was man ja macht, wenn man auf den Zug wartet. Während Andere Karriere machten, ein Haus bauten, Lebensträume verwirklichten, wartete ich lesend auf den letzten Zug. Den ich natürlich homonym verstanden wissen will.

 

Streifschuss vom 04.  Juli 22

 

Anlass: was ist eigentlich ehrenwert? Anmerkung zur Inflation

 

Der Teufel mischt halt immer mit

 

Jede Art von Wachstum fordert bestehende Systeme heraus. Schon aus dieser Perspektive betrachtet ist der Kapitalismus ein Antisystem. Eine Ökonomie die auf Wachstum aufbaut kann die Organisation dieses Wachstums nicht immer kontrollieren. Regulierung von Wachstum widerspricht sehr oft dem dynamischen Bedürfnis der kapitalistischen Ökonomie. Ein liberaler Markt ohne staatliche Regulierung zerstört in hoher Geschwindigkeit jedes System. Doch auch jede Form der Regulierung kommt an ihre Grenzen. Ein großer Teil wirtschaftlicher Prozesse wird durch öffentliches Recht reguliert. Die Komplexität dieses Rechts erfordert ausdifferenzierte Spezialisten, weil im Kapitalismus alles wächst. Mit dem Reichtum an Waren wächst die Regulierung aber nicht parallel mit. Das Problem ist ohnehin, dass die Verwaltung des Wachstums nicht synchron läuft mit dem Wirtschaftswachstum selbst. Denn das Regulierungswachstum widerspricht dem Wirtschaftswachstum. Es entsteht eine sehr merkwürdige Dichotomie zwischen Verwaltungswachstum und Wirtschaftswachstum, eine Dichotomie die rechtsfreie oligarche Strukturen geradezu heraufbeschwört. Die moderne Ökonomie wirkt so wie ein gezüchteter Dschungel. Der moderne Massenmensch bewegt sich in diesem Kunstdschungel wie ein vormoderner Mensch und benutzt den in dem Dschungel existierenden Warenreichtum wie einen Fetisch. Der moderne Massenmensch umgibt sich mit Dingen wie mit einem Abwehrzauber. Aber er versteht die Wirkungslosigkeit dieses Reichtums nicht mehr.

Der elsässische Reformator Martin Butzer schrieb vor 500 Jahren: Jedermann läuft hinter jenen Geschäften und Beschäftigungen her, die den höchsten Gewinn versprechen. Das Studium der Künste und Wissenschaften gibt man auf und geht lieber den gewöhnlichsten Beschäftigungen nach. Alle klugen Köpfe, die Gott mit der Fähigkeit zu edleren Studien begabt hat, widmen sich nur noch der Geschäftemacherei, die heute so voller Unehrlichkeit ist, dass es die allerletzte Art ist, mit der sich ein ehrenwerter Mann abgeben sollte.

Und Martin Luther schrieb etwas zur gleichen Zeit in seinem Pamphlet „Von Kaufshandlung und Wucher“: Sie haben alle Ware unter ihren Händen und machens damit, wie sie wollen, und treiben ohn all Scheu die obberührten Stücke: dass sie (die Preise) steigern oder erniedrigen nach ihrem Gefallen und drücken und verderben alle geringen Kaufleute gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser, gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen und frei von allen Gesetzen des Glaubens und der Liebe.

 

Mehrere Revolutionen und Weltkriege später ist es wie gehabt. Der einzige Fortschritt liegt darin, dass es noch schlimmer wurde. Einerseits. Andererseits leben wir in einer wunderbaren Traumfabrik. Wir wandeln täglich Steine in Brot – was Jesus noch verweigerte. Mit dem Teufel im Bunde, haben wir wohl nicht mit Gottes Schwäche gerechnet. Er kann immer noch keinen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht heben kann, denn könnte er ihn heben, könnte er ihn ja nicht erschaffen. Gottes Macht ist begrenzt. Der Teufel hat uns unbegrenzte Macht vorgespielt und seine Traumfabrik errichtet. Natürlich sind wir schwachen Menschen darauf reingefallen. Aber jetzt wissen wir es. Immerhin haben wir ein paar Jahrhunderte gut gelebt. Einige von uns zumindest. Scheinbar. Denn der Teufel hatte immer seine Finger im Spiel.

 

 

 

Streifschuss vom 30. Juli 22

 

Anlass: komplex, kompliziert, Komplizen und Komplimente?

 

Komm mir bloß nicht so

 

Es gibt diesen sehr sinnigen Witz von dem Mann, der zum Therapeuten ging und sagte: „Hören Sie, ich bin offensichtlich verrückt. Jede Nacht versammeln sich alle möglichen Tiere, Löwen, Tiger, Gazellen unter meinem Bett und halten Paraden ab. Können Sie mich davon befreien?“
Der Therapeut meinte zu dem aufgeregten Mann, er solle sich erst einmal auf das Bett dort legen und genauer erzählen.
„Ja wie lange dauert es denn und was kostet das?“, fragte der Mann den Therapeuten.
„Eine Stunde kostet 100 Euro und wir beginnen erst einmal mit 80Stunden und können dann noch weitere 20 Stunden anhängen“, antwortete der Therapeut.
„Nein“, sagte der Mann nun deutlich empört „so verrückt bin ich auch wieder nicht“, und verabschiedete sich.
Einige Tage später traf der Therapeut diesen Mann zufällig auf dem Markt.
„Wie geht es Ihnen denn?“, fragte ihn der Therapeut.
„Großartig. Mein Schwager hat nur eine Stunde gebraucht um mich zu heilen.“
„Ach“, sagte der Therapeut, „Ihr Schwager ist auch ein Psychologe?“
„Nein, er ist Schreiner. Er hat einfach die Bettpfosten abgesägt und dann war alles gut.“

Komplexitätsverminderung ist eine schöne Sache. Der berühmte Mathematiker aus dem 18. Jahrhundert Johann Carl Friedrich Gauß war schon als Kind – wie viele Genies – klüger als seine Mitschüler und ging mit seiner neunmalklugen Art allen auf den Keks. Einmal wollte sein Lehrer ein wenig Ruhe haben und gab der Schulklasse in der auch der kleine Carl Friedrich saß eine Aufgabe. Sie sollten die Zahlen 1 bis 100 zusammenaddieren. Davon erhoffte sich der Lehrer eine Stunde Pause. Und ich hätte auch mindestens so lange gebraucht. Eins plus zwei ist drei, plus drei ist sechs plus vier ist zehn und so weiter. Der kleine Carl Friedrich war schon nach zwei Minuten fertig und überraschte den Lehrer mit dem richtigen Ergebnis.
„5.050“, sagte Carl Friedrich stolz.
„Ja aber… das stimmt! Wie hast du das so schnell herausbekommen?“ wollte der Lehrer wissen.
„Ganz einfach: eins plus 100 ergibt 101, zwei plus 99 ergibt auch 101, also haben wir es mit 50 Additionen zu tun, die jedes Mal 101 ergeben. Also 50 mal 101 ist 5.050 voila.“ Was also für den kleinen Carl Friedrich eine Hilfe war, war für den Lehrer eine Zumutung. Denn der wollte nur endlich eine Stunde Ruhe vor diesen fürchterlichen, besserwisserischen Kindern haben.

Als ich ein Kind war, wurde mir die Aufgabe gestellt sieben Mal sieben zu errechnen. Ich meldete mich so stolz wie ein kleiner Carl Friedrich und rief laut in die Klasse: „47!“
Ich musste nun eine Stunde in der Ecke stehen und war enttäuscht, weil meine klare Überlegung, dass in einer Rechenart in der zweimal die Zahl sieben vorkommt auch im Endergebnis die sieben stehen müsse, schlicht falsch war.

Man kann Komplikationen also auch auf die ganz falsche Art vermindern. Bei einer Uhr ist eine Komplikation ein Zusatzmodul, das den Preis und den Funktionswert der Uhr steigert, in der Medizin dagegen ist die Komplikation eine unerwünschte Folge einer Erkrankung die weiterer Therapie bedarf. Rein sprachlich ist es einfach ein zusammenlegen, zusammenfalten oder zusammenwickeln, woraus sich auch das Wort „Komplize“ ergab. Und ein Komplize der bei einem Bankraub Schmiere steht, ist keine Komplikation, sondern eine zusätzliche Hilfe. Der Komplize kann natürlich zur Komplikation werden, wenn er gegenüber der Polizei als Zeuge aussagt um selbst straffrei zu gehen. Was kompliziert oder nicht kompliziert ist, ist damit immer eine Frage der Perspektive.

 

Streifschuss vom 14. Juni 22

 

Anlass: was wurde aus dem Turm?

 

Hinter den Toren Babels

 

Erzählen sei eine selektive Tätigkeit, meint Albrecht Koschorke in seinen Grundzügen einer allgemeinen Erzähltheorie. Es käme auf Reduktion an. Da unsere Wahrnehmungen, unsere Vorstellungen (Beispiele wären Gerüche, Farbeindrücke etc.) nicht allesamt mit Wörtern gedeckt seien, käme es auf Sparsamkeit und Erkennbarkeit (Verständlichkeit) der Sprache an. Diese Erkennbarkeit wird angewandt als Schema, das Erwartungen ansteuert. Andererseits verfügen wir über eine enorm große Wortmenge, die sich in unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt gar nicht wieder findet. Sprache ist daher kein Abbild meiner mentalen Prozesse, sondern ein eigenständiger mentaler Prozess. Und nicht selten durchbricht das Erzählschema die Erwartungen, entkoppelt mit seinen Strukturen die anderen mentalen Prozesse und führt auf neue Spuren. Die Fährtenlese des Homo narrans (des erzählenden Menschen) orientiert sich nicht bedingungslos an der Welt, ist aber umgeben von Welt innerhalb derer die Spuren verfolgt werden. Nur so können Texte noch überraschen und neue Entdeckungen generieren. Die Entdeckungen des Erzählers erscheinen mehr als Aufdrücke denn als Eindrücke angeordnet in kulturelle Kodierungen. Die Dekodierung erfolgt ebenfalls schematisch und bezogen auf Erwartungen. Dabei decken sich die Erwartungen des kodierten Erzählschemas keineswegs automatisch mit den Erwartungen des dekodierenden Rezipienten. Vielmehr erzeugt der dekodierende Rezipient seinerseits durch seine Dekodierung kulturell kodierte Erwartungen. In diesem Sinn ist die Geschichte des Turmbaus zu Babel und die Sprachverwirrung in 72 Sprachen (siehe auch die Japhetitentheorie von Nicolai Marrs) nur ein harmloses Relikt vergangener Zeiten.  Die Sprache selbst ist bereits die Verwirrung. Sprache ist ein mentaler Prozess, der sich nicht  als Abbild der Sinnesdaten, nicht als Abbild der aus der Welt stammenden Informationen versteht, sondern als eigenständiges Schema das sich in der Welt selbst befindet. Die Sprache selbst ist gleichsam der Turm von Babel. Die Steine mit der dieser Turm erbaut wurde und immer noch erbaut wird, diese Steine stammen nicht aus der Welt. Der vorhergehende Satz besteht aus 13 Wörtern. Davon stammen lediglich drei aus der Welt (Steine, Turm, erbaut). Die restlichen zehn Wörter (Turmsteine) sind zwar in der Welt, aber in keiner außersprachlichen Wahrnehmung oder Vorstellung vorzufinden. Dieser Turm aus Sprache hat unsere Welt verändert, schuf Knechtschaft und Herrschaft, schuf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, schuf Wahrheit und Lüge. Diese Art von Sprache die zwar in der Welt ist aber nicht aus der Welt, kontaminierte die Welt selbst.  Der Stein der Weisen, den die Alchemisten suchten, befand sich schon immer in ihrem Besitz: Die Sprache. Der Stein der Weisen ist der Suchstein mit der die Welt selbst zur Spur wurde. Es ist die Sprache. Dieser Stein ist der Nicht-Stein,  das Zeichen. Das Zeichen selbst ist kein Repräsentant von irgendetwas. Das Zeichen repräsentiert sich selbst als in der Welt und nicht aus der Welt. Der Turm lässt sich heute eher als Maschine begreifen, die einen ungeheuren Lärm erzeugt, eine Maschine deren Baggerschaufeln die Welt umgräbt und aus der Welt selbst ein Zeichen machte. Es ist diese Art Weltverlust. Die Welt ist noch da, aber sie ging uns verloren als Zeichen; und wir finden diese Welt nur noch als Zeichen wieder. Alles außerhalb der Zeichen ist nun nicht mehr in der Welt.

Streifschuss vom 11. Juni 22

 

Anlass:  trouble ticket system

 

Gottes Software

 

Gehen wir mal rein hypothetisch davon aus, der Mensch verfüge nicht über einen freien Willen. Äußere Mächte bestimmen dann unser Tun. Der Mensch wäre dadurch gänzlich ausgeliefert und ihm stünde nichts frei. Wie aber ist dann der Akt der Unterwerfung (Luther, Islam) möglich? Calvin hat ganz Recht damit, dass – unter dieser Logik – der Mensch auch kein Mitspracherecht haben kann bei der Zuteilung von Gottes Gnade. Die äußeren Mächte legen dann fest, nur sie allein, ob wir gut oder böse, reich oder arm, glücklich oder unglücklich leben, ob wir unser Leben sinnvoll finden oder nicht und so weiter. Würden wir den freien Willen in einer solchen Logik konsequent verneinen, hätten wir nicht einmal eine rezeptive Option. Wir könnten dann auch nicht entscheiden, ob wir an Gott glauben oder nicht. Wir könnten es aber auch nicht interpretieren, denn  eine Auslegung, eine Deutung unseres Seins wäre bereits ein Willensakt. Die Diskussion verstummt auf diese Weise dennoch nicht. Wir tun, was uns gegeben. Wenn wir etwas hinterfragen, oder interpretieren dann nicht wirklich wir, sondern die äußeren Mächte. An was oder wen wir glauben, ist uns so gesehen, nicht frei gestellt. Überwinden wir unseren Zweifel, dann ist dies nicht unser Überwinden, sondern ausschließlich ein Akt der Gnade. Ohne Willensfreiheit können wir auch nichts wissen. Alles was wir zu wissen glauben, ist uns von den äußeren Mächten gegeben. Das bedeutet nicht, dass dies kein Wissen sei. Es bedeutet nur, dass wir es nicht wissen können, ob es Wissen sei. Ohne einen freien Willen können wir nichts von der Illusion unterscheiden. Wenn wir also eine Erkenntnis haben, ist dies ein Akt der Gnade von dem wir aber nichts wissen können. Wir können nicht einmal sagen, ob es Illusion ist oder nicht. Denken wird völlig überflüssig. Andererseits denken wir. Dies wurde uns gegeben. So ändert sich im Grunde nichts an unserem Leben. Wer sich selbst in der Welt aufgehoben fühlt, wer keine Zweifel hegt an seinen substantiellen Eigenschaften, für den stellt sich die Frage nach seiner Freiheit nicht. Es spielt keine Rolle, ob meine Entscheidungen frei sind oder nicht, solange alles gut ist. Nur: Es ist nicht alles gut. Wenn wir handeln unter dem Bewusstsein unser Handeln sei nicht frei, wenn wir gleichzeitig unsern Herrn nicht kennen können (weil es eine freie Handlung wäre den Herrn zu erkennen), ist gerade ein solches Handeln absolut frei. Es spielt keine Rolle mehr, was ich tue oder lasse, weil alles was ich tue oder lasse durch äußere Mächte bestimmt ist. Wenn ich Abscheu empfinde vor einer schrecklichen Tat, wenn ich davor zurückschrecke, etwas Böses zu tun, dann nur, weil die äußeren Mächte dies so bestimmten. Im Römerbrief erklärt uns Paulus, dass das Gesetz die Sünde erst in die Welt brachte und kein Gesetz kann vor Gott gerecht sein. Nur der Glaube, das Vertrauen in die göttliche Gerechtigkeit sei gerecht. Aber das können wir nicht wissen oder erkennen, ohne einen freien Akt der Zustimmung (oder Ablehnung). Uns leiten zu lassen von einer äußeren Macht gelingt nur, wenn dieser Rest eines freien Willens erhalten bleibt. Doch das wäre ein Widerspruch. Entweder ich habe einen freien Willen oder nicht. Ein freier Wille bedeutet ja nicht, dass ich ihn jederzeit durchsetzen kann. Es bedeutet lediglich Selbstmächtigkeit. Wenn ich aber einer göttlichen Gerechtigkeit durch Vertrauen zustimmen kann, kann ich auch anderen Herren zustimmen. Der freie Wille ist meine Potenz. Ohne freien Willen habe ich keine Potenz. Meine Akte der Verwirklichung sind Akte der äußeren Macht die in mir wirkt. Es gibt hier keine Lösung, da es keine Frage gibt. Die äußeren Mächte die in uns wirken können wir nicht kennen. Wenn wir in der äußeren Natur unseres Daseins eine solche Macht erkennen, dann haben wir auf diese Weise noch lange keinen freien Willen erlangt, weil diese Erkenntnis lediglich ein Akt der äußeren Macht (die wir nicht kennen) ist. Es ist auch keine Täuschung, weil wir nicht über die Fähigkeit verfügen, uns täuschen zu lassen. Gehen wir also von der Hypothese aus, wir hätten keinen freien Willen, dann können wir hiermit diesen Diskurs schließen, indem wir tun als hätten wir einen freien Willen, da es ja keine Rolle spielt und wir nicht wissen können, ob wir überhaupt einen solchen freien Willen haben oder nicht. Was real ist oder nicht, können wir nur normativ bestimmen und dazu benötigen wir schlicht die Potenz unseres freien Willens. Es schließt nicht aus, dass all das auf Sand gebaut ist. Und immer dann, wenn etwas in sich zusammenbricht, wenn Gewissheiten sich auflösen und normative Gültigkeiten ungültig werden (in Kriegszeiten, in Katastrophenzeiten, in privaten Tragödien), immer dann  erleben wir die Wucht dieser Absurdität. Wenn wir uns dagegen mit allem was ist und uns umgibt im Reinen finden, wenn wir uns darin geborgen und aufgehoben fühlen, die bestehenden Normen uns tragen, glauben wir auch, wir selbst würden diese tragen.
Mein Leben dagegen ist viel zu unsicher, um ohne Zweifel sein zu können. Und wenn ich sogar an meinem Zweifel zweifle, meinen eigenen Gedanken und Handlungen (wie unsicher sie auch sein mögen) misstraue und diesem Misstrauen auch misstraue, dann wäre das – in der Sprache der Informatik – ein Bug. Ein Beleg dafür, dass ich tatsächlich nur ein Automat bin, der gerade einen Fehler machte. Verstehen Sie diesen kleinen Text als Bugtracking. Mehr können wir wohl nicht tun.

 

Streifschuss vom 08. Juni 22

 

Anlass: Inspiration

 

Babel und Theópneustos

 

Heute Morgen, als ich langsam erwachte, entstand in mir der Drang, noch einmal genauer über den Turmbau zu Babel nachzudenken, die Stelle in der Bibel nachzulesen. Warum und woher ich diesen Gedanken bekam, weiß ich nicht. Es mag wohl sein, dass es dafür eine natürliche, psychologische Erklärung gibt. Denn ich dachte die Tage zuvor viel darüber nach, ob die Erfindung der Sprache als unabhängiges Zeichensystem uns von der Wirklichkeit zu weit entfernt hat? Laufen wir noch parallel mit unserer planetaren Heimat? Nähern wir uns einem Ziel oder eher dem Ende? Bauen wir gerade diesen Turm? Oder zerstören wir ihn gerade?

Die kurze Erzählung vom Turmbau zu Babel in der Genesis ist sehr berühmt. Doch manchmal vergessen die Kommentatoren zu erwähnen, dass nicht nur dieses Volk aus dem Osten das sich in Schinar (heute im Nordwesten Iraks) ansiedelte um einen hohen Turm zu bauen, eine gemeinsame Sprache sprach, sondern alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Die heilige Sprache, die Sprache Gottes, die adamitische Ursprache. Die Genesis  beginnt bekanntlich mit einem Akt des Sprechens durch Gott. Er sprach: Es werde Licht. Tag und Nacht, Himmel und Erde wurden erst, als Gott sie benannte. Niemand weiß, in welcher Sprache Gott sprach. Vermutlich war diese Sprache reine Energie, die den Urknall erzeugte. Die frühen Völker sprachen diese gemeinsame Sprache noch nach der Sintflut. Denn diese war der Genesis zufolge vor dem Turmbau. Aber schon vor dem Turmbau in Genesis 10 heißt es, dass sich von den Söhnen Noahs die Inselvölker abzweigten, jedes nach seiner Sprache und seinen Sippenverbänden in ihren Völkerschaften (Gen. 10.5). Die adamitische Ursprache steht und fällt mit Noah. Und das hebräische Wort Noah bedeutet Ruhe. Er war der zehnte Urvater nach Adam und wurde von Gott auserwählt die Menschheit zu retten, bevor seine Söhne Sem, Ham und Jafet die Menschheit in seine verschiedenen Völker und Sprachen aufspalteten.
Dass zum Turmbau zu Babel die Menschheit noch die Ursprache Adams sprach, ist verwirrend. Das menschliche Trauma der Sprachverwirrung wird der allgemeinen Lesart nach mit der Hybris verknüpft, sein zu wollen wie Gott.  Adam nannte die Tiere nominibus suis, bei ihren Namen. Man könnte versucht sein, zu glauben, dass Adam die Tiere so nannte, wie sie selbst wirklich heißen. Der Hund musste wohl wau, wau geheißen haben, die Katze miau, die Kuh muh. Diese onomatopoetische Lautmalerei des kindlichen Verstandes, das die Geräusche der Tiere nachmacht und dabei auf sie zeigt, verweist auf den engen Zusammenhang zwischen Sprechen und Sein. In dem Wort Hund ist nicht mehr viel davon übrig. Wenn man es heraus bellt vielleicht. Aber Dog? Chien? Cane? Kalb? Der Leibarzt von Maria von Ungarn, Johannes Goropius Becanus versuchte in seinem Buch Origines Antwerpianae nachzuweisen, dass das Paradies in Brabant lag und der niederländische Dialekt, den man in Antwerpen sprach die Sprache Adams gewesen sei. Diese Kuriosität ging als Goropianismus (von Leibniz erdacht) in die Kulturgeschichte ein. Gerade in der Zeit des Nation Building im 16. und 17. Jahrhundert wurde in Europa viel darüber geschrieben und geforscht, welche Sprache der adamitischen Ursprache am nächsten käme. Mal war sie italienisch, mal spanisch, mal teutonisch, sogar schwedisch. So unsinnig und kurios es klingen mag, der eigenen Sprache den Vorzug vor anderen geben zu wollen indem man nachzuweisen versucht, sie sei der adamitischen Ursprache am nächsten gelegen, so interessant ist es wiederum, dass man die eigene Sprache so nahe am eigenen Sein vermutet. Im eigenen Sprechen ist es aber nicht die spezielle Semantik oder Semiotik auf die es ankommt. Wenn man es umkehrt, wird ein Schuh daraus. Nicht die Sprache trägt das Sein, sondern das Sein trägt die Sprache. Die Unverwechselbarkeit mit der sich ein Individuum (egal in welcher Sprache) auszudrücken weiß, ist die gemeinsame Grundlage allen Sprechens. Nicht was oder wie wir sprechen liegt der adamitischen Ursprache zugrunde, sondern vielmehr dass wir überhaupt sprechen. Goethe dichtete in der Zueignung (Faust) Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich, ein Schauer fasst mich…
Der Dichter (Äolsharfe) ist hier nur ein passives Instrument, das diese unruhigen Schwingungen aufgreift. Die Äolsharfe wird zum Sinnbild der dichterischen Inspiration, dem Afflatus (Cicero in de natura deorum), dem Ilham (im Gegensatz zur Offenbarung wahy / Islam), es ist eine private Zwiesprache mit Gott, präexistentes Wissen (und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten).  Ähnlich wie in der Szene „Finstere Galerie“, wo Faust zu den Müttern steigt (V. 6271 bis 6274) erfasst ihn ein Schauer. Faust wird also von etwas „ergriffen“, etwas schüttelt und rüttelt an ihm. Dieses Erfasst werden gleicht eher dem adamitischen Sprechen. Im kindlichen Wesen zeigt sich dieses gewissermaßen vorsprachliche Begreifen offen. Sprache dagegen, wie wir sie begreifen, erdrückt eher diesen Afflatus durch seine komplexe Ausdifferenzierung.
Angehaucht von dem, was uns umgibt, umschließt und einschließt, beginnen wir zu sprechen. Dazu atmen wir. Unser Sprechen ist bedeutendes Atmen. Es geht mir oft so, dass ich meine Texte bevor ich sie schreibe, flüstere. Gelegentlich komme ich dabei in einen Flow und mein inneres flüstern, leises in mir Atmen läuft parallel mit den Formulierungen auf dem Papier. Es ist daher eine Zwiesprache und die Schrift die ich nutze ist das Medium mit dem ich meine Zwiesprache vermittle. Diese Zwiesprache, dieses in mir Atmen in Worten, bedarf keines Gegenübers. Mein bloßes Sein ist bereits ein Einschluss. Darin bin ich gefangen mit meinem Sein und mein Sprechen ist eine Art Ausbruch, oder bescheidener formuliert, ein Ausbruchsversuch. Dies ist die Grundlage allen Sprechens, aller Sprachen. Durch das Benennen schließen wir aus, was nicht wir sind. Im Deutschen spricht man es aus. Da ich nicht nur bin, sondern umgeben bin ist mein Sprechen immer im Gespräch mit dem was mich umgibt. Je offener ich für die Umgebung bin und in ihr atme, desto sprechender bin ich. Die adamitische Ursprache ist daher nicht mehr aber auch nicht weniger als die Möglichkeit des Sprechens als Tatsache. Dieses schöne deutsche Wort Tatsache vereint die äußere Wirklichkeit mit dem Akt selbst. Nominibus suis meint daher nicht etwa dass die Tiere so sind wie das Wort, sondern durch die Tat des Benennens erhalten sie einen ontologischen Zustand. Das Wort Baum ist natürlich nicht der Baum selbst. Durch die Benennung wird der Baum zur Tatsache als Baum, wie auch immer er sei. Die sprachliche Reproduktion durch die Potenz des Sprechens als Bestimmung von Tatsachen ist der adamitische Urgrund.
Wir sprechen alles aus. Das muss man sehr wörtlich nehmen. Fasse ich Sprache so weit, von ihr als Tatsache zu sprechen, so ist unser Tun immer ein Sprechen. Das ist nicht so weit hergeholt, wie es sich anhört. Vielmehr deuten wir alles, was wir tun, deuten alles, was überhaupt getan wird, was sich so tut. Wir legen alles aus, breiten es aus. Im mitteilen liegt vielmehr das Teilen. In dieser Hinsicht hat unser Sprechen inzwischen eine Potenz erreicht, die in der Geschichte noch nie vorhanden war.
Begreifen wir unser Sprechen als gemeinsame Potenz zur Bestimmung von Tatsachen: Wie nah oder wie fern sind wir gerade in unserer modernen, globalisierten und digitalisierten Welt dem Turmbau zu Babel?  Wie nah oder fern dem gelobten Land Utopia?

 

Streifschuss vom 05. Juni 22

 

Anlass: Gedankenspiele

 

Substanzlose Menschenspiele

 

Wer an einer Gesellschaft, irgendeiner Gesellschaft überhaupt teilnehmen will, der muss sich dort quasi ins Spiel bringen. Dazu akzeptiert man die in der jeweiligen Gesellschaft aufgestellten Regeln. Lateinisch ludere bedeutet etwa tanzen. Illudere bedeutet umspielen, aber auch spotten. Der von Huizinga geprägte Begriff des Homo ludens bedeutet also im weitesten Sinne nicht nur den spielenden, sich frei an Regeln bindenden Menschen zum Zweck kollektiven Lustgewinns. Es bedeutet auch den auf Festlichkeiten und Außergewöhnlichem gerichteten Blick (illucere bedeutet glänzen, und daraus entwickelte sich unser Wort Illusion). So ist der Homo ludens auch der spottende, sich täuschende Mensch. Der spuckende Mensch, der beim Sprechen spuckende Mensch ist der erzählende Mensch in dem genau all diese Attribute sich vereinen. Erzählen erzeugt eine glänzende Illusion. Es ist ein Spiel mit frei gestalteten Regeln, da die Zeichen die man zur Sprache verwendet in freier Entscheidung festgelegt wurden und keinem Realitätsdruck mehr erliegen. Unsere Kulturen sind spielerische Täuschungen in frei erfundenen Regelwerken. Die Parallelität zwischen unseren Zeichen und der Welt ist aufgelöst, unser Verhalten und unsere Affekte sind nicht mehr eindeutig. Keine Erzählung ist unmittelbar, daher auch nicht wahr. Selbst wahrheitsgetreue Nacherzählungen von Ereignissen sind nicht wahr aufgrund ihres Mangels an Unmittelbarkeit (von Raum und Zeit). Man muss sie glauben, um an ihr Vergnügen zu haben. Und in diesem glauben müssen steckt viel  mehr Ernst als Spiel, denn wer die frei erfundenen Regeln nicht glaubt, wird bestraft. In jeder spezifischen Kultur steckt dieses glauben müssen drin. Kultur als im weitesten Sinn frei gewählte Regelhaftigkeit unterscheidet dabei nicht zwischen dem was ist und dem was nicht ist. Der Unterschied zwischen einem echten Donner und einem Trommelwirbel wird verwischt. Heute leben die Menschen in weitestgehend zweideutigen Zeichensystemen ohne unmittelbaren Realitätsdruck. Man wird zwar von der Gesellschaft in der man sich befindet bestraft, wenn man sich nicht an Regeln hält, aber jeder weiß, dass diese Regeln keine Naturgesetze sind, sondern von Menschen erdacht und komponiert. Kultur erzeugt einen künstlichen Zwang dazu, an etwas glauben zu müssen, das weder wahr noch unwahr ist. Es ist nicht wahr, weil Kulturen im ontologischen Sinn nicht substantiell sind. Ihre Gründe sind immer selbstreferenziell. Das Argument Kulturen dienten dem Überleben ist Unfug, sonst hätte ja nie ein Tier überlebt. Gleichzeitig sind Kulturen auch wahr, weil sie über Eigenschaften (Attribute) verfügen. Diese Attribute sind allerdings eine grandiose Selbsttäuschung. Sich an gesellschaftliche Spielregeln halten zu können, bedarf der Fähigkeit zur Unaufrichtigkeit, zumindest zur Mehrdeutigkeit. Tiere können das nicht oder nur sehr geringfügig. Tiere verfügen daher nicht über Kulturen, sondern über ein Repertoire an natürlichem Verhalten. Menschen jedoch verhalten sich in ihrem ganzen Leben meist unaufrichtig und / oder mehrdeutig. Unsere Affekte erleben wir daher als ontologisch indifferente Zustände. Wer sich den Regeln einer Gesellschaft widersetzt empfindet zum Beispiel Zorn über Ungerechtigkeiten. Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit sind Eigenschaften unserer Kulturen. Träger der Eigenschaften ist der sich darüber täuschende Mensch. In der Natur finden wir weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit. Wenn der Trommelschlag die Illusion von Donner erschafft, so erschaffen die kulturellen Eigenschaften die Illusion von Substanz. Lange Zeit haben Mythen und Religionen den Anschein von Substanz vermittelt. Spinoza nannte Gott noch als wesentliche Substanz. Doch Mythen und Religionen sind bereits sich täuschende Erzählungen. Das Problem gottloser Gesellschaften - wie den westlich kapitalistischen Industrienationen – ist nicht ihre Gottlosigkeit (es gibt keinen Gott), sondern der Mangel an einer wesentlichen Substanz überhaupt die ihren Eigenschaften zugrunde liegt. Regeln wirken wie lose Bündel die man zu einem virtuellen Ganzen zusammenfügte und die man jederzeit auch anders anordnen könnte. Daraus erwuchs Geschichte. Die Geschichte ist ein Alptraum aus dem ich zu erwachen hoffe, sagte einst James Joyce. Unser ganzes Leben ist eine Vermittlung. Die menschliche Geschichte ist nichts weiter als eine permanente Unruhe in der wir vergeblich um Stabilität ringen. Jedes Naturereignis alarmiert uns über die Illusion unserer substanzlosen Existenz. Selbst einen Gewitterregen könnten wir daher als einen Appell betrachten, einen direkten Appell daran, dass wir nicht frei sind. Die Freiheit die wir Menschen uns nehmen können ist bestenfalls die Freiheit zur Illusion. Doch diese Spiele der Menschen zeichnen sich wie jedes Spiel durch einen Anfang und ein Ende aus. Nach dem Spiel ist dann immer vor dem Spiel. Um die Illusion von Freiheit aufrecht zu erhalten, müssen wir nicht nur an die frei gewählten Regeln glauben (so als wären sie substantiell), wir müssen sie auch immer wieder erneuern. Dazu bedarf es der Festlichkeit und des Außergewöhnlichen. Da die frei gewählten Regeln keinem Realitätsdruck unterliegen, würden sie beim geringsten Widerstand zusammenbrechen. Wozu sich an solche substanzlosen Regeln überhaupt halten? Um diesen frei gewählten Regeln also eine gewisse Stabilität zu ermöglichen, bedarf jedes gesellschaftliche, kulturelle Regelwerk der Spannung. Nur Konflikte erzeugen Spannung. Menschliche Gesellschaften und Kulturen sind in sich selbst darauf angelegt in Unsicherheiten zu schweben. Konflikte, Kriege, Streit, wie auch immer man es nennen mag sind die substantiellsten Eigenschaften jeder Kultur, jeder Gesellschaft, deren Grundlage das Erzählen seiner eigenen Rechtfertigung ist, um die Spannung aufrecht zu erhalten und damit den Anschein von Substanz. So wird durch Festlichkeit (gerne nach einem gewonnenen Krieg) und Außergewöhnlichkeit (kulturelle Alleinstellungsmerkmale als Kriegsgrund) der gemeinsame Glaube an die erfundene Erzählung gestärkt. Eine globale Gesellschaft in der alle Menschen auf dieser Erde miteinander kooperieren, wäre nur möglich, wenn wir außerirdische Gegner hätten. In gewisser Weise ist der gemeinsame Kampf gegen die Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlage so ein außerirdischer Gegner. Wir sind derart massiv in unseren eigenen Illusionen des Erzählens gefangen, dass wir diesen Mangel an Unmittelbarkeit gar nicht mehr wahrnehmen und nicht mitbekommen, dass wir gerade gegen uns selbst kämpfen. Dabei reicht – wie gesagt – ein Regenschauer, ein echter Donnerhall, eine Blume die wächst ohne gepflanzt worden zu sein, aus, um uns klar vor Augen zu führen, dass wir nur in Unmittelbarkeit existieren. Unsere Kulturen sind durch Vermittlung erzeugte Illusionen von einer Freiheit die wir nicht haben.   
Um den Bogen zum Anfang dieses Textes zu spannen: Wir verspielen unsere Existenz. Wofür das lateinische Wort perdere steht, das auch vernichten bedeutet, zugrunderichten. Die substanzlosen (also grundlosen) Eigenschaften von Kulturen und Gesellschaften führen uns geradewegs in den Abgrund. Ich fürchte – ganz pessimistisch – dies ist der Preis für unsere Menschlichkeit.

 

Paragraphendschungel.mp3
MP3-Audiodatei [1.3 MB]
Objekt und Subjekt Audio.mp3
MP3-Audiodatei [1.5 MB]

Streifschuss vom 16. Mai 22

 

Anlass: Denk bloß nicht drüber nach

 

 

 

Illusion der Alternativen

 

Über das, was die anderen von einem denken sollte man nicht grübeln. Denn man weiß nicht, was sie wirklich denken. Die Köpfe sind mit Haut und Knochen geschützt und die elektrischen Impulse im Innern strahlen nur neutrale Wärme ab.  Natürlich wissen wir andererseits, dass die Gedanken die sich gewisse Personen über uns machen, unser Wohl und Wehe mitentscheiden können. Es ist diese soziale Hintergrundstrahlung, die uns alle in die Infamie treibt. In einer Versuchsanordnung des Psychologen Solomon Asch sollten acht Studenten feststellen, ob mehrere parallele Linien gleich lang sind. Bis auf einen Studenten waren alle eingeweiht, falsche Antworten zu geben. Der andere Student unterwarf sich nun in 75 Prozent der Fälle der Mehrheitsmeinung der anderen sieben Studenten. Angenommen Sie wären hier der nicht eingeweihte Student und alle anderen Studenten würden Ihnen nicht verraten, was sie denken. Diesem sozialen Horror sind wir tagtäglich ausgesetzt. Der evolutionäre Vorteil lügen zu können geht einher mit dem Vorteil unsere Gedanken verbergen zu können.
Beziehungen zwischen Menschen mit all ihren Empfindungen, Bildern, Vorstellungen, Bedürfnissen sind dennoch keine isolierte Veranstaltung. Da wir oft von schlauen und feinfühligen Menschen dazu aufgefordert werden, uns über die Gedanken der anderen über uns, keine Gedanken zu machen, geraten wir in eine paradoxe Situation, die der Biologe Gregory Bateson in seiner Doppelbindungstheorie für schizophrene Symptome verantwortlich machte. Schon als Kind werden wir schnell noch unglücklicher, wenn wir nicht den Erwartungen der Eltern entsprechen, die doch alles dafür getan haben, dass wir glücklich sind. Und wenn uns das Essen nicht schmeckt, wo sich der Koch doch so viel Mühe gab, dass es uns mundet? Wäre es nicht klüger, dem Koch zu verschweigen, wie es wirklich schmeckt? Zumal der Koch auch noch unser Lebenspartner ist, den wir auf keinen Fall kränken wollen?
Wir erleben das in jeder erdenklichen Lebenssituation: Zum Beispiel am Rollband im Discounter vor der Kasse. Hinter uns ein weiterer Kunde, vor uns der abschätzende Blick der Kassiererin. So manches frische Obst oder Gemüse wurde nur gekauft, weil der Kauf von Bier und Zigaretten Schamgefühle auslöst. Wenn dann zwischen den Bierflaschen, der Schokolade und der Billigwurst noch eine Gurke liegt oder ein Salatkolben – denken die Leute hinter einem vielleicht, dass man eine Grillparty veranstaltet und das Bier nicht selber trinkt. So wie man sich anständig kleidet, sich rasiert und parfümiert, so unterliegen wir alle der sozialen Kontrolle, ohne ihr offen ausgesetzt zu sein. Der Rat der schlauen und feinfühligen Menschen, nicht an andere und mehr an sich selbst zu denken gerät ebenfalls in Schieflage, denn das klingt doch sehr narzisstisch. An andere zu denken ist damit eine komplizierte Angelegenheit und Ausweis des eigenen Charakters. Wohlwollend an andere zu denken bedeutet nicht selten, auch wohlwollend von sich zu denken. Wer sich selbst für einen infamen und schlechten Menschen hält, der denkt leichter auch über andere, dass sie infame und schlechte Menschen seien. Wenn wir also nächstes Mal einen unrasierten, nach altem Schweiß und Knoblauch miefenden, griesgrämig dreinblickenden und mit stechendem Blick dreinschauenden Menschen erleben, der vor uns in der Schlange steht und seine Bierflaschen auf das Rollband legt, denken wir nur Bestes von ihm. Nur: Besser riecht der Mensch dann trotzdem nicht. Ein guter Rat wäre es aber auch nicht, zu empfehlen, diese Tatsache diesem Menschen mitzuteilen. Soziale Normen haben auch was Gutes. Sie verschonen uns vor der ungefragten Meinung anderer über uns. Wir tun dann einfach so, als dächten sie so, wie wir. Und irgendwann tun sie es auch so wie wir. Steht uns diese Uniform des Denkens?

 

Denken allein reicht nicht.mp3
MP3-Audiodatei [592.5 KB]

Streifschuss vom 09. Mai 22

 

Anlass:  Heureka! Raus aus der Badewanne

 

Archimedische Verirrungen

 

Unser Gehirn – heißt es öfter – ist süchtig nach schlechten Nachrichten. Die Wissenschaft nennt es die Negativitätsverzerrung und erklärt dies mit dem evolutionären Vorteil eines Gehirns, das auf Gefahren intensiver reagiert. Eine üppige Futterstelle wäre eine gute Nachricht. Aber da steht auch ein Säbelzahntiger. Das ist die eindeutig schlechte Nachricht. Der Primat, der nun der Futterstelle fern bleibt, weil er dem Säbelzahntiger stärkere Bedeutung verleiht, als der üppigen Futterstelle, wird zunächst überleben. Angenommen eine Zeitung veröffentlicht die fette Schlagzeile „Atomkrieg droht“ und eine andere wiederum die Schlagzeile „Vorerst Frieden in Deutschland“, dann wird vermutlich die Zeitung mit dem Atomkrieg das Rennen um die bessere Quote machen. Eine Zeitung, die ausschließlich gute Nachrichten veröffentlicht, hätte keine Überlebenschance. Es gibt keine Säbelzahntiger mehr, dafür viele negative Schlagzeilen zum Ersatz. Die Welt geht bald unter, wir bekommen alle Krebs, verlieren vorher unseren Job während die Lebensmittelpreise durch die Decke gehen und die Russen auf dem Vormarsch sind. Jetzt war ich gerade einkaufen. Es gab eigentlich alles zu kaufen wie immer. Kein Russe weit und breit zu sehen. Die einzigen Panzer ähnlichen Fahrzeuge waren protzige SUV deren Besitzer offensichtlich die Energiekrise vollständig ignorieren. Könnte es sich hier um einem Backfire Effekt handeln? Dass es immer noch alle Lebensmittel gibt, keine russischen Soldaten zu sehen sind und die Energiekrise keine Auswirkung auf den Autoverkehr hat, ist doch geradezu eine Bestätigung dafür, dass die Welt untergeht, bald keine Lebensmittel mehr verfügbar sind und die Russen ganz sicher kommen werden. Die Vielzahl kognitiver Verzerrungen – allein 52 verschiedene Sorten kognitiver Verzerrungen werden auf einem Wikipedia-Artikel gelistet – lässt mich gehörig an meinem eigenen Verstand zweifeln. Dass ich das Gefühl habe, meinen Verstand allmählich zu verlieren ist aber nur eine so genannte Verlustaversion, nämlich die Tendenz Verluste höher zu gewichten, als Gewinne. Auch das ist eine kognitive Verzerrung, eine so genannte Vermessenheitsverzerrung das eigene Können, die eigenen Kompetenzen zu überschätzen. Der Verstand wird also überschätzt, vor allem der eigene. Wenn ich aber wiederum mich selbst für dumm halte, ist das ein gutes Zeichen, denn der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass gerade die inkompetenten Menschen das eigene Können überschätzen und die Fähigkeiten der anderen dann unterschätzen. Wenn ich mich für dumm halte, bin ich klug. Wenn ich mich für klug halte, bin ich also dumm. Es würde mich also nicht wundern, wenn die Russen tatsächlich kommen (falls sie nicht schon längst da sind). Die Welt muss untergehen, sonst wären all diese Verzerrungen doch blanker Bullshit.

 

Streifschuss vom 08. Mai 22

 

Anlass: eine Rose für einen Yet

 

 

 

Sag mir wo die Blumen sind?

 

Was tun Sie? fragte ich. Ich spare Licht, sagte die arme Frau. Sie saß in der dunklen Küche, schon lange. Das war immerhin leichter als Essen zu sparen. Da es nicht für alle reicht, springen die Armen ein. Sie sind für die Herren tätig, auch wenn sie ruhen und verlassen sind.
So formulierte es Ernst Bloch 1930. Also vor bald 100 Jahren. Und so verlangt man es von uns auch heute wieder. Wir sollen die Heizung abdrehen, Energie sparen, während die Superreichen an einem Tag mit ihrer Yacht mehr CO2 ausstoßen als 1.400 Personenhaushalte zusammen. Um ein Gefühl für die Perspektive zu bekommen, muss man einfach anfangen. Der CO2-Ausstoß einer US-Amerikanerin beträgt pro Jahr etwa 15 Tonnen (Daten aus 2018). Der weltweite durchschnittliche Fußabdruck ist kleiner: Er beträgt 5 Tonnen pro Person. Im Gegensatz dazu verursachten die 20 Milliardäre der Stichprobe von Wilk und Barros (die beiden AnthropologInnen veröffentlichten diese Zahlen Anfang 2022) im selben Jahr fast 8.200 Tonnen CO2 pro Person. Nun will ich schon gar nicht mehr wissen, was schwere Waffen (fast eine poetische Alliteration) verbrauchen. Aber nur mal als Anregung, eine F-35 (ein moderner Kampfjet) verbraucht 6 Tonnen CO2 pro Flugstunde, verfliegt also in einer einzigen Stunde den weltweiten jährlichen Durchschnittsverbrauch einer Person. Jeder Klimaschützer der für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ist, verwickelt sich in einen tragischen inneren Konflikt. Die kognitive Dissonanz die Minister Robert Habeck derzeit zu ertragen gezwungen ist, korrespondieren mit meiner 5-Tonnen-Unschuld. Ich habe also leicht reden, wie man so schön sagt. Denn ich brauche nur etwas weniger flatulieren, um zu sparen. Das Problem unterdrückter Darmgase steht in keinem Vergleich zu der Friedensmission einer F-35. Also doch für die Herren tätig bleiben. Yachten, Villen, Privatjets, F-35 und Hurra wir leben noch. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich gehe jetzt Blumen züchten.

 

Und lyrisch geht das so:

 

schwere Waffen raffen
und damit Frieden schaffen
Feuer machen
und kühle Luft entfachen
Brote backen
zum entschlacken
ne Flasche Wein
zum nüchtern sein
in all den Dissonanzen
fröhlich tanzen
ein Schloss aus Luft

in einer Gruft
da zieh ich ein
und stell mir selbst ein Bein
und reime mir ein Schaf
Guten Morgen Doktor Schlaf

 

 

 

niemand anbeten.mp3
MP3-Audiodatei [1.9 MB]

Streifschuss vom 06. Mai 22

Anlass: von der Zerstörung

 

Das Licht der Heiden

 

Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, daß ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, - darum bin ich vor dem HERRN wertgeachtet, und mein Gott ist meine Stärke -, er spricht: Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seist mein Heil bis an die Enden der Erde. (Jesaja ca. 700 v. Chr. Kap. 49,5/6)

 

Am 16. August 70 nach Chr. zerstören die römischen Truppen der fünften Legion des Titus Flavius, Sohn des römischen Gottkaisers Vespasian, die Stadt Jerusalem, beenden den Aufstand der "Rächer Israels" angeführt von Johann von Gischala und Simon Bar Giora. Viele Tausend Juden wurden nieder gemetzelt, ans Kreuz genagelt, als Leibeigene verkauft. Viele Juden wanderten aus, gingen in die Diaspora.

Aber das Schlimmste war: An diesem heißen Sommertag hatten sich einige Hundert "Rächer Israels" mit dem Maccabi-Zeichen im Tempel zu Jerusalem zurück gezogen, in dem Glauben, ihr Tempel werde von Jahve, dem unsichtbaren Gott, geschützt. Doch trotz vieler Bedenken wurde der Tempel von den römischen Soldaten in Brand gesetzt und zerstört. Die Römer machten das Land dem "Erdboden gleich" - solo adaequare, wie es bei Flavius Josephus (jüdisch-römischer Geschichtsschreiber, 30 - 100 n. Chr.) heißt.

Unter den Juden gab es damals schon einen Streit um den kommenden Messias. Die Minäer (später Christen, Christ - der Gesalbte - ist die altgriechische Übersetzung des hebräischen Wortes Messias) glaubten, der Messias sei bereits gekommen, während die konservativen Juden sein Kommen noch erwarteten. Die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem, indem das Allerheiligste, Jahve, verehrt wurde, sahen die Judenchristen als Zeichen dafür, dass Jahve das Gefäß mit Absicht zerbrochen habe, um den Geist Jahve auszuschütten in die Welt. Dies galt den Judenchristen als Symbol dafür, die Lehre des Jahve, des unsichtbaren Gottes, auch den Heiden zu vermitteln. Die konservativen Juden, allen voran Jochanan Ben Sakai jedoch, verengten die Lehre, das Ritual. Nüchtern, geschult am Vernunftbegriff des hellenistischen Geistes (Philo von Alexandrien galt den konservativen Juden als Vorbild), sahen die konservativen Juden in dieser Art Proselytentum eher eine Gefahr für ihren Gott. Die Judenchristen wurden mehr und mehr aus der Gemeinschaft gedrängt. Der Hauptvorwurf der konservativen Juden an die Judenchristen lautete: Leugnung des Prinzips. Jahve war ein "unsichtbarer Gott", körperlos, geistig. Die Anbetung eines Messias, der am Kreuz gestorben ist, verletzte diese Grundregel.

 

Ein Gesetz der Römer, das die Beschneidung von Nichtjuden unter Strafe setzte führte schließlich zur endgültigen Spaltung der Juden und Christen. Die Juden schworen faktisch jedem Proselytentum ab, um der Gerichtsbarkeit der Römer (Judäa stand nun unter römischer Verwaltung) zu entgehen, und die Zerschlagung der Staatreligion zu vermeiden. Die Christen hingegen, allen voran Paulus bzw. Saulus (ein frauen- und körperfeindlicher Hetzer), opferten das Ritual der Beschneidung zugunsten ihres Proselytentums. Beseelt davon, den Geist Jahves in die Welt zu tragen, akzeptierten die Christen Beitritte von Nichtjuden auch ohne Beschneidung. Die Christen wurden zum "Licht der Heiden" (Jesaja). Dies jedoch führte zum definitiven Bann durch die konservativen Juden.

Die Wurzel des Christentums liegt also in zwei römischen Taten:

Die Vernichtung des Tempels zu Jerusalem, dem religiösem Zentrum der Juden, und das Verbot der Beschneidung von Nichtjuden.

Die Vernichtung des Tempels zwang die Judenheit, ihren Gott Jahve im Wort zu verehren, da sie ihres Staates Judäa und ihres heiligen Tempels verlustig gingen. Das Verbot der Beschneidung von Nichtjuden zwang die Judenheit, sich auf sich und ihre Nation im Geiste des Wortes zurück zu ziehen. Die erstaunliche Kraft des Wortes hielt auch die Juden in der Diaspora eng beisammen. Trotz des Verlustes eines Wallfahrtsorts, dem Tempel zu Jerusalem (viele Diasporajuden reisten, ähnlich wie heute Moslems nach Mekka, nach Jerusalem, um dem Allerheiligsten zu huldigen), bildeten die Juden eine auf der ganzen Welt verstreute Einheit. Das Ritual, das Wort, präsentiert von einer kleinen Provinzuniversität und deren Doktoren (Universität Jabne, Vorsitz Jochanan Ben Sakai), galt den Juden auf der ganzen Welt als verbindlich.

Die Christen hingegen übten sich im Proselytentum, hatten viele Wanderprediger, wurden verfolgt und geächtet, setzten sich langfristig jedoch durch. Langfristig assimilierte das Christentum auch die römischen Götter. Gegen den unsichtbaren Jahve, setzte sich der deutlich sichtbare Jesus von Nazareth durch. Das "Licht der Heiden" ist durch den Menschensohn sichtbar geworden, leichter fassbar, als der unsichtbare Gott mit schwer verständlichen Ritualen und Regeln. Die Idee der Christen war Vergebung und Passivität. Eine aggressive Passivität, eine aggressive Art der Vergebung, wie sich bald zeigen sollte. Die Lehre der Transsubstantiation (abgeleitet vom aristotelischen Substanzbegriff der Seiendheit), der Realpräsenz Jesu Christi (der Leib Christi, das Blut Christi), wurde erst spät im Lateralkonzil 1215 als Dogma der katholischen Kirche formuliert (im Konzil von Trient im 16. Jahrhundert bestätigt). Es erscheint aber aus den Wurzeln des Christentums folgerichtig, dass der sichtbare Gott dem unsichtbaren gegenüber gestellt wurde.

Ein ausgemergelter, historisch sehr fragwürdiger Provinzjude, von den Römern wie viele andere Juden ans Kreuz genagelt, wurde zum sichtbaren Gott der stärksten Religion der Welt. Und dies wurde er, weil die Römer einen absurden Aufstand niederschlugen (der nie Aussicht auf Erfolg hatte), einen Tempel nieder brannten und ein durchaus sinnvolles Gesetz gegen körperliche Verstümmelung einführten (entfernen der Vorhaut führt zu Austrocknung der Eichel und Abschwächung sexueller Gefühle). Auf dieser Basis fußt die Macht des jeweiligen Papstes. Unter diesem Kreuz, das die Römer schon damals als etwas Barbarisches erkannten, litten und starben  unzählige Menschen, wurde über Jahrhunderte sinnvoller Fortschritt boykottiert, wurden Kriege angezettelt, und ein wohlfeiler Antisemitismus gepflegt.

Ein unsichtbarer Gott, der sich durch das Wort offenbart, mag vor 2000 Jahren unverständlich gewesen sein. Heute ist dies im Grunde der einzige Gott, den man sich vorstellen und wünschen kann. Aber ein halbnackter Gott, der jämmerlich an einem Holzkreuz hängt, und der angeblich zu Lebzeiten skurrile Wundertaten vollbracht haben soll, ohne normalen Geschlechtsverkehr gezeugt worden sein will, solch einen abergläubischen Gott noch im 21. Jahrhundert zu verehren, scheint mir eine pathologische Verirrung des Geistes zu sein. Da ist ja der Mohammed der Moslems noch verständlicher, der immerhin historisch belegt ist, und der lediglich das Wort Gottes vernahm, wie eben jeder stinknormale Prophet. Der christliche Westen erhebt sich über den Islam? Ausgerechnet diese abergläubischen Christen, die jeden Sonntag in der Kirche einen obskuren Kannibalismus betreiben (der Leib Christi, das Blut Christi), erheben ihre Kultur zur Hegemonialkultur? Abgesehen von den modernen Erkenntnissen der Wissenschaft, also abgesehen von Einstein, Heisenberg, Darwin, Sigmund Freud, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, und vielen anderen, abgesehen von all diesen offensichtlichen Erkenntnissen, waren die Urväter der Juden, waren die Abrahams, Moses und Davids schon abgeklärt genug, in Gott ein Prinzip zu sehen. Das Christentum war ein erkenntnistheoretischer und kultureller Rückschritt.

Die Konsekration (Wandlung) von Brot und Wein in Leib und Blut, ist eine Art materialistische Erneuerung der Pneumalehre aus der Antike, wie sie in der Genesis durch die Anhauchung Adams (adama, der aus Lehm gemachte) durch den einen Gott geschildert wird. Diese Erneuerung des Bündnisses des Menschen mit Gott nach dem Sündenfall Adams, durch Jesus Christus, konnte Kraft haben in einer Zeit, als die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem das Bündnis von Gott und Mensch bedrohte. Aber heute? Die heutige Kraft des Christentums ist eine sehr weltliche Kraft, sie ist die Kraft des Kapitals, der Hegemonie, die Kraft der Rute. Jetzt, im 21. Jahrhundert ist sie die Kraft der Gewohnheit, der Trägheit der Masse. Die Kraft des Islam zehrt aus einer anderen Quelle. Denn für den Moslem steht Gott, nicht Mohammed im Zentrum des Glaubens. Jeder Moslem weiß, dass Mohammed (der Vielgelobte) ein Prophet war, der das Wort Gottes durch den Erzengel Gabriel zugeflüstert bekam. Sie mögen ihren Propheten, und verteidigen sein Andenken (zugegeben: auf sehr unangenehme Art). Aber sie sind nicht so verblendet wie der Christ, der seinen Propheten zum Gott machte und damit zum "Licht der Heiden".

 

Wir aus dem aufgeklärten Westen mit unserer hegemonialen Kultur sind gut beraten, wenn wir die derzeitige Krise im Umgang mit dem Islam nicht dem abergläubischen Christentum überlassen, sondern dem aufgeklärten Geist. Wir sollten den Moslems nicht mit unserem ausgehungerten Galiläer am Kreuz kommen, sondern mit Einstein, Heisenberg, Darwin, Freud, Marx, Feuerbach, Nietzsche und so weiter. Es mag schwer sein, sich dem Wiederaufflammen religiöser Gefühle entgegen zu stemmen. Aber unser kultureller Hegemonialanspruch sollte nicht durch einen Aberglauben, den Glauben an den Menschensohn, verteidigt werden. Es mag weiter schwer sein, den offenen, oft skeptizistischen Diskurs der Wissenschaft durchzuhalten. Die Wissenschaft bietet kein eigenständiges metaphysisches Konzept wie die Religion. Der Satz "und sie bewegt sich doch" mag heute noch, oder wieder schwer fallen.

 

 

Die Wirtschaftsfunktion Audio.mp3
MP3-Audiodatei [1.2 MB]

Streifschuss vom 29. April 22

 

Anlass: aus meinen Pensees

 

Unsere Motive

 

Ein Ziel zu haben, auf das hin ich mich motiviere, bedeutet immer Wert. Die reine Essensaufnahme bedeutet nichts. Hunger macht Nahrung zu einem „überwertigen“ Ereignis. Moderne westlich-kapitalistisch geprägte Gesellschaften zeichnen sich durch die Abwesenheit von Hunger aus. Damit ist nicht das Glucoseniveau gemeint, welches über Rezeptoren von Leber und Magen an den Hypothalamus gesendet wird und unsere Nahrungsaufnahme bestimmt. Mit Hunger meine ich an dieser Stelle das Empfinden von echter Bedrohung. Hier wird aus dem sinkenden Glucoseniveau eine Gefahr, die den Menschen dazu zwingt etwas zu tun, um an Nahrung zu kommen. Dieser Zwang ist in modernen westlich-kapitalistischen Gesellschaften marginalisiert. Das klingt zunächst gut. Aber wir schufen für diese fehlende intrinsische Motivation einen Ersatz. Wir nennen diesen Ersatz nun „Leistung“. Leistung wird durch externe Strokes motiviert, weil es für Leistung keinen intrinsischen Antrieb gibt. Externe Strokes sind entweder Anerkennung oder Druck. So wird der Wert externalisiert. Wir beginnen zu „streben“.  Im Laufe der Zeit wird in einer leistungsorientierten Gesellschaft der Wert wieder internalisiert. Wir übernehmen diese Werte. Unsere Ziele haben sich scheinbar verändert. Nun ist Anerkennung oder Druck zum „überwertigen“ Ereignis geworden, als Ersatz für den Hunger. Status und Respekt sind unsere Ziele, bzw. die Anerkennung von Status und Respekt. Wir fordern für unseren Status immer wieder Anerkennung. Bleibt diese Anerkennung aus, fühlen wir Druck oder üben Druck aus. Leistung ist - wie schon gesagt - Energie durch Zeit, bzw. der Quotient aus verrichteter Arbeit (Kraft mal Weg) und dafür aufgewandter Energie. Belohnen wir also Leistung durch Status, schaffen wir einen verfälschten Wert, denn die notwendige Energie wird immer noch durch Nahrung bereitgestellt. Der internalisierte Wert ist nicht intrinsisch. Es gibt in unserem Körper kein Leistungsorgan, das mithilfe von Rezeptoren eine Leistungsschwankung misst und die Daten an das Gehirn sendet. Anders als beim Hunger. Das Projekt der Neuzeit und die Internalisierung von Gott in Form von Selbstverwirklichung ist das größte Täuschungsprojekt der Menschheitsgeschichte. Das größte Problem der Neuzeit ist daher das Leib-Seele-Problem. Wie können unsere Werte, unsere Motive, unsere Wünsche in eine Äquivalenz mit unserem Leib gebracht werden? Denn es ist so, dass jede Form von Leistung von unserem Körper abhängt, also rein somatisch ist. Hier setzte der Faschismus an, indem er seinen Körperkult aktivierte und seinen Mob auf den – seiner Meinung nach – körperlichen Kretin hetzte.

Erhellend wirkt ein Blick auf die Methode der Maschine. Mittel der Wahl sind „Strokes“. Das englische Wort „to stroke“ ist daher so hilfreich, weil es ein Homonym ist und im Deutschen zwei Bedeutungen hat: streicheln und schlagen. Eine autoritäre Gesellschaft schlägt. Sie übt Druck aus. Doch sobald der Druck nachlässt, sinkt die Motivation. Druck muss also ständig aufrecht erhalten werden. Das ist auf Dauer nicht ohne erheblichen Aufwand durch polizeiliche Maßnahmen zu schaffen. Druck kann nur durch den Appell an somatischen, körperlichen Motiven aufrecht erhalten werden: Nahrungsmittelentzug, Schlafentzug, sexuelle Repression.  Anerkennung und streicheln, Lob und Vergütung etc., sind weniger aufwendig. Denn jetzt internalisieren wir die Zärtlichkeit der Maschine als einen Wert, den wir anstreben. Der Appell ist also weniger somatisch, mehr affektiv. Unser Konsum ist emotional, affektiv. Je mehr wir also konsumieren (verbrauchen) desto höher ist auch unser Status.

Auf diese Weise entwickelten wir unseren biopolitischen Charakter, von dem Michel Foucault in seinem Werk sprach. So entstand der soziale Druck. Der Druck bleibt also. Er ist jetzt nur auf einem höheren Niveau. Was uns also schlägt, foltert, ist nicht mehr körperlich spürbar, nicht einmal konkret nachweisbar, weil es eben ein internalisierter Druck ist und kein intrinsischer Druck. Die Selbstverwirklichung ist ein absurdes Motiv. Es ist nicht messbar. Im Grunde kann doch jeder zu jeder Zeit behaupten, er habe sich selbst verwirklicht. Das ist natürlich nicht so. Und daran erkennt man, dass Selbstverwirklichung eine Täuschung ist. Denn diese findet nur im Außen statt – durch Konsum. Unser Konsum basiert auf sozialen Werten. Doch das Soziale übt sofort Druck aus, wenn jemand sein Selbstverwirklichungsstreben einstellt. Wer die Täuschung erkannt hat, der spürt den Druck, die Kontrolle, die Schläge, die wie ein Streicheln daher kommen. Es geht also nur um Status und Respekt. Status führt dazu, dass ich ein höheres Durchsetzungsvermögen habe. Status dient also nur zur Erhaltung meiner intrinsischen Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf und Sex.

Reißen wir der Gesellschaft also die soziale Maske vom Gesicht. Sie hat sich nicht weiter entwickelt, sondern nur von sich selbst entfernt. Unsere intrinsischen Bedürfnisse sind marginalisiert und in virtuellen Werten neu formiert. Hinter unserem Verhalten steht weiterhin die blanke Zahnreihe des um Brot und Weib kämpfenden Affen.

 

 

Streifschuss vom 07. April 22

 

Anlass: Quadratur des Bösen

 

Eusebés

 

Es gibt gebildete Menschen. Und es gibt ungebildete Menschen. Wie das Wort schon intendiert, kann man Menschen ausbilden, indem man abbildet was ist oder sein sollte. Dass sich so mancher gebildete Mensch auch vieles einbildet, sei einmal dahingestellt.
Dann gibt es kluge Menschen und dumme Menschen. Die Klugheit muss man dabei streng von der Weisheit abgrenzen. Denn kluge Menschen neigen dazu, sich schlau und gerissen in einzelnen Situationen zu verhalten, oft mit Tücke und sogar Heimtücke. Daher ist die Klugheit an den Charakter gebunden. Wir können nicht darüber bestimmen, wo und wie wir aufwachsen, uns nicht aussuchen was uns prägt. Daher lässt sich Klugheit nicht einfach ausbilden. Kluge Menschen benötigen ein spezielles und durchaus kompliziertes gesellschaftliches Biotop um wachsen zu können. Und selbst das beste und ausgeklügelste Gesellschaftssystem gibt keine Garantie ab, für dauerhafte Klugheit.
So gibt es durchaus sehr gebildete aber ausnehmend dumme Menschen. Sie stolpern mit ihrem großen Wissen und mit Weisheiten vollgestopft bis an den Rand durch dieses Leben. Wie Don Quixote, der sich an Ritterromanen überlas, oder Hortensius (eine Figur aus Francion von Charles Sorel), oder der ebenso berühmte wie tragische Jupiter Teutsch (aus Grimmelshausens Simplicissimus), der sich an deutschen Heldengeschichten überlesen hat. Diese drei komischen Figuren sind die Prototypen mangelnder Lebensklugheit bei allzu großer Bildung. Sie sind gut, zu gut für diese Welt.
Dagegen die gebildeten Klugen. Die gerissen und schlau ihr Allgemeinwissen benutzen, um voran zu kommen, gezielt und effektiv dient ihre Bildung dem Erreichen eines konkreten Ziels.
Die ungebildeten Dummen gibt es auch. Sie sind jedoch in unserer so bildungseifrigen Gesellschaft rarer geworden. Selbst den Dümmsten unter uns bringt man noch etwas bei. Dabei bilden die gebildeten Klugen die Dummen aus, und ein Schelm der Böses dabei denkt. Und sollten die gebildeten Dummen die Dummen ausbilden? Nun, da sieht jeder gleich den Pferdefuß.
Wie aber stellen wir uns die ungebildeten Klugen vor? Denn sie werden nicht weniger. Schlau, heimtückisch und gerissen entziehen sie sich den Versuchen ihnen etwas beizubringen. Dank ihrer Klugheit können sie der Bildung ein Schnippchen schlagen und schlagen sich durch die Welt mit Bravour. Nicht selten findet man gerade unter den ungebildeten Klugen die reichsten Menschen. Bildung hat nämlich den Nachteil, die eigene Bösartigkeit zu bremsen durch Reflexion und Erkenntnis. Mit solchen Hemmnissen muss sich der ungebildete Kluge nicht herumärgern. Er (oder sie) kann nach Herzenslust seiner Klugheit frönen. Über die Dummen lachen sie allemal. Während die gebildeten Dummen gerade an den ungebildeten Klugen im Herzen verzweifeln und allmählich verdüstern, kooperieren die gebildeten Klugen mit den ungebildeten Klugen. Der gebildete Dumme hat leider im ungebildeten Dummen keinen Verbündeten.

Mit der Zeit – und das möge als Resümee dieser Quadratur dienen – bildet der gebildete Dumme eine ganz spezielle Klugheit aus. Als gebildeter Dummer lernt man von den ungebildeten Klugen vor allem etwas über die Schlechtigkeit des Menschen an sich. Das ist aber leider ein Fehlurteil und belegt die Dummheit des gebildeten Dummen, der eben immer nur sich bildet, ohne klug zu werden.
Es ist fatal und traurig und hier – darauf verweist der Titel dieses streifenden Schusses – trotzdem fromm zu bleiben ist für die Dummen so schwer als für die Klugen, gleich ob sie gebildet oder ungebildet sind. Verständig, gerecht, fromm und tapfer sind eo ipso die Wenigsten, das dürfte nach diesen Ausführungen keinen mehr sonderlich wundern.

 

Streifschuss vom 30. März 22

Anlass: Eine weitere Desillusionierung

 

Medium ist nur eine Konfektionsgröße

 

 Vor ein paar Tagen sah ich mir auf einem weltweit bekannten Videoportal ein Video an, in dem mir spieltheoretische Zusammenhänge erklärt wurden. Der Anlass des Professors, der auf diesem Video die Spieltheorie erklärte war, dass der Fernsehphilosoph Richard David Precht wohl empfiehlt, dass die Ukraine aufgeben solle, weil sie den Krieg eh nicht gewinnen könne. Für diese Ansicht erntete der Fernsehphilosoph einen so genannten Shitstorm. Der Professor in dem Video erklärte nun, warum Precht spieltheoretisch doch im Recht sei, und dass diese von ihm hier gezeigten Analysen sicher auch auf Putins Schreibtisch gelegen hätten (Zitat: „Da bin ich mir sicher“ Zitatende). Der Professor zeigte dann nach einigen komplizierten spieltheoretischen Erläuterungen eine spannende Tabelle in dem er das Verhalten der Menschen einerseits zum Ukrainekrieg und andererseits zu den Corona-Maßnahmen verglich.
– Nun, kleine Digression: Hätte mir da schon was auffallen müssen bei diesem sonderbaren Vergleich? War es Rhetorik, Masche oder handelte es sich tatsächlich um Wissenschaft? Digression Ende.

 Sieht man sich diese Tabelle nun an, die uns der Professor in dem Video zeigt,  in der das Verhalten der Menschen zum Ukraine-Krieg und zu Corona verglichen wird, ist es schon erstaunlich zu sehen, dass sich im Grunde nur zwei von den vier Gruppen konsistent verhalten, und die sind deutlich in der Minderzahl.
Die erste Gruppe lehnt den Krieg ab, denn es gilt, Menschenleben zu schützen, aber die Corona-Maßnahmen lehnen sie ab, weil es die Freiheit zu schützen gilt.
Die vierte Gruppe befürwortet den Krieg, denn es gilt die Freiheit zu schützen, befürwortet aber auch Corona-Maßnahmen um Menschenleben zu schützen. Zusammen sind das immerhin 56 Prozent der Menschen, die sich nicht konsistent verhalten.
Die zweite Gruppe lehnt den Krieg ab und befürwortet die Corona-Maßnahmen, denn es gilt Menschenleben zu schützen und die dritte Gruppe befürwortet den Krieg und lehnt Corona-Maßnahmen ab, denn es gilt die Freiheit zu schützen. Das sind die Menschen, die sich konsistent verhalten. Sie machen dann 44 Prozent aus zusammen. Die konsistente Freiheitsgruppe ist mit 39 Prozent die größte Partei. Damit ist klar, die Menschen stellen eher die Freiheit vor Menschenleben.
Interessant ist, dass die zweite Gruppe, die Menschenleben zu schützen präferiert mit gerade 5 Prozent die kleinste Gruppe darstellt.
Lieber tot als unfrei! Das gilt für immerhin 39 Prozent der Menschen (die in der Tabelle des Professors auftauchen).
Lieber unfrei als tot, nun das wollen nur 5 Prozent der Menschen (in des Professors Tabelle).
Soweit so fragwürdig. Tabellen, verwirrende Zahlenspiele, treuherziger Professorenblick. Ich war durchaus überzeugt und übernahm unkritisch das Video – soweit ich es überhaupt verstanden hatte – auf in mein intellektuelles Habitat. Oh Sancta Simplicia! Natürlich war das eine geschickte Manipulation des langhaarigen Professors.
Dann trat ich in Kontakt mit richtigen Menschen, wendete meine neue intellektuelle Erwerbung an, testete sie aus. Ich mache das öfter instinktiv und fahre damit sehr gut, vor allem dann, wenn ich auf andere höre und nicht nur mir selbst glaube oder gut gemachten Videos. Wenn ich meine natürliche Neigung von mir selbst überzeugt zu sein kritisch sehe, weil vieles gar nicht von mir ist, lerne ich. Eine Dame in meinem Kurs fragte nun skeptisch nach, wo ich meine Informationen her hätte und woher die durchaus beeindruckenden Zahlen (vor allem die lächerlichen 5 Prozent) stammten. Da schlug mein intellektuelles Habitat Wellen und ich recherchierte nach, um die Wellen zu beruhigen. Man will ja keinen intellektuellen Tsunami bei sich erleben.
Nun: Professor Christian Rieck (der Mann der Zahlen aus dem Video) ist tatsächlich Wissenschaftler für Wirtschaft. Er hat 200.000 Follower die seinem Youtube-Kanal folgen. 200.000! Viel. Das alles ist doch ein Beleg für die Seriosität des Mannes. Allerdings muss ich jetzt zumindest einräumen, dass er längere Zeit für Tichys Einblick arbeitete, und diese Meinungsplattform steht zumindest in dem sehr dringenden Ruf, eine neurechte Plattform zu sein. Das Video selbst erschien mir einleuchtend, aber die reinen Zahlen (die – nur -  5 Prozent, die für Menschenleben sind) sind nicht eruierbar.
Jetzt hatte ich ein Problem. Hier taucht ein quasi seriöses Video auf, gut gemacht, von einem nachgewiesenen Wissenschaftler, der –zugegeben – mal für eine unseriöse Meinungsplattform tätig war. Aber macht nicht jeder irgendwann einmal in seinem Leben einen Fehler?
Gott! Man muss höllisch aufpassen in unserem Land, wo man seine Ansichten herbekommt. Das wird immer schlimmer und bei jedem Beitrag den man sich ansieht muss man erst eine Hintergrundrecherche durchführen. Das ist keine gute Sache. Zumal die öffentlich-rechtlichen Medien am Ende der Recherche immer die Hauptinformationen der Recherche abgeben. Da kommt man in eine Informationsschleife hinein, die gruselig ist. Außer man glaubt treuherzig alles, was ARD, ZDF und ihre Kinder Arte, 3Sat so bringen. Kann man machen. Kein Ding. Aber warum regen wir uns dann über die Russen auf, die sich am russischen Staatsfernsehen orientieren? Das wäre keine vernünftige Argumentation.
Man wird am Ende zum radikalen erkenntnistheoretischen Idealisten. Aber das ist noch gefährlicher für den menschlichen Geist und seine zarten Glieder, als wenn man einfach nur ein dumpfer Tropf bleibt.

 

Streifschuss vom 20. März 22

 

Anlass: Wer hat es getan?

 

Abenteuer Leben

 

Ich hatte gerade einer älteren Dame den Vortritt gelassen. Sie lächelte mich dankend an und wandte plötzlich ihr Gesicht ab. Sie riss ihr Gesicht geradezu von mir weg. Sie hatte vergessen ihre Maske aufzusetzen. Ein Kalauer ging mir durch den Kopf. Früher wäre es nicht ganz unproblematisch gewesen, wenn man in einem Discounter eine Maske aufsetzt. Nun ging die Dame leicht gebückt mit ihrer aufgesetzten Maske im Gesicht und schwankend vor mir her. Sie erinnerte mich an den Kohlenklau. Ich folgte ihr in kleinen Schritten den Weg zwischen Gemüse- und Käsetheke entlang, als mich unerwartet mit großer Wucht ein Schlag traf. Ich geriet kurz aus dem Gleichgewicht und Kohlenklau war verschwunden.
„Vorsicht junger Mann, Augen auf“, rief ich in ungewohnter Schlagfertigkeit, denn gewöhnlich reagiere ich auf solche Ereignisse erst einen Tag später mit einem Anstieg meines Blutdrucks – eine Gemütsträgheit der ich vermutlich mein Leben verdanke. Der  tatsächlich junge Mann -das konnte ich aber in der Schnelligkeit nicht wissen, das war also eine rhetorische Wendung, eine Art Diminutiv um den Gegner zu beschämen – also der rempelnde junge Mann drehte sich nun halb um zu mir und polterte: „Mach doch selber deine Augen auf!“
„Ich habe hinten keine Augen“, antwortete ich. Wow, ich war weiter schlagfertiger als gewohnt. Ja ich weiß. Hinten keine Augen haha. Eine ziemlich ausgelutschte Metapher. Aber für jemanden der in solchen Situationen sonst nie etwas sagt- immerhin.
„Sie sind seitlich gegangen“, schrie mich der Mann diesmal siezend an.  
Jetzt musste ich lachen, herzhaft. „ Seitlich gegangen“, wiederholte ich kopfschüttelnd, „Sie sind um keine Ausrede verlegen oder? Sie Trottel.“ Trottel sprach ich aber schon zum Käse, der keine Antwort gab.
Der junge, rempelnde und um Ausreden nicht verlegene Mann hatte längst das Streitgespräch verlassen und war Richtung Fleischtheke abgebogen, im Getümmel des Discounters verschwunden.  Ich würde diesen Rüpel weder im Discounter noch auf der Straße wieder erkennen. Auch, wenn er keine Maske getragen hätte (dieser Satz wäre vor zweieinhalb Jahren noch völlig unverständlich gewesen). Ich erinnere an einen alten Stoiker, der über seinem blau geschlagenen Auge ein Schild mit den Worten „nemo fecit“ hängen hatte. Und für gewöhnlich sehe ich solche Ereignisse ähnlich. Diesmal reagierte ich nur deshalb, weil die Absicht mich zu rempeln so offensichtlich war, dass ich mich dadurch sogar eher geschmeichelt fühlen konnte. Denn meist wird man einfach übersehen. Und absichtslos gerempelt zu werden, das empfinde ich als tiefe Erniedrigung. Also ich kam mir schon immer recht überflüssig vor und hatte oft das Gefühl im Weg zu stehen. Nicht selten war ich an meinem Arbeitsplatz schon einer zu viel und es war keine Arbeit übrig, die ich auch hätte tun können. So empfand ich das was ich tue als unnötig, da die anderen es schon taten und ich es nur wiederholte. Da fragte ich mich schon, was das soll und wozu ich das jetzt mache. Tatsächlich demotivierte mich das soweit, dass ich es sein ließ. Im Grunde sage ich das auch vom Leben selbst. Es haben schon so viele gelebt und mein Leben ist einfach eine weitere Wiederholung eines fürchterlich banalen Einerleis. Wozu? Das ist nicht das gleiche wie die berühmte Sinnfrage. Es ist eher die wenig bekannte Sinnlosfrage. Und daher fand ich den Rempler dieses jungen Mannes amüsant. Und nicht darauf zu reagieren, wäre eine Unterlassungssünde gewesen. Ich schuldete dem Eifer des Remplers einfach eine anständige Reaktion. Nemo fecit? Nein. Denn dulden ist nicht nur grammatisch ein schwaches Verb. Es hat eine Nähe zum büßen, und was bitteschön sollte ich büßen? Die Grausamkeiten des Daseins habe ich nicht zu verantworten. Dass der Tod in diesem Leben eine Gnade ist, habe ich nicht zu verantworten. Insofern danke ich dem jungen Rüpel für seinen Hinweis: podex fecit.

 

Streifschuss vom 19. März 22

 

Anlass:
lernen hat etwas Heimtückisches

 

Nicht alle Menschen sind schlecht

 

Neulich in einem Kurs fragte ich die Teilnehmer, ob sie den Unterschied zwischen einem Adverb und einem Adjektiv kennen würden. Schweigen. Ein Adjektiv, hakte ich  nach, kennt ihr schon? Ein paar nickten zaghaft. Wozu dient es, fragte ich? Eine ältere Dame zögerlich: zum beschreiben. Und was beschreibt es? Wie etwas ist.
Gut soweit. Vermutlich würden Sie auch erst einmal abwarten, wenn man Sie auf offener Straße nach der Bedeutung irgendeines Fremdworts fragen würde. Das sei zunächst eingeräumt.
Danach machten die Teilnehmer ihre Schreibübung. Einer las seinen Text dann vor und ich stellte das Wort „manche“ fest. Und sofort- ohne zu zögern – meldete sich eine ältere Dame und merkte ironisch lächelnd an, dies sei aber kein Adverb. Sie wüsste das, denn sie sei Deutsch-Lehrerin.
Das saß! Ja ich schämte mich, dass ich das Wort „manche“ im Eifer des Gefechts für ein Adverb gehalten hatte, wo es doch ein Pronomen ist. Erst am nächsten Morgen, um sechs Uhr früh, als die Wirkung des Schmerzmittels gegen meine Zahnschmerzen nachließ, lag ich grübelnd mit pochendem Molar im Bett: Diese Heimtücke! So schoß es mir gemeinsam mit dem Nervenschmerz durchs Gehirn. Zuvor schwieg sie, verbarg sich, gab sich nicht zu erkennen, stellte sich dumm. Sie hätte sich schon auf meine erste Frage nach dem Unterschied von Adverb und Adjektiv melden können, ja müssen. Aber nein. Sie wartete – vermutlich mit Genuss – auf meinen ersten Fehler, um dann ihren Trumpf auszuspielen. Heimtücke, Tücke, List, Hinterhalt, Täuschung. Jemanden klammheimlich ins Messer laufen lassen. Diese Bösartigkeit, die sich der Arglosigkeit seiner Opfer bedient, das ist es, was mich schon lange an den Menschen stört. Und leider sind die meisten Menschen heimtückisch und hinterhältig. Sie lernten es in langer Tradition der Unterdrückung, nicht mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht neigen Frauen eher zur Heimtücke, weil sie von Männern jahrhundertelang gedemütigt und unterdrückt wurden und immer noch der Willkür männlicher Gewalt ausgesetzt sind. Aber nicht nur Frauen, auch viele Männer erlebten und erleben Übergriffe auf ihren Körper und ihre Psyche gegen ihren Willen und lernten so Bösartigkeit von der Pieke auf. Wer aber nicht offen seine Macht zeigen darf, der zeigt sie heimlich, durch Täuschung und durch Hinterhältigkeit. Es ist gerade aktuell ein interessanter Fakt, denn das ist die Handlungsweise des derzeitigen russischen Machthabers Putin, der sein über 30 Jahre klein gehaltenes Russland nun endlich groß zeigen will, aber es geht nur bösartig durch Lügen, Täuschen und hinterhältigen Überfall. Im deutschen Strafrecht gibt es den heimtückischen Mord. Der Täter nutzt sein Wissen über die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers aus. Wenn Bösartigkeit ein erlerntes Verhalten ist – und das behaupte ich ja hier – stellt sich die Frage, ob Bösartigkeit gerade bei bildungseifrigen Menschen besonders häufig vorkommt. Ich muss diese Frage leider mit ja beantworten. Gebildete Menschen sind häufig besonders bösartig und haben es gelernt zu täuschen, zu hintergehen und die Arg- und Wehrlosigkeit ihrer Opfer für ihre Zwecke zu nutzen. Vermutlich gibt es auch hier eine lange Tradition der Wissensfeindlichkeit, die den Wissenden zur Täuschung, zur Heimtücke nötigte. Nicht alle Menschen sind schlecht. Dies zu behaupten wäre im besten Falle kindisch. Es gibt durchaus gute Menschen. Aber sie sind deutlich in der Minderzahl. Daher kann man mit Machiavelli sagen:
ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muss zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Dieser Satz von  Niccolò di Bernardo dei Machiavelli ist geradezu die Quintessenz erlernter Bösartigkeit und beweist meine Vermutung, dass man das, was man einmal lernte nur schwer wieder vergessen kann. Und es belegt auch meine wachsende Abneigung gegen das Wort Bildung. Gerade die schlimmsten Mörder waren sehr gescheit.

Streifschuss vom 16. März 22

 

Anlass: Wahrheit und Krieg

 

Es ist kein Krieg sprach die Lüge

 

Eine Freundin schrieb mir, die Wahrheit sei das erste was im Krieg  verloren ginge. Das dachte und sagte ich auch immer. Doch ist es womöglich etwas komplizierter. Denn schon vor dem Krieg war die Wahrheit eine recht fragile Angelegenheit. Jetzt im Krieg verhärten sich vor allem die Interpretationsfronten der Wahrheit. So wird die Wahrheit als etwas, das richtig und echt ist, und sich von der Lüge so unterscheidet, zu einer begehrten Ressource innerhalb eines Konflikts. Die Wahrheit geht also nicht verloren, sondern sie wird zerrissen. Diesen Schmerz fühlen wir gemeine Menschen, obwohl wir weder vor noch während des Krieges (und auch nicht danach) auch nur eine Ahnung von der Wahrheit hatten, bzw. haben. Der Kalte Krieg kehrt als heißer Krieg mit Wucht aus den 1980ern zurück. Die NATO rüstet auf und die Russen fühlen sich bedroht – und umgekehrt, die Russen rüsten auf und die NATO-Staaten fühlen sich bedroht, allen voran die Grenzländer von Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Ungarn. Es ist eine lange und objektiv betrachtet wirklich bedrohliche NATO-Grenze zu Russland. Und es ist ebenfalls objektiv betrachtet ein bedrohliches Russland für die genannten Länder. Es erscheint mir daher nur noch eine Frage der Zeit, bis der Konflikt weiter eskaliert. Der dritte Weltkrieg ist womöglich nur noch mit einem sehr hohen Preis zu verhindern. Die westlichen Gegenmächte halten sich zurück, sprechen dabei von ihrer Verantwortung. Nun ja. Die Wahrheit ist zartes Pflänzchen und zu behaupten, dass sie an der russischen Grenze Halt macht und sofort wieder in die ach so guten westlich-kapitalistischen Demokratien zurück kehrt, weil sich die Wahrheit ja nur im Westen, in der Demokratie, im Kapitalismus wohl fühlt, dies zu behaupten ist genauso kurios, wie Putins Entnazifizierungs-Doktrin.
Im Krieg wird man aufgefordert, sich für eine Seite zu entscheiden. Wer dies nicht macht, wird zwischen den Fronten aufgerieben. Und die Wahrheit ist nicht parteiisch sondern einfach nur wahr. Daher wird sie aufgerieben.

Und jetzt auch noch brauner Regen mit Sand aus der Sahara in München! Wenn das kein Zeichen Gottes ist! Die Wege des Herrn sind unergründlich und es ist fast schade, dass wir unsere Gebete nicht mehr an Gott, sondern an den DAX richten. Aber auch hier: Die Wahrheit ist fragil, denn auch die Wege des DAX sind unergründlich.

 

Streifschuss vom 24. Februar 22

 

Anlass: Bekenntnis bzw. ein besonderes coming out

 

Das blaue Buch

 

Mein Name ist Bernhard und ich bin Poet. Nein, kein Schriftsteller. Diese Differenz mache ich bewusst. Schriftsteller sind vernünftige Leute, die sich frei und autonom entscheiden können, ob sie schreiben, die Hecken schneiden oder mit der Frau in die Oper gehen wollen. Daher nenne ich sie nun in alter Manier Schriftensteller. Ein Poet kann genau das nicht. Poeten oder Dichter leiden an der primären Eigenschaft einen Zwang zum schreiben zu verspüren und sie leiden darunter. Leser oder Leien können diesen Schreibzwang nicht verstehen und nicht nachvollziehen. Auch Schriftensteller können das nicht. Poeten können nicht vom Schreiben lassen. Das ist keine Aussage über die Qualität der Texte, sondern über die Eigenschaften ihrer Produzenten. Der Schriftensteller macht nicht selten sogar bessere Texte. Jeder weiß, dass der Chemiker besser mit Drogen umgehen kann, als der Junkie. Und der Chemiker ist in diesem Vergleich der Schriftensteller und der Poet der Junkie. Man müsste eine Selbsthilfegruppe wie die anonymen Poeten gründen.
„Hallo, mein Name ist Bernhard und ich bin Poet.“
„Hallo Bernhard, schön dass du da bist“, rufen die anderen Poeten im Chor.
„Danke. Ich habe jetzt seit zwei Wochen nicht geschrieben.“
„Wir sind stolz auf dich“, ruft einer aus dem Kreis mir zu.
„Bleib stark, Bruder“, ruft ein anderer.
„Aber gestern bin ich rückfällig geworden.“
„Du schaffst das“, sagt die Frau neben mir und legt ihre feuchte, schwitzende Hand auf meine.
„Ich hatte gestern Stress in der Arbeit, mit dem Chef. Und als ich nach Hause kam, da wollte ich es mir nur kurz von der Seele schreiben. Nur Stichpunkte. Ihr wisst schon, ein zwei Sätze, mehr nicht. Ihr wisst wie das ist?“ Ich blicke in die Runde, fast alle nicken, blicken betroffen zu Boden. „Es blieb nicht bei den Stichpunkten, nicht bei ein oder zwei Sätzen. Mann. Noch jetzt kleben mir die Worte an den Händen.“
„Ich weiß Bruder, ich weiß“, sagt ein anderer und nickt heftig.
„Danke Bernhard“, sagt nun der Gruppenleiter. „Wir sind alle stolz auf deinen Mut, das zu erzählen.“
„Wir sind bei dir Bruder“, rufen ein oder zwei Poeten dazwischen.
„Ja, danke Bernhard, wir sind bei dir. Denk dran, Step by Step. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Jetzt aber zu etwas anderem“, sagt der Gruppenleiter und holt etwas aus seiner Hosentasche. „Peter?“, der Gruppenleiter schaut in die Runde, wir anderen auch. Da steht Peter auf. „Peter! Hier hast du deine Plakette für ein ganzes Jahr schreibfrei!“
„Wow“, rufen ein paar, „Yeah“ wieder andere.
Der Gruppenleiter beginnt rhythmisch in die Hände zu klatschen, während Peter durch die Stuhlreihen der Poeten nach vorne kommt und sich die Plakette um den Hals hängen lässt. Wir alle klatschen mit, auch ich klatsche schwach. Die Poetin neben mir strahlt mich in die Hände klatschend an.

So oder ähnlich. Ihr wisst alle was ich meine. Die allgemeine Alphabetisierung trug natürlich stark dazu bei, dass diese Schreibsüchtigen immer mehr wurden. Es ist sicher keine gute Idee, so offen und locker mit Sprache umzugehen, wie es derzeit in den Schulen weltweit geschieht. Wenn man sie auch nicht ganz verbieten kann, so sollte man wenigstens – meiner Ansicht nach – den Zugriff auf Sprache deutlich einschränken. Man sollte auf jeden Fall den sehr gefährdeten Kindern nicht auch noch den Umgang mit Sprache beibringen. Das ist ja, als würde man Kindern zeigen, wie man am besten Heroin spritzt. Man sollte den Kindern zeigen, was mit sprachsüchtigen Poeten geschieht, wie sie in der Gosse landen, von der Hand in den Mund leben, oder im Irrenhaus landen. Man sollte ihnen die Leichen der Selbstmörder zeigen, einst schreibsüchtige Poeten. Das wäre eine angemessene Erziehung.
Ja. Übrigens gibt es unter den Schriftenstellern genug funktionierende Poeten. Solange sie beruflich erfolgreich sind, können sie ihre Schreibsucht kontrollieren. Die Gesellschaft toleriert das. Doch sobald die Schriftensteller beruflich abbauen, bricht reziprok zu ihrem beruflichen Misserfolg die Schreibsucht hervor. So mancher ehemaliger Schriftensteller wurde am Ende zum Poeten und endete entsprechend.
Poeten gibt es überall auf der Welt. Aber in Deutschland scheint es sich um ein schwerwiegenderes Problem zu handeln. Vermutlich liegt der Grund dafür in der speziellen Geschichte dieses Landes, das man einst als Land der Dichter und Denker bezeichnete und so geradezu in die Schreibsucht getrieben hat. Die deutsche Sprache fand erst im 17. Jahrhundert seinen Anschluss an die anderen Sprachen. Vielleicht ist dieses historische Nachhinken eine immer noch vorhandene tiefe Wunde. Hinzu kommt, dass die Franzosen immerhin ihre Leichtigkeit im Umgang mit Sprache haben, die Engländer haben ihren gesunden Menschenverstand und die Spanier ihr feuriges Gemüt. Den Deutschen fehlt all das, weder verfügen wir Deutsche über Leichtigkeit, noch über genügend gesunden Menschenverstand, noch haben wir ein feuriges Gemüt. Daher fehlen uns die Abwehrkräfte und wir verfallen allzu leicht der Poesie.
Wie auch immer. Sprache ist ein äußerst gefährliches Medium und kann leicht süchtig machen. Schon das Wort Wort! Gott, dieses lippenschließende wwww und dann öffnet sich der Mund zum oooohhh und rrtet mit der Zunge am Gaumen, das ist weich, zart und erotisch. Wort! Himmel! Also, ich muss jetzt hier Schluss machen, ich habe, ich muss, SCHREIBEN!

 

Streifschuss vom 11. Februar 22

 

Anlass: Muskelmänner

 

Die großen Drei

 

656 Muskeln! Der in der Fläche größte ist der Rückenmuskel, der nach Volumen größte ist der Gesäßmuskel und der stärkste Muskel ist der Kaumuskel. Daher ist unsere evolutionäre Bestimmung? Aufrecht sitzen und fressen. Wenn also mal wieder einer die Evolution ins Spiel bringt, kannst du das anbringen.
Der Rest - immerhin 653 Muskeln - von allem ist nichts weiter als Beschäftigungstherapie. Alles reduziert sich auf drei große Muskeln. Man kann diese auch noch für die Fortpflanzung einsetzen. Gesäß- und Rückenmuskeln sind gut fürs Ficken und normalerweise fickt man nach dem Fressen. Aber man kann vielleicht noch das Küssen dazu zählen, als Werbemethode. Der musculus masseter (Kaumuskel) hat dich zum fressen gern.
Ansonsten ist das Leben ein vorübergehendes Happening. Das Problem ist, dass die Grundidee des Lebens ‚aufrecht sitzen und fressen’ meist sehr schlechte Bedingungen zur Verwirklichung vorfindet. Es ist entweder einfach nicht genug da, um zu fressen. Dann muss man aufstehen und rumsuchen wo es was gibt. Dann kann man oft nicht einfach sitzen bleiben, selbst wenn genug da ist, weil andere Lebewesen einen davonjagen wollen. Dann muss man sich verteidigen. Und nicht selten sind die anderen Lebewesen auch noch die, die man selbst davonjagt. Und schon haben wir die ersten und einzigen Grundlagen unserer Kultur: jagen, sammeln und kämpfen. Der erste Mensch, der ein Buch darüber schrieb beging den eigentlichen Sündenfall. Reflexion erschuf Bewusstsein und damit alles, was uns Menschen heute auf die Nerven geht. – Wörtlich auf die Nerven…

Wenn wir also nicht fressen oder ficken, dann jagen wir, sammeln irgendwas oder kämpfen ums Überleben. Mehr ist das alles nicht. Wer noch nach einem höheren Sinn darin sucht, der gehört zu denen, die Bücher schreiben. Und diese Leute sorgen nur dafür, dass uns noch mehr Schmerz und Elend bewusst wird. Ziemlich öde oder? Jetzt gehöre ich zu denen, die überlebensüberdrüssig sind. Also schreibe ich irgendwas auf. Was mir so durch den banalen Sinn geht und wozu mich mein borniertes Ego verführt. Und wenn ich tief in mich hinein horche und ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann weiß ich nur zu gut, dass ich lediglich ein bisschen Zauberglitter über diese trostlose Welt kippe. Wozu? Na, weil ich nicht ständig fressen kann ohne auszusehen wie Daniel Lambert (siehe Abbildung). Im Jahr 1806 wog er 335 Kilogramm und war der dickste Mann der Welt. Er stellte sich der Schaulust gegen Eintrittsgeld zu Verfügung und wurde so immerhin sehr reich, wenn auch nicht alt. Er starb im Alter von 39 Jahren vermutlich an einer Lungenembolie, als er beim Rasieren plötzlich Atemnot bekam.Wäre er nur sitzen geblieben!! Kurz zuvor hatte er noch eine Tour durch London und York gemacht - sitzend. Fat sells. Er tat nur, was die Evolution ist: Aufrecht sitzen und fressen.

 

Streifschuss vom 22. Jänner 22

 

Anlass: Blue Notes

 

Ich bestimme nichts
Οὐδὲν ὁρίζω

 

Als ich noch weniger wusste, hielt ich mich für klüger.
Und ich war es auch, denn ich war viel unvoreingenommener. Altern als eine Ansammlung von Urteilen unter denen sich eine Menge Vorurteile rein geschmuggelt haben, wie blinde Passagiere.
Ἀκαταληπτῶ steht auf
dem ersten Querbalken in Montaignes Turmbibliothek. Es ist ein pyrrhonisches Schlagwort (Ich bin ohne Erkenntnis). Der alte aus Elis stammende Skeptiker Pyrrhon war angeblich ein Eremit. Doch er nahm an den Feldzügen Alexander des Großen teil und drang mit ihm bis nach Indien vor, wo er sich mit Asketen und Magiern unterhielt. Ich bin ohne Erkenntnis? Das sagen Leute, die augenzwinkernd ganz genau wissen, wie „gescheit“ sie sind und so nur rhetorisch ausnutzen, dass man Bescheidenheit als Tugend wahrnimmt. Früher war ich klüger, weil ich rhetorisch unbescheiden war und einfach ehrlicher. Ist Ehrlichkeit nicht ein Charakterzug der  Klugheit?
Jetzt habe ich mich ein wenig mit der Biografie von Montaigne beschäftigt. Privilegiertes Bürgermeister-Söhnchen mausert sich selbst zum Bürgermeister. Er war bei seinen Lehrern gefürchtet, weil er besser Latein konnte als sie. Kunststück. Horentius, sein deutscher Hauslehrer sprach von Anfang an nur Latein mit ihm und sein Vater dito. Keine Ahnung. Insgesamt erscheint mir sein Leben zu privilegiert und zu sehr seiner Zeit entstammend, um seine Ansichten ganz vollständig und rein übernehmen zu können. Ich sehe in ihnen die Option von Aphorismen, ganz wie die Balken seiner Turmbibliothek an den Sprüchen der Alten zehrt und wohl nur so zusammenhält. In unserer hypermodernen Welt sind all die Lebensweisheiten nur noch ein Residuum das sich aus den vergangenen Zeiten herüber rettete. Nur deshalb rettete, weil sie rhetorisch anklingen und uns eher benebeln als befreien. Vorsicht ist geboten bei all den Sprüchen. Je klüger die Sprüche, desto vorsichtiger sollte der Verstand sie wahrnehmen.

Sicut ignoras quomodo anima conjungatur corpori sic nescis opera Dei. Aus Prediger 11/5. Immerhin. Dieses Problem ist bis heute nicht gelöst. Anima conjungatur corpori. Steht auf dem 12. Balken der insgesamt 49 Querbalken in Montaignes Turmbibliothek. Ich bin ohne Erkenntnis, weil ich nicht mal weiß, was mich (Seele und Körper) im Innern zusammenhält. Faust lässt grüßen. Und es war eine schöne Idee von Montaigne, die Balken seiner Turmbibliothek zu beschriften. Man schaut sinnend zur Decke und wird mit weisen Sprüchen davon abgehalten hinter alles zu blicken. Das Dach der Welt ist die eigene Bibliothek. Blickt noch einer über sich selbst hinaus? Ja ich glaube, dass all die klugen Sätze unsere Augen reizen sollen. Vielleicht sind sie auch gut gemeint, denn was wir sähen, würden wir hinter die Weisheit blicken, über uns selbst hinaus, wäre der Irrsinn. Und wer will schon verrückt werden? Bleiben wir normal. Und behalten wir den banalen Überblick durch Ordnung, Struktur und System. Der erhellende Aspekt des Wahns dünkt uns zu dunkel. Wie das oft ist, wenn man geblendet wird. Wer länger in die Sonne schaut – dem wird schwarz vor Augen. Ja, vielleicht ist alle Klugheit eine Warnung vor dem Wissen. Jenes Wissen, das in der Ursuppe unserer Neigungen und Triebe schwimmt – wir wollen gar nicht so genau wissen, was da los ist.

 

 

 

 

 

Streifschuss vom 17. Januar 22

 

Anlass: Der Mythos vom glücklichen und reinen Gesunden

 

Lust und Verbot

 

In den letzen Jahrzehnten wurde von Seiten der Regierenden und der Gesundheitswissenschaften ein enormer propagandistischer Aufwand betrieben. Viele Substanzen wurden massiv tabuisiert (Alkohol, Nikotin, rotes Fleisch, Zucker), doch sie wurden nicht vom Markt genommen. Im Gegenteil forcierte der Markt, die Marktvertreter der tabuisierten Produkte ihrerseits ihre Propaganda. Man sah schöne, junge Menschen die Spaß haben, sie trinken Alkohol, rauchen, grillen, naschen Schokolade. Man sieht sie auf großen Plakaten, in der Fernseh- und Kinowerbung, hört von ihnen im Radio. Sie sind idealisiert, schön, attraktiv und voller Lebenslust. Sie verkörpern das Glücksversprechen unserer Generation. Jeder halbwegs vernünftige und aufgeklärte Mensch weiß natürlich, dass es sich hier um Werbung handelt. Und wenn in den Zeitungen und Dokumentationssendungen die Folgen von Alkoholmissbrauch geschildert werden, wenn man Aufnahmen von schwarzen Raucherlungen veröffentlicht, das faulig stinkende Gangrän eines Zuckerkranken abbildet oder Gelähmte zeigt, die zu viel Cholesterin im Blut hatten, weiß jeder Mensch, dass es sich hier um die Wahrheit handelt. Nicht schöne,  junge Menschen die Spaß haben, sondern verfaulte, kranke und gebrandmarkte funktionsunfähige Menschen sind die Folge des vermeintlichen Spaßes zu saufen, zu rauchen, zu grillen und Schokolade zu naschen. Dennoch weiß man auch, dass eine Party ohne Alkohol mehr ein Kindergeburtstag ist. Und selbst auf einem Kindergeburtstag gibt es Kuchen, also Zucker. Ein Kindergeburtstag mit gelben Rüben und Salatgurke? Unvorstellbar. So müssen wir die tabuisierten und doch sehr begehrten Genussmittel in rituelle Abläufe einbinden. Die Ernährungs-Ausschweifungen zu Weihnachten, die Alkoholexzesse zum Oktoberfest, sommerliche Grillgelage, gemeinsames Rauchen und Frieren auf dem Balkon. Alkohol und Nikotin sind weitestgehend anerkannte Giftstoffe und die Freuden dieser Gifte müssen gemäßigt genossen werden, sonst stirbt man. Nun sind Alkohol und Nikotin ohnehin schon Ersatzhandlungen für eine tiefer gehende Lust. Wir wissen nicht mehr, welche Lust es ist. Ich vermute hier die Lust – wie Sigmund Freud - im Gebiet des Eros und des Thanatos. Vielleicht tauchen wir noch ein Stück tiefer in die Ursuppe menschlicher Abgründe ein. Dort in Bodennähe, wo sich Schwämme, Ringelwürmer,  Gliederfüßer oder Stachelhäuter aufhalten, finden wir im Menschen eine Lust, die vollständig autopoetisch funktioniert. Die Selbstgenügsamkeit, die schon im Gastmahl an den Kugelgestalten des Aristophanes dargestellt wurden und welche die Götter voneinander trennten, sollte uns Grundlage genug sein. Die eigenen Löcher stopfen. Nasenlöcher, den Anus, das Herumfummeln am Bauchnabel, die Onanie im weitesten Sinne, das Masturbieren, all diese Formen der Selbstbefriedigung zeigen sich in den Ersatzhandlungen des Trinkens und Rauchens. Die Lust artübergreifender Befriedigung ist dabei noch gar nicht berührt worden. Onanie und Masturbation sind heute weitestgehend akzeptiert. Niemand spricht groß darüber, außer vielleicht in speziellen Foren, aber es ist bekannt, dass fast jeder Mann und jede Frau dies tut. Doch niemand käme auf die Idee, mit seinem Hund in dieser Hinsicht zu spielen, der eigenen Katze ins Popoloch zu fassen oder ähnliches. Mit dem Essen spielt man nicht. Diesen Satz hört man gewiss heute nicht mehr so oft wie vor 50 Jahren. Doch alles wird ergriffen, erkundet und probiert. Einen großen Teil dieser Streifzüge erleben wir Verbote. Die meisten erinnern wir nicht mehr. Sie sind durchaus sinnvoll. Dreck vom Boden essen, oder scharfe Gegenstände in den Mund schieben, auch Gegenstände zweckentfremden, anderes als Vorgesehenes mit ihnen machen. Es gibt hier eine solche Masse an Verboten und der Geleitschutz der Eltern durch unsere Ursuppenphase lässt den Konflikt von Lust und Verbot geradezu als Binsenwahrheit erscheinen.  Jedes Tabu ist im Wesentlichen unmotiviert, verschiebbar, eine Ansteckungsgefahr geht vom Tabu aus und führt zu Handlungen mit zeremoniellen Ver- und Geboten. Das nennt man im Weitesten Sinn „Religion“. Wir haben uns inzwischen einer Gesundheitsreligion verschrieben. Die Ver- und Gebote sind natürlich zum Teil sinnvoll, Leben verlängernd und stärken die seelische und körperliche Vitalität. Andererseits führt ihre zwanghafte Durchführung zu seelischer und geistiger Erkaltung, macht uns zu nervösen und ängstlichen Neurotikern, die in der Verschiebung der Lust ständig nach Abfuhr streben. Das heißt dann, dass wir die Gesundheitsvorschriften übertreiben, kaum noch genussfähig sind, wenn wir nicht auf unsere Cholesterinwerte achten, unseren Blutdruck kontrollieren. Manche individuellen Nahrungsvorschriften erinnern an die strengsten Religionen der Menschheitsgeschichte. Dass wir die eigentlichen Quellen dieser Ver- und Gebote nicht mehr erinnern, weil sie unsere frühe Entwicklungsphase gestalteten, macht diese teilweise irren Ernährungsrituale des postmodernen Gesundheitsfanatikers zu einem quasireligiösen Akt. Im Rahmen der Pandemie, die wir seit Anfang 2020 erleiden müssen, wurden Ernährung und Sport zu täuschenden Ressourcen und die narzisstische Kränkung war groß, wenn einzelne Individuen an Covid 19 erkrankten, obwohl sie sich an die strengsten Nahrungs- und Sportrituale hielten. Der ziemlich verrückte Irrtum mancher, dass das Virus einem nichts anhaben könne, weil man sich an die Ver- und Gebote der Gesundheitsreligion halte, erinnert an die Krise die das Erdbeben von Lissabon vom 01. November 1775 auslöste. Damals vor 247 Jahren stellte sich die berühmte Theodizee-Frage, warum Gott das überhaupt zulassen konnte. Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht. Dann ist Gott schwach, was auf ‚Gott nicht zutreffen kann. Es handelt sich um Gott, den Schöpfer von allem. Er kann unmöglich schwach sein. Dann wollte er das Erdbeben  nicht verhindern. Dann wäre Gott missgünstig, was ihm fremd ist.

Wenn Gott es weder will noch kann, dann wäre er schwach und missgünstig zugleich, also nie und nimmer Gott. Oder er wollte es und konnte es. Was allein für Gott ziemt. Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?

Nun ist die Gesundheitsreligion nicht in dem Sinne institutionalisiert, wie die katholische Religion es ist. Die Gesundheitsreligion ist durch die Wissenschaften gestützt und daher rationaler als die katholische Religion. Ihre Rationalität  ist aber ein noch stärkeres Instrument für Ver- und Gebote in ihrem Sinn. Daher ist die Überraschung der Gesundheitsgläubigen in der Pandemie besonders groß, denn es half ihnen nichts. Es helfen Spritzen. Rein technische Produkte. Egal ob man nun die Rituale einhält und täglich Sport treibt oder gelbe Rüben isst statt Kuchen. Die Spritzen helfen auch Menschen die rauchen, Alkohol trinken, grillen und Schokolade naschen. Wer nicht trinkt, nicht raucht, nicht grillt und auch keinen Kuchen ist, kann trotzdem an Covid19 erkranken und daran sterben. Das hat viele der esoterisch-fanatischen Gesundheitsgläubigen in eine Glaubenskrise gestürzt. Wie konnte mein Körper (der heilige Ersatz für Jesus) das zulassen? Das fragen sich die durchtrainierten Opfer vielleicht, die jetzt an einer ECMO hängen. Aber Zynismus ist hier sicher nicht angebracht. Es ist eher tragisch. Denn die rationalen Gesichtspunkte einer an der eigenen Gesundheit orientierten Lebensweise werden dadurch nicht falsch. Nur wird derjenige, der darin das alleinige Glückversprechen sah, eines Besseren belehrt. Doch manchen Menschen hat diese Krise ihren Glauben an die Wissenschaften der Gesundheit genommen. Damit schütten sie das Kind mit dem Bade aus, wie man so schön sagt. Die Glaubenskrise gründet sich daher in den irrationalen Versprechen der Gesundheitsreligion. Sie ist es, die den Neurotikern, den Zwangshandlungen ihre überkulturellen Abfuhren durch Befolgung der Gesundheitsrituale eine empfindlichen Schlag versetzten.
Diese Entmythologisierung der Gesundheitsreligion führte zu Ersatzhandlungen, die sich dann in rassistischen, antidemokratischen und kulturfeindlichen Handlungen äußerte und zu den Tabu-Brüchen führte, die wir derzeit überall erleben.
Dem zugrunde liegt eine Lust, die uns allen nicht mehr erinnerbar ist und die sich in Eros und Thannatos zeigt. Die Rationalisierungen der Wissenschaften waren daher eine Zwischenstufe. Die Frage ist nun, was als nächstes kommt. Der Konfliktkreislauf von Verbot und Lust sollte nicht dazu führen, dass wir die rationalen Wissenschaften verteufeln. Es wäre in der Gesetzmäßigkeit des Mythos eine logische Entwicklung, dass eine frühere Stufe der Mythologie die von einer höheren überwunden wird, sich in ein Objekt des Abscheus verwandelt. Das können wir gerade beobachten und das kann man aktuell als eine Regression unseres Bewusstseins auffassen im Sinne Adornos.

 

Streifschuss vom 15. Januar 22

 

Anlass: Wie es zu den Idioten kam, die jetzt ständig nerven

 

 

Die traurige Masse

Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren wir uns auf globaler Ebene ähnlicher. Nur ist diese Ähnlichkeit eine sehr oberflächliche Ähnlichkeit, die vor allem auf der Verwischung der Unterschiede beruht, die in einer Massengesellschaft mit Massenproduktion von immer gleichen Dingen logisch ist. Die Verwischung von Unterschieden, die Gleichheit aller Dinge die wir gebrauchen, das alles führt aber dazu, dass wir uns selber fremd werden. Je ähnlicher wir dem anderen sind, desto fremder werden wir uns selbst gegenüber. Das ist auch logisch. Und es ist daher eine narzisstische Gesellschaft derjenigen, die sich selbst suchen und verwirklichen wollen und dabei immer nur die immer gleichen Vitae rekonstruieren. Der Konsummensch in den reichen Nationen ist hier gemeint. Seine Vitae sind wie die Waren die er konsumiert reinste Massenprodukte. Menschen dagegen, die von einem Land in ein anderes geflohen sind, vor Diktatur oder Hunger, die werden im reichen Migrationsland nicht akzeptiert, weil sie eine Vita vorweisen, die nicht ist wie die der anderen. Der Hass auf diese Menschen ist nur vordergründig rassistisch motiviert. Ich denke mangels Begriff für die Gefühle, die Migranten bei Konsumenten reicher Nationen auslösen. Denn in Wahrheit neidet man ihnen ihre verwegene Fluchtgeschichte. Sie sind Menschen die im Gegensatz zum verwöhnten und langweiligen Konsumentendasein etwas „erlebt“ haben. Erleben war nach Viktor Klemperer ein Lieblingswort der Nazis. Es sind also sehr widersprüchliche Gefühle, die der postmoderne Rassist und Neonazi des 21. Jahrhunderts „erlebt“. Denn einerseits fühlt er sich überlegen, weil er als Weißer nie Hunger oder Staatsgewalt, oder sogar Krieg erlebt hat, mit Bildung gefüttert wurde und mit Privilegien. Der Rassist und Nazi des 21. Jahrhunderts fühlt sich überlegen, weil er behütet in einer Konsum- und Wissensgesellschaft aufwuchs, ohne existenzielle Sorgen. Allerdings neidet er genau diese existenziellen Erfahrungen dem Migranten. Wer mit einem Schlauchboot unter Todesverachtung über das Mittelmeer schipperte, zuvor von brutalen Schlepperbanden ausgebeutet wurde, und aus einem gefährlichen, kaputten Land kommt, der ist ein großer Held, wenn er das überlebte. Dieser Heldenstatus gebührt jedem geflüchteten Menschen, der all das überlebte. Aber der Rassist und Neonazi ärgert sich maßlos, dass da einer ein Held ist und dem Tod trotzte und mit seiner eigenen Kraft überlebte. Es sind vermeintlich Nazitugenden. Als wären Tugenden an eine Gesinnung gebunden.

 

Der verwöhnte Deutsche
Wir Deutschen zum Beispiel sind durch und durch verwöhnt. Wir helfen einander nicht mehr, sind oft unzufrieden, haben Wutanfälle, akzeptieren keine Grenzen mehr, teilen nicht mit anderen, können uns nicht mehr mit uns selbst beschäftigen (mit Langeweile nicht umgehen, weil ständig was geboten ist). Der verwöhnte Deutsche will stets Aufmerksamkeit, kann nicht mehr warten, wird mit materiellen Dingen überhäuft, ist undankbar, will  für Selbstverständlichkeiten gelobt werden, übernimmt keine Verantwortung mehr, ist manipulativ und muss bestochen werden, nur um Routineaufgaben zu übernehmen. Kurz und gut, die Liste habe ich von der Kinderinfo übernommen, 18 Anzeichen für ein verwöhntes Kind. Trifft alles auf den deutschen Konsummenschen zu. Vor allem der ostdeutsche Wutbürger und Querdenker zeigt all die Eigenschaftgen, die auch ein verwöhntes Kind zeigt. Und dann kommt natürlich der Neid und Hass auf Menschen dazu, die unter größten Gefahren und existenziellen Herausforderungen ihr Leben meisterten. Die vielen Migranten in unserem Land wissen, was sie geschafft haben. Die Wut auf sie ist Projektion der eigenen Unfähigkeit. Die meisten Vitae der Deutschen sind austauschbar, uninteressant und hochgradig banal. Dem eigenen Überlegenheitsgefühl widersprechen diese Vitae erheblich.

 

Der postmoderne Kleinbürger
Es sind diese Widersprüche aus Prätention und Unfähigkeit, Neid und Projektion die den typischen postmodernen Rassisten kennzeichnen.
Der Wohlfühl-Kokon unserer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft löst sich langsam auf. Das spüren vor allem die Kleinbürger, denn sie sind die verwöhnten Kinder der Nation. Der so genannte „Normalo“ hat sich ein oder zwei Generationen lang etwas vormachen können, die Illusion aufrechterhalten, er sei auserwählt. Aber nun zeigt sich, dass er nur ein Kleinbürger in einer postmodernen Epoche ist und gar nichts mehr bedeutet und nichts, gar nichts von ihm übrig bleibt. Diese narzisstische Kränkung des postmodernen Kleinbürgers mit seiner austauschbaren Vita wird er blutig rächen wollen. Das sind die Leute, die das Kapitol im Januar 2021 stürmten, das sind die Leute die in den deutschen Städten ihre Spaziergänge durchführen, das sind die Impfgegner und Möchtegernrevoluzzer, die Rassisten mit ordentlicher Frisur und sauberem Hemdkragen, die sich selbst nicht als Rassisten sehen, sondern nur besorgt sind. Sie sind diese verwöhnten Idioten, zu nichts zu gebrauchen und nicht überlebensfähig. Eine traurige Masse. Sie sind weder besorgt, noch kritisch. Sie sind einfach nur frustriert.

 

Streifschuss vom 12. Januar 22

 

Anlass: eine morgendliche Assoziation

 

Wahre Freunde sind selten

 

Denken wir an unsere Freunde, dann glauben wir sie uns ausgesucht zu haben. Nun. Das ist ein großer Irrtum. Niemand, ja niemand sucht sich seine Freunde aus. Sie laufen einem auch nicht ganz zufällig über den Weg. Es sind Bedingungen (dieses Wort prägte einst Martin Luther), philosophisch ausgedrückt: Konditionen, die unsere Bekanntschaften erschaffen und strukturieren. Diese kausalen Zusammenhänge sind wiederum nur „bedingt“ von uns beeinflussbar.  Wenn man sich einmal unter bestimmten Bedingungen kennenlernte, dann werden die Bedingungen unter denen man sich kennenlernte  und nicht die Motive der Subjekte den weiteren Verlauf der Bekanntschaft prägen. Es gibt keine Möglichkeit der Einflussnahme -  außer: die Bedingungen von Grund auf zu ändern. Aber das überleben die wenigsten Bekanntschaften. Die Illusion der meisten Menschen gaukelt ihnen vor, dass sie als Subjekte über Maß und Einfluss ihrer Bekanntschaften entscheiden würden. Aber nein. Allein die Bedingungen, die Maß und Einfluss von Bekanntschaften organisieren, lassen sich beeinflussen. Doch hier sind viele soziale Grundbedingungen nicht änderbar. Es fängt schon bei der Familie an. Wer hat da wirklich Einfluss? Dann gibt es das tägliche Brot, das man sich verdienen muss. Die Arbeit und die Arbeitsbedingungen sind Hauptfaktor der meisten Bekanntschaften nach der Familie. Die wenigen zufälligen Bekanntschaften sortieren sich dann nach den entsprechenden Lebensprioritäten. Zum Beispiel kennt man jemanden aus dem Verein in dem man seine Freizeit verbringt, egal ob es ein Schach- Schieß- oder sonst ein Verein ist. Hier aber bestimmt nicht das Subjekt die Bekanntschaft, sondern die Bedingungen des Vereinslebens organisieren den wesentlichen Anteil des sich kennen. Löst sich der Verein auf, folgt kurz darauf auch die Bekanntschaft diesem Schicksal. Wenn weder Beruf noch Steckenpferd als Bedingung von Bekanntschaft vorliegen, gibt es noch den seltenen Fall der Liebe. Soll die Liebe anhalten und die Beziehung erfolgreich sein, dann müssen auch die Bedingungen stimmen. Das fängt wieder bei der Familie an. Wenn jemand von der Familie des erwählten Partners abgelehnt wird, wenn man aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten oder Berufen kommt, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht oder die gleiche Hautfarbe hat, wenn man –kurz gesagt – nicht gewisse soziale Grundbedingungen erfüllt, muss die Liebe überstark sein. Eine solche Liebe gibt es und muss es geben – ja ich denke es ist Hauptaufgabe eines Staates, Bedingungen zu gestalten, damit eine solche überstarke Liebe immer möglich bleibt. Aber es ist eine ideale Liebe. Und die ist nun mal – da beißt die Maus keinen Faden ab – selten. Ich erinnere hier nur kurz an eine Schilderung von Viktor Klemperer über den Heldenmut deutscher Frauen, die mit jüdischen Männern verheiratet waren und was diese ertragen mussten.
Kurz und gut (oder nicht gut): Der Einfluss der Subjekte auf ihre Bekanntschaften ist minimal. Eine berufliche Versetzung, ein krankheitsbedingter Berufswechsel, eine neue subjektive Berufung! Schon sind alle früheren Bekanntschaften dahin und  wie der ins Unglück geratene Dichter gedenkt man wehmütig der zahlreichen amis que vent emporte, et il ventait devant ma porte.

 

Streifschuss vom 07. Januar 22

 

Anlass: Das Volk wird nicht verarscht, es ist im Arsch

 

 

Die dunkle Seite der Macht
 

Es ist inzwischen eine gewisse Mode geworden, auf Politikern herumzuhacken. Auch die Medienvertreter zwingen die Politiker oft dazu, in diverse Hohlräume zu kriechen, um dort für Absolution zu beten. Dabei sind sie gar nicht so schlecht – verglichen mit dem Volk das sie regieren müssen. Dieses Volk kriecht derzeit wirklich aus allen Höhlen heraus und macht sich auf eine Weise breit, dass man es nicht mehr übersehen kann. Und wenn man das Volk ständig sehen muss, dann verursacht das zunehmend Übelkeit bei denjenigen, die sich nicht wirklich zum Volk zählen, weil sie es ja regieren müssen. Man muss die Politiker wirklich loben, dass sie sich nicht übergeben, wenn sie mit dem Volk sprechen. Nehmen wir einmal die Querdenker, Verschwörungstheoretiker und all die ganzen Irren aus der Rechnung heraus, dann bleiben immer noch die Spießbürger, die Halbgebildeten, die Ignoranten, die ewig nörgelnden Kleinbürger, die Konsumtrottel, die auch bei Dunkelheit Sonnenbrillenträger (anglizistisch Performer genannt), die Emporkömmlinge (auch arriviert genannt), die postmateriellen Aussteiger (früher  arbeitsscheu genannt). Kurz, die Querdenker und Spinner sind bei Weitem nicht das einzige Problemvolk. Und alle kann man täglich sehen, von Arte bis youtube breiten sie sich aus und verpesten die ohnehin schon staubige Luft.
Lediglich 10 Millionen Deutsche lassen sich als regierbar einstufen. Das ist der Anteil der unter 14jährigen in diesem Land. Kinder an die Macht? Keine schlechte Idee, denn sobald sie Akne bekommen, kann man sie wieder aus der Macht entfernen.
Jetzt ist natürlich auch viel Volk in der Regierung. Man bekommt gerade in einer Demokratie das Volk nicht aus der Regierung raus. Es hat sich da regelrecht eingenistet. So haben immerhin 70 Prozent aller Deutschen wenigstens einen Bachelor (von bacca für Kuh). Wenn man nun unser Kabinett anschaut, stammen alle 17 Minister aus dem Volk. Sie haben ein abgeschlossenes Kuhdium, äh Studium – also wenn man Sozialpädagogik tatsächlich als Studium betrachten kann, denn das ist ja ein Fach das man nicht abschließen kann, so wenig wie Philosophie. Wie oder was wird denn bei (immerhin zwei Minister) Philosophie abgeschlossen?
Sechs Anwälte im Kabinett, aber nur zwei Politologen. Eine ehemalige Briefträgerin vertritt einsam das Proletariat. Steffi stammt aus Querdenkenhausen (Sachsenreich) und hat dann nach ihrer Briefträgerkarriere Agrarwissenschaften studiert. Eine Bäuerin, zwei Philosophen, sechs Anwälte, zwei Politologen. Das bildet die Kartoffelgrafik der deutschen Politik und des deutschen Volkes. Denn auch das Volk besteht mehrheitlich aus Anwälten, Rechtsvertretern (wobei auf den Vorgang des Vertretens der Schwerpunkt liegt, so wie man sich mal eben die Füße vertritt). Das deutsche Volk ist von einer enormen Rechtsgläubigkeit beseelt und hält das Grundgesetz für eine Bibel, geschrieben von langbärtigen Patriarchen, die im Schnitt 900 Jahre alt wurden. Das deutsche Volk ist ein halbgebildetes, dilettantisches abschlussgeiles Volk, das von der Kreidezeit unmittelbar in die Jurazeit wechselte. Und es passt in die Jurazeit, dass man Atomenergie zur grünen Energie erklärt. Denn Rechtsgläubigkeit glaubt an das Recht und Recht ist das, was geschrieben steht. Steht dann da geschrieben Atom ist grün, dann ist jeder Pilz essbar. Und das deutsche Volk frisst und frisst. Es wird immer fetter und fetter – man spricht schon von einer „Fetternwirtschaft“ in diesem Land. Alle haben fertig studiert (fertig wie aus und vorbei, haben sich also ausstudiert) und werden jetzt nicht mehr klüger, nur fetter. Denn wer ist klüger als die Polizei? Niemand.

 

Streifschuss vom 01. Januar 22

 

Anlass: unglücklich, einsam und zölibatär

 

Das Unbehagen in der Pandemie

 

Noch drei Tage bis zum Jahr 114 A.F.. Ziel ist eine Gesellschaft die stabil, steril und infantil ist. Das sind die Leitideen der schönen neuen Welt von Aldous Huxley. Vom Weltstaat sind wir noch ein wenig entfernt. Die Menschen vermehren sich vorzüglich immer noch auf natürliche Weise und werden in der Keimzelle des Terrors (der Familie) zu Neurotikern großgezogen. Der Großteil der bald acht Milliarden Individuen glaubt noch an Geschichte, die in Wahrheit längst Geschichte ist. Die Vergangenheit steht in den Büchern und ist da gut weggeräumt.
Wir lieben unsere Sklaverei und die meisten Menschen flüchten aus Malpais, um glückliche und fleißige Konsumenten wie wir zu werden. John Savage steht derzeit frierend und hungernd an der polnisch-belarussischen Grenze. Freiheit und reichlich Brot für alle zusammen ist weiterhin nicht denkbar. Die Wissenschaft ist noch viel zu frei. Wir müssen noch mehr Steine in Brot verwandeln, noch mehr Sicherheit und Ordnung herstellen, um das Ideal der schönen neuen Welt zu erreichen. Unsere infantile Wegwerfgesellschaft ist vor allem an einem abwechslungsreichen Leben interessiert (wer zu viel nachdenkt – wie ich – leidet schnell unter einem so genannten Präsenz-Defizit). Doch in den letzten beiden Jahren hat dieses Modell einer infantilen, sich an Spiel und Freizeit orientierenden Gesellschaft pandemische Risse bekommen. Die Ansprüche individueller Freiheiten die sich in Amüsement und Spiel zum Ausdruck bringen, verstoßen gegen den Willen der Masse. Triebverzicht ist die Parole. Schon 1930 schrieb Sigmund Freud: „Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die eine Aufgabe, einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.“ In der Politik glaubt man allerdings, man könne Kultur als schmückendes Beiwerk begreifen und mit einem Staatsministerium kontrollieren. So rührig die schwäbische Studienabbrecherin und Ex-Managerin von Ton, Steine, Scherben auch ist (gemeint ist Claudia Roth), und so sehr man ihr Engagement gutheißen mag, das Problem ist nicht sie, sondern die Ignoranz politischer Herrschaft. Kultur ist die Summe unserer Leistungen und Einrichtungen in denen unser Leben sich von dem unserer tierischen Ahnen entfernt. Kultur dient zwei Zwecken: Dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander. Das klingt nach einer – wie man das heute so plebiszitär nennt – gesamtgesellschaftlichen Anstrengung die mit der Kontrolle der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Kultur- und den Medienbereich (das ist die Aufgabe eines Kulturstaatsministers) nicht wirklich vollständig abgedeckt ist. Den ersten Zweck der Kultur haben wir – ganz ohne Ministerium - übererfüllt. Wir haben uns derart massiv gegen die Natur geschützt, dass sie nun beinahe weg ist. Jetzt schützen wir die Natur gegen die Kultur. Was irgendwie ein Treppenwitz ist oder aus den Annalen der Abderiten stammt. (Ich grüße Wieland und sein Biberach)
Den zweiten Zweck haben wir nicht minder übererfüllt. Über 80.000 Paragraphen regeln unsere Beziehungen. Sicherheit und Ordnung erfüllen den Leitspruch der Stabilität aus der literarischen Vorlage derart, dass wir unser Leben nur noch mit juristischem Beistand praktizieren können. Es ist keine Überraschung, dass 21 Prozent der Bundestagsabgeordneten Juristen sind. Wir verwalten uns zu Tode. Die instrumentelle Vernunft der Politik reduziert den Begriff der Kultur auf  die Vergabe von Filmpreisen und regelt menschliche Beziehungen über die Anwaltskanzlei. Daher glaube ich nicht, dass die derzeitigen gesellschaftlichen Spaltungen von der Politik beherrschbar sind. Politik hat weder die Macht, noch die Mittel dazu. Demokratie als Herrschaftsinstrument reduziert sich auf die Wahl von leicht zerfallbaren kurzfristigen Bündnissen, die im Sinne des Spektakels unorganisiertes Stegreif-Theater aufführen mit der Tendenz zur Verrohung. Der Bürger als Mitwirkender in einem nationalen Passionsspiel.  Das kann den Auftrag nicht erfüllen und wird auch den von Freud diagnostizierten Konflikt nicht bewältigen können. Der Triebverzicht den moderne Gesellschaften abfordern wird immer und konstant von Neurosen und Psychosen begleitet werden. Der Beitrag der schönen Künste zur Linderung psychischer Leiden ist bekannt und wird in der Therapie auch eingesetzt. Taugen die schönen Künste auch als Gesellschaftstherapeutikum? Anders gefragt: Sollten die Künste wirklich noch schön sein? Aber was dann? Sind sie mehr als ein wenig Honig für den kratzenden Hals? Kultur ist alles, was wir haben und was uns Menschen auszeichnet. Man kann nicht gegen die Kultur sein, ohne zugleich gegen den Menschen zu sein. Es wird daher Zeit für eine neohumanistische Erneuerung im antipartikularistischen, universalen Stil. Was das wieder bedeutet, darüber denke ich dann weiter nach und verteidige derweil mein Präsenz-Defizit.

Rufen Sie einfach an unter

 

Arwed Vogel

++49 ( )8762 726121

 

oder

 

Bernhard Horwatitsch

017646130019

horwatitsch[at]gmx.at

...

 

oder

 

nutzen Sie unser

 

Kontaktformular.

Druckversion | Sitemap
© Literaturprojekt