Literaturprojekt
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Neue Streifschüsse

wann immer nötig (im Schnitt einer pro Woche)

 

schnell und aus der Hüfte geschossen

 

 

Streifschuss vom 31. Dezember 21

 

Anlass: Finale

 

So war das wirklich

 

Noch im 16. Jahrhundert wurde der Jahreswechsel nicht einheitlich gefeiert. Traditionell legte man den Jahreswechsel auf Ostern. Es war Karl IX. von Frankreich (zuständig für die Bartholomäusnacht) der den Jahreswechsel vereinheitlichte und willkürlich auf den 01. Januar festsetzte. Dadurch endete das Jahr 1566 (Edikt) das am 14. April begann bereits nach acht Monaten am 31. Dezember. So wurden September, Oktober, November und Dezember denen man im Namen noch die Zahlen 7, 8, 9 und zehn anmerkt zu 9, 10, 11 und 12., was widersinnig ist.

Wir feiern immer nur uns selbst und scheißen auf Objekte.

Streifschuss vom 15. Dezember 21

 

Anlass: Dort ziehen die Schiffe dahin, auch der Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen… (Psalm 104,26)

 

Das Totenschiff

 

Der Staat ist eine Maschine, ein gewaltiges und mit präziser Technik ausgestattetes, rationales Monster. Wir werden sehen, ob die Neuen sie bedienen können. Denn man kann so eine Maschine auch leicht kaputt machen. Sie ist so komplex und reagiert allergisch auf alles Irrationale. Aber diese Neuen sind so neu nicht. Die meisten von ihnen sind schon die letzten Jahre im Maschinenraum herum gestanden und haben den Staatstechnikern dabei zugeschaut, wie diese an Hebeln ziehen und Knöpfe drücken. Vor jedem einzelnen Maschinenhebel und Maschinenknopf steht nämlich eine Ansammlung von Spezialisten (schlicht Beamte genannt) die verhindern, dass ein politischer Holzkopf  mit seinem wirren Verstand an sie heran kommt. Die Spezialisten (die Beamten) haben allerdings einen gewissen Nachteil: Sie kennen nur ihren Hebel, ihren Knopf den sie bewachen und beschützen. Sie haben keinen Schimmer, wie die Maschine funktioniert, nicht einmal einen Überblick über die vielen anderen Hebel und Knöpfe die von anderen eingeschränkten Spezialisten bewacht und beschützt werden. Politiker sind nun die vom Volk gewählten Holzköpfe, die vor der Wahl versprochen haben, diesen oder jenen Knopf zu drücken, an diesem oder jenem Hebel zu ziehen. Das Volk wählte sie dafür. Nun stehen sie gelähmt vor den Spezialisten. Die Spezialisten schütteln ihre Köpfe, mahnen mit dem Zeigefinger. Der Staatsapparat läuft dann erst mal so weiter, wie bisher. Nach und nach tauschen die neu gewählten Holzköpfe die Spezialisten aus, gegen Spezialisten die eher die Meinung der Holzköpfe vertreten und so werden nach und nach ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und der eine oder andere Knopf gedrückt. Doch schnell merken die Spezialisten, dass der Staatsapparat aus der Nähe betrachtet ganz anders funktioniert als gedacht und nun ziehen sie verängstigt die Hebel wieder zurück und drücken die Gegenknöpfe, bis dann alles wieder so ist, wie zuvor. Im Allgemeinen und in den Zeitungen steht dann viel über dieses Hebel ziehen und Knöpfe drücken. Man nennt es dann das politische Feuilleton. Ist man – so wie der Kolumnist an dieser Stelle – längere Zeit auf der Erde und schaut sich dieses kuriose Treiben von außen an, dann erscheint einem das alles als recht komisches Marionettentheater. Denn hinter der großen Staatsmaschine stehen schwer reiche Männer deren Güte es die Maschine verdankt, dass sie funktioniert. Denn diese reichen Männer und Frauen (denn das ist immerhin ein wenig anders geworden) liefern das Geld für die Ersatzteile der Staatsmaschine. Es wäre alles schnell vorbei, wenn man das Finanzamt kaputt macht. Das Finanzamt ist der wichtigste und zentralste Maschinenraum des Staatsapparates. Dort sitzt nun ein kleiner populistischer Sonderling, Chef einer kleinen, populistischen Klientel-Partei. In den nächsten Jahren wird folgendes Bild aus diesem Teil des Maschinenraums zu uns dringen und das politische Feuilleton wird davon berichten: Mit den Händen ringende und nach Vernunft schreiende Spezialisten stürmen aus dem Finanzamt und die große Angst geht um, dass dieser Teil der Maschine, das Herzstück der Maschine zerstört werden könnte. Dann wird man den kleinen Sonderling aus dem Amt jagen und alles wird wieder so sein wie früher. Wir werden uns den Angstschweiß von der Stirn wischen und weise mit den Köpfen nicken. Wir wussten es schon jetzt. Oder alles geht ohnehin den Bach runter und die von mir beschworene Maschine ist sowieso schon jetzt nur noch die Karikatur einer Maschine. Auch das könnte sein.  Dann wäre all das Hebel ziehen und Knöpfe drücken nichts weiter als eine Art Truman-Show für die „normalen“ und die „einfachen“ Leute von denen gerne mal gekalauert wird.

 

Streifschuss vom 09. Dezember 21

 

Anlass: Neuer Ältestenrat wurde gewählt

 

Alt werden lohnt sich noch

 

Gestern hat sich das größte autonom geführte Altenheim Deutschlands einen neuen Chef gewählt. Okay. Das ist jetzt nicht der Wahnsinns-Gig. Aber immerhin. Es ist ein echt großes Altenheim und es leben noch eine Menge rüstiger Rentner und Renterinnen darin. Sie haben einen großen Vortragssaal, eine hübsche Bibliothek und einen monumentalen Empfangsraum. Der steht wohl leider leer. Aber ein echt beeindruckendes Bild von Anselm Kiefer hängt dort, das der Künstler der Dichterin Ingeborg Bachmann gewidmet hat. Ein mächtiger Lehmziegelturm, der an einem babylonischen Tempelturm, einen Zikkurat, erinnert. Und die Gedichtzeile: Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang vor Augen.
Im Innenhof des Altenheims liegen zwei wunderschöne Bodenskulpturen des Konzeptkünstlers Ulrich Rückriem. Sogar ein Baselitz hängt an der Eingangshalle, im Treppenhaus des Altenheims: Friedrichs Melancholie hängt links und rechts hängt dann Friedrichs Frau am Abgrund. Das soll wohl die Bewohner des Heimes daran gemahnen, dass sie nicht mehr ganz so lange leben werden. Im Untergeschoß des monströsen Altenheims gibt es ein gewaltiges Archiv aus lauter Metallkästen die mit den Namen der bisherigen Altenheimbewohner beschriftet sind.  Von 1919 bis 1999 geht das Archiv. Dann wurde das alte Altenheim (was für eine Anapher!) ja umgebaut. Das sollte damals zum Symbol werden: Habt ein Herz für alte Leute! Das Heim stand früher mal in Bonn und jetzt in Berlin. Die alten Leute haben den Umzug zum Teil selbst mitgestaltet. Aber viele der Bewohner haben damals schon protestiert, weil das Heim ihnen zu groß wurde und ihre familiäre Atmosphäre doch etwas einbüßte durch die Erweiterung. Über 700 Bewohner! Das ist schon ein Menge Windeln, die da tagtäglich eingekotet werden. Sehr viel Insulin wird verspritzt und ganz viel Eintopf gegessen. Viele der Bewohner dieses Altenheims kennen ihren Chef nicht mal persönlich. Auch wenn das Heim sehr groß ist, haben sie ihre Autonomie behalten, führen sich selbst und schaffen es fast alleine. Nur hin und wieder kommen Betreuer aus Brüssel und gucken nach, wie es den alten Leuten geht. Im Großen und Ganzen schaffen sie es. Aber in der Umgebung des Altenheimes gibt es schon viele Anwohner, die sich sorgen, ob dort wirklich alles ordentlich verläuft, ob nicht der eine oder andere demente Bewohner seine Herdplatte anlässt und dann „wums“ explodiert das riesige Gebäude und das wäre schon heftig. Steht man –vor der Seuche durfte man seine Angehörigen dort ja noch besuchen – an einem der großzügigen Fenster des Dachgartenrestaurants des Altenheims, im Rücken eine Zeichnung von Christo, blickt man über die Dächer Berlins und sagt sich nicht nur leise: Alt werden lohnt sich noch.

 

 Streifschuss vom 01. Dezember 21

 

Anlass: Jeder will sein Lutschbonbon

 

Bis zum Ileus und nicht weiter

 

Das herrschende Dogma besagt: Wir leben in einer Demokratie. Was wir fühlen ist etwas anderes. Wir fühlen die Angst vor dem Verlust liberaler Freiheiten. Es ist wie mit der Sonne. Die Wissenschaft sagt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und dadurch nur der Eindruck entsteht, die Sonne ginge unter. Doch was wir tagtäglich sehen, ist das Gegenteil. Die Sonne geht offensichtlich unter. Niemand aber würde heute ernsthaft Kopernikus infrage stellen.
Also: Das herrschende Dogma ist eine liberale Gesellschaft in der die nationalen Anführer vom Volk selbst gewählt werden und daher auch die Gesetze vom Volk gestaltet werden. Nicht jeder macht sich seine eigenen Gesetze. Daher fühlen wir es nicht. Wir können dennoch wahrnehmen, dass nach der Wahl immer vor der Wahl ist, und unsere Anführer in der Politik nie mehr aus ihrem Wahlkampfmodus so ganz heraus kommen. Sie werben immer um ihre Wähler wie um eine heiße Braut. Grob gesagt kriechen uns die Politiker meistens so tief in den Anus, dass es uns wohl schon leichte Übelkeit verursacht. Wenn jemand heute behauptet, wir würden in einer Diktatur leben, dann muss die arschkriechende Politik bei ihm bereits einen heftigen Ileus verursacht haben, oder sie hängt ihm bereits zum Hals heraus. Wir fühlen die uns ständig umschmeichelnden, um uns werbenden Politiker schon wie kleine Tyrannen, die uns an jeder Ecke von einem Wahlplakat angrinsen und in ihr Parteibett holen wollen. Wir leben ganz sicher nicht in einer Diktatur. Die vielen kleinen Tyrannen in der Politik haben auf die Welt so viel Einfluss wie ein Kamel auf die Wüstenbildung. Auch wenn man es anders fühlt. Wir haben Redefreiheit und dürfen wirklich alles sagen, was unser Herz begehrt. Womit wir rechnen können ist, dass Unsinn zu reden und widerwärtiges Zeug von sich zu geben, bei dem einen oder anderen empfindsamen Menschen zu Gegenreaktionen führt. Man nennt das ganz altmodisch „diskutieren“. Und das tun wir im Exzess. Kein einziger Fernsehabend vergeht ohne eine „Talkshow“, alles, wirklich alles wird beredet. Und das ist auch völlig in Ordnung. Das ist ein Kennzeichen für eine sehr lebendige Demokratie. Denn jedes Gefühl wir lebten hier in einer Diktatur, widerlegt sich in der vitalen Realität mit der unsere Demokratie tagtäglich sich selbst äußert. 
Und noch ein paar Worte: Wir leben nicht nur in einer sehr lebendigen Demokratie (in der wirklich alles diskutiert wird und wirklich jeder zu Wort kommt), wir leben auch in einer äußerst üppigen Welt im Vergleich zum Beispiel mit Somalia, die einen Welthungerindex über 50 haben (auf einer Punkteskala von 0-100, hat Deutschland eine 0 und Somalia 50,8 Punkte). Wir finden – wie zuvor dargelegt – in Deutschland bequeme Gesetze vor, leben im Großen und Ganzen in einem vorsorgenden und vernünftigen Staat, verfügen über fabelhafte Apparate, eine außergewöhnliche Technik, über heilkräftige Medizin und genießen eine vorzügliche und institutionell verstetigte Gesundheitsversorgung. Anscheinend wissen wir nicht mehr, wie schwer es ist diese Medizinen, diese Apparate, diesen Staat, diese Gesetze zu erfinden, herzustellen und für die Zukunft weiter zu sichern. Wir sind ein parasitäres, alles als selbstverständlich ansehendes und fürchterlich zynisches Volk geworden, das sich aufführt wie ein kleines Kind, weil es das bunte Lutschbonbon nicht bekommt. Natürlich! Auch ich bestehe auf dem Lutschbonbon. Jeder hat Anspruch darauf und die ganze Welt wird bald in dem Verpackungsmaterial unserer Lutschbonbons ersaufen und am Bonbon selbst ersticken. Vielleicht brauchen wir wieder eine Diktatur? Ist die Demokratie schon ein auslaufendes Luxusmodell des Daseins? Ist die Zivilisation am Ende und die Impfgegner sind die ersten Wilden unter uns? Ich weiß es nicht. Ich bin nur ein Zyniker und ein Rhetoriker, der in seinem Münchner Appartement sitzt und schlau daher redet. Klar. Das ist mein persönliches Lutschbonbon. So what?

 

 

Streifschuss vom 27. November 21

 

Anlass: Was sowieso keiner hören will, passt an dieser Stelle gut

 

Vorsicht! Nicht lesen.

Dieser Text könnte tödlich sein

 

Im Jahr 2020 starben nach der Statistik des RKI 47.000 Menschen an einer Infektion mit Covid-19.  Davon starben 40.000 Menschen unmittelbar daran und die anderen bekamen durch dieses Virus den letzten Todesstoß. Insgesamt verstarben im gleichen Jahr in Deutschland ca. 980.000 Menschen. Allein 250.000 davon hat der Krebs dahin gerafft und 10.000 haben den Tod selbst herbeigeführt. Über 300.000 Menschen hatten Herz-Kreislaufprobleme und hatten vermutlich mit der Hitze mehr Probleme, als mit der Todesdrohne Nummer eins. Gut 40.000 Menschen starben an einer akuten Vergiftung durch Pilze, Drogen, Gas (zum Beispiel Kohlenmonoxid), Tabletten (zum Beispiel Paracetamol), Schwermetalle, verdorbenem Fisch, ungewaschenem Gemüse. Knapp 2.000 Menschen sind im Mittelmeer ertrunken.
Nein. Das waren keine Badeurlauber.
Und 32 Menschen starben 2020 sogar ein einer Ohrenerkrankung und des Warzenfortsatzes (an Fisteln oder Karies). Leben ist lebensgefährlich.
So viel zur Statistik. Seit zwei Jahren werden täglich Statistiken veröffentlicht, die Tagespresse ist voll mit Todesgrafiken. Doch die häufigsten Todesursachen bleiben weiterhin unerwähnt. Die letzten hundert Jahre wurde der Tod verdrängt. Es erschien beinahe unanständig, zu sterben. Insofern hat das Virus, hat die Seuche eine katalytische Wirkung auf unsere Gesellschaft und zeigt uns die Grenzen unserer Todesverachtung. Die täglichen Corona-Statistiken und ihre Angst verbreitenden Journalisten tragen weiter zur Verdrängung bei. Niemand möchte sich noch damit beschäftigen. Niemand mehr kann das C-Wort noch hören. Die Journalisten wirken wie Aasgeier, die über unsere Toten kreisen. Und die Gesichter von Wieler und Drosten werden einst zur Allegorie des Todes.
Wir sterben! Alle! Manche schon heute, andere morgen. Kein Grund zur Panik. Wir leben ja noch. Und als Lebende ist es uns nicht möglich, uns tot vorzustellen. Denn für jede Art von Vorstellung braucht man ein Bewusstsein und als Toter fehlt genau dies. Uns Lebenden ist lediglich bewusst, dass wir sterben und Statistiken sagen uns da nichts. Die grassierende Seuche macht uns Angst. Wir sollten auch Angst haben. Aber auch vor Krebs. Oder vor Zucker. Ja. Einer der häufigsten Todesursachen ist immer noch der Zucker. Niemand hat ernsthaft vor Zucker Angst und bricht in Panik aus, wenn die Kellnerin einen Zuckerspender auf den Kaffeetisch stellt. Wäre aber vernünftig. Auch das Virus hat es bei einem dicken Pink-Puffer leichter. Zucker ist ein scharfer Kristall, der mit seinen harten Kanten die zarten Arterienwände aufschneidet. Überzuckerte und denaturierte Fertignahrung führt zur Insulinresistenz und der Zucker bleibt in der Blutbahn, zerschneidet die winzigen Arteriolen die unsere Augennetzhaut mit Blut versorgen. Wir bekommen Schlaganfälle, werden blind, uns faulen die Gliedmaßen ab und wir sterben einen qualvollen und widerwärtigen Tod. Danke Nestle, danke Mars, danke Kapitalismus. Wir haben viele Seuchen in unserer Gesellschaft und es gibt keinen Grund zur Hoffnung. Wir werden alle sterben. Wir werden vermutlich jämmerlich, qualvoll und unter brüllenden Schmerzen schlimmer als wir es uns vorstellen können unter Höllenqualen zugrunde gehen. So viel zum Ende des Dante-Jubiläumsjahres. Aber alles kein Grund zur Panik. Wir leben ja noch. Wir leben. Hurra. Also lasst uns gemeinsam die Seuche verbreiten, fahren wir herum in der Welt, gehen wir auf Massenveranstaltungen, lasset uns feiern und das Leben genießen. Wir sterben eh. Und mit etwas Glück früher als gedacht. Wozu sich impfen lassen? Ein Hoch auf die Barbaren.

 

Streifschuss vom 23. November 21

 

Anlass: Die wenigstens lernen freiwillig etwas

 

Massenmenschhaltung

 

Vor knapp hundert Jahren beklagte sich einmal der Spanier Ortega Y Gasset, dass seit Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ nichts mehr über die Dummheit geschrieben worden sei, denn – so Y Gasset – die Seiten von Erasmus tun dem Gegenstand nicht genug. Über die menschliche Dummheit sind uns meistens Bonmots überliefert wie die von Anatole France. Er war der Ansicht, die Dummheit sei sogar schlimmer als die Bosheit, denn die Bosheit setze wenigstens hin und wieder aus. Und da hatte er Recht. Denn die Bosheit ist mit lebenslanger Anstrengung verknüpft und gelegentlich ist selbst der inspirierteste Bösian einmal müde, während der Dumme keinerlei Anstrengung fühlt während seines Dummseins und folglich sein ganzes Leben damit zubringt dumm zu sein, ohne dabei je zu ermatten.
Doch vielleicht hat sich nie jemand so recht getraut über die Dummheit der Mehrheit zu schreiben, weil es einen verdächtig macht. Robert Musil hielt 1937 in Wien einen Vortrag über das Problemfeld und beginnt diesen so:  „Einer, so sich unterfängt, über die Dummheit zu sprechen, läuft heute Gefahr, auf mancherlei Weise zu Schaden zu kommen; es kann ihm als Anmaßung ausgelegt werden, es kann ihm sogar als Störung der zeitgenössischen Entwicklung ausgelegt werden. Ich selbst habe schon vor etlichen Jahren geschrieben: Wenn die Dummheit nicht dem Fortschritt, dem Talent, der Hoffnung oder der Verbesserung zum Verwechseln ähnlich sähe, würde niemand dumm sein wollen.

Von der Masse der vorzüglich Dummen lebenslanges Lernen zu fordern ist so absurd, als würde man von einem Blauwal das Fliegen fordern. Die Masse der Menschen heißt nicht so, weil sie so zahlreich ist, sondern weil sie so träge ist. Es wird ihr nie gelingen, sich zu bewegen, wenn nicht eine Notwendigkeit dies fordert. Insofern überrascht der Widerstand gegen die Impfungen nicht sonderlich. Eher überraschte mich die allgemeine Bereitschaft der Masse, sich impfen zu lassen ohne  gesetzlichen Zwang.  Wir Menschen verfügen über einen gewissen Vorrat an Vernunft. Die meisten von uns vermissen darüber hinaus nichts und richten sich daher mit diesem kleinen Vorrat an Vernunft, an Ideen im Leben ein. Danach verschließen sie ihren Kopf und verharren in diesem geistigen Zustand bis zum Tode. Der Werbespruch der Volkshochschulen (lebenslanges Lernen) richtet sich nicht an einen ganz bestimmten Menschen, sondern an uns Menschen allgemein. Der Adressat des „lebenslangen Lernens“ ist also die Allgemeinheit, die Masse. Diese allgemeinen Menschen aber haben sich längst verschlossen und so prallt der Spruch an ihnen ab, wie ein Gummiball an einer Wand. Es gibt noch nicht einmal einen großen Widerhall. Denn Lernen ist für die Masse ein Vorgang, den sie längst vollzogen haben. Was sie dann noch tun – und was dumme Menschen immer tun, weil sie das keine Kraft kostet – sie spielen das Lernen, ohne je dazu zu lernen. Kinder sind dagegen wirklich offene Wesen. Sie können sich gar nicht so verschließen, wie Erwachsene es tun können. Kinder würden in so einem verschlossenen Zustand jämmerlich zugrunde gehen. Daher können sie auch besser lernen und nehmen alles was man ihnen hinwirft begierig auf. Doch sie bleiben keine Kinder, denn man fordert von ihnen das Gegenteil. Benimm dich, sei vernünftig, ist das Mantra der Erwachsenen gegenüber den wissbegierigen Kindern. Denn Erwachsene sind bereits vernünftig. Sie können hier und wollen hier nichts mehr dazu lernen. Sobald Kinder also vernünftig geworden sind, lernen sie nichts mehr dazu. Wie auch, da ja ihre Vernunft bereits vollzogen ist. Die Masse der Menschen ist so völlig unzugänglich, denn ihr Horizont ist begrenzt und was über diesen Horizont hinausgeht erscheint ihnen absurd. Da sie sich mit ihrer kleinen Menge an Vernunft und Ideen vollkommen fühlen, erkennen sie ihre eigene Narrheit nicht. Der Weise ertappt sich oft nur zwei Finger breit vor einer Torheit und beklagt seine eigene Unvernunft. Der Einfältige hält sich für gescheit und kommt mit seinem armen Geist vollkommen aus. Diese Narren brauchen nicht mehr Vernunft zum Leben und werden nur durch bittere Notwendigkeit zu mehr gezwungen.
Unter unseren Anführern gibt es zwei Formen des ducere. Die einen führen, indem sie sich der Masse anschließen und nach ihrem begrenzten Horizont ausschauen. Sie täuschen die Masse, umschmeicheln sie populistisch und rauben sie dann im besten Falle aus. Die anderen versuchen, die Masse über ihren Horizont zu treiben. Sie ermahnen sie ständig und peitschen sie voran, brüllen sie zuweilen unbeherrscht an, denn diese Art des ducere lässt sich nicht ohne Zwang ausüben. Diese letztere Form des ducere wird von der Masse abgelehnt. Man nennt sie dann verächtlich Diktatoren oder Tyrannen. Doch die Masse ist nicht nur dumm, sondern auch träge. Daher lassen sie sich nur behäbig von Tyrannen anbrüllen und zwingen. Dumm und träge kauern sie auf ihrer kleinen Vernunftweide. Das liegt in der Natur ihrer Erscheinung. Und ein störrischer Esel wird schwerlich klein beigeben. Daher lohnt sich der Einsatz von Leckereien, von Zuckerbrot und Peitsche. Ein Jammer dass das so ist.

 

Streifschuss vom 13. November 21

 

Anlass: Und er fragte ihn: Was ist dein Name? Und er spricht zu ihm: Legion ist mein Name, denn wir sind viele.

 

Et tu sancte et pie Deus incomprehensibilis in omnibus, quae sunt sancta et bona

 

Gestern bin ich auf dem Weg zu Radio Lora (wir machten einen Musil-Abend) zwei alten Dämonen begegnet. Kalter Schauer lief mir über den Rücken (es gibt noch keine bessere Metapher dafür) bei ihrem Anblick. Das versaute mir den restlichen Abend.  Als wären sie echte Menschen flanierten sie einfach so die Schwanthalerstraße entlang, blieben kurz stehen und der Sukkubus sagte etwas zum Inkubus, dann blickten sie in ein Schaufenster. Ich duckte mich und huschte rasch an ihnen vorbei. Da war auch schon die Tür zu Radio Lora, ich musste mich leicht bücken zur Klingel, es summte und schon schlüpfte ich durch die große Tür der Altbauwohnung. Meine Gabe Dämonen sehen zu können, wünsche ich niemandem. Für andere waren diese beiden ekelhaften Gestalten nur weitere Passanten. Ich sah sie, konnte sie sehen,spüren, riechen. Es ist schon eine Weile her, seit ich den letzten Dämon gesehen hatte. Umso schockierter war ich darüber. Heimtücke und Hinterhältigkeit, Verrat und Lüge, schamlose Wollust und unverdeckte Eitelkeit konnte ich sofort in ihren Fratzen wahrnehmen. Sie waren Monster und selbst in unseren Alpträumen waren sie der niederste Abschaum. Und da schlenderten sie wie ein Paar die Straße entlang und spielten Mensch. Sie hatten mich nicht gesehen, hoffe ich zumindest. Ich bin noch immer geübt darin, ihnen auszuweichen, mich ihren widerwärtigen Fängen zu entziehen. Dass ich ihre Wut und ihre Gier im Nacken spürte, als ich durch die Tür schlüpfte, war vielleicht nur Einbildung. Aber wären sie nicht auf mich losgegangen, hätten sie mich erkannt? Oder hatten sie mich doch erkannt und im letzten Augenblick die Auseinandersetzung gescheut, oder ich war zu schnell durch die Tür, und nun geiferten sie hilflos vor der verschlossenen Türe stehend mir nach? Als ich auf der roten Couch saß und auf die Reihe der Monitore blickte, hörte ich mein eigenes Herz schlagen. Ich konnte niemandem sagen, auch nicht Sophie, was ich gerade erlebt hatte. Sie würden mir alle nicht glauben. Was für mich alte Dämonen waren, das waren für sie nur vergangene und verblasste Erinnerungen. Die Legion verstand es gut, sich zu tarnen und zu verbergen und die Menschen zu täuschen. Ich kannte niemanden, der sie sehen konnte, die Dämonen. Ich aber kannte sie, sah sie und bekämpfte sie. Ganz allein mit meinem Geist. Sobald es dunkel wurde, krochen sie aus ihren Löchern. Dieser Sukkubus mit seiner spitzen Nase und dem strengen Mund. Er hatte etwas von einem Habicht, einem Geier. Ein Raubvogel. Säuerlicher Geruch strömte von ihm. Und der Inkubus hatte seine Haare dunkel gefärbt, wolliges, raues und struppiges Haar, ein Gesicht wie ein Kobold. Einst hatte sie rote Haare. Sie versteckten sich, tarnten sich, maskierten sich. Aber es nutzte ihnen nichts. Ich erkannte sie und hatte großes Glück, von ihnen nicht erkannt zu werden. Denn auch ich hatte mich verändert. An diesen Vorteil denkend, dass ich sie erkannt hatte und sie mich nicht und nicht einmal dass irgendwer sie eben erkannt hatte, beruhigte mein Herz und passte den Schlag wieder der ruhigen und fast meditativen Studioumgebung an. Dann kam auch schon Sophie und schob mit ihrer lebendigen Art alle dämonischen Schatten beiseite. Nach der Sendung schlich ich nach Hause. Schwarzer Nebel warf seine öligen Schleier in die Nacht. Ängstlich blickte ich mich noch öfter nach den Dämonen um. Doch sie waren wieder in die Vergangenheit zurück gehuscht, in ihre eigene Hölle gekrochen. Mögen sie dort verrotten, dachte ich zornig. Doch ich weiß, dass man Dämonen nicht mit Zorn, sondern nur mit Sanftmut und Geduld los wird. Demütig beruhigte ich meinen Schritt und dankte daher  Gott für die Lehrstunde, die mir noch einmal Gesichter bescherte. Wie ein Abschied und letzter Gruß vergangener Tage lösten sich die dämonischen Gestalten vor meinem geistigen Auge in nichts auf. Naja. Ein wenig Furcht blieb mir schon. Und es ist wohl auch gut, sich nie ganz sicher zu sein. So bleibt man wachsam und hat stets sein Feuer bei sich, um diese Dämonen jederzeit bekämpfen zu können.

 

Streifschuss vom 17. November 21

 

Anlass: eine Geschichte des Klimas

 

Wer an allem zweifelt, muss glauben (oder daran glauben / hihi)

 

„Tradition ist bis auf den letzten Rest entflohen. Vorbilder, Normen, feste Formen nützen uns nichts. Wir haben unsere Probleme – seien sie künstlerisch, wissenschaftlich oder politisch – ohne die tätige Mitarbeit der Vergangenheit in voller Gegenwart zu lösen.“ So schrieb es im Jahr 1929 der spanische Intellektuelle José Ortega Y Gasset in seinem berühmten Essay „Aufstand der Massen“. Und dieser Satz trifft auch heute noch einen besonderen Nerv. Wir stehen vor der herkulischen Aufgabe nichts weniger als die gesamte Erde vor dem drohenden Untergang retten zu müssen. Dafür gibt es kein historisches Vorbild. Unser Weltklima entgleist mehr und mehr und Ursache dieser drohenden (und schon existierenden) Katastrophe ist die Ignoranz und die Arroganz der Masse. Das Klima, oder enger definiert „das Wetter“ (IPPC) war uns immer schon scheißegal, solange die Sonne schien. Das Wort „Klima“ stammt aus dem altgriechischen κλίνειν für neigen, krümmen. Das betraf bzw. betrifft die Sonnenneigung. Das Klima bezieht sich nicht auf die Ekliptik, den Neigungswinkel der Erde, sondern auf ihre Kugelform. Früher nannte man das den Himmelstrich, die berühmten Wendekreise. Wenn die Sonne senkrecht über dem Wendekreis der anderen Erdhälfte steht, beginnt der Winter und wenn sie senkrecht über der eigenen Erdhälfte steht, der Sommer. Das Klima sorgt für entsprechendes Wetter und wir nehmen Witterung auf. Es gibt ein Mikroklima und ein Makroklima. Es gibt Klimazonen. Und wir haben ein Klimasystem, das sich aus fünf Sphären zusammensetzt. Wir haben Klimaelemente, die man gut messen kann wie Feuchtigkeit, Temperatur, Druck, Dichte und Geschwindigkeit der Luft.
Wir haben inzwischen eine kleine Geschichte des Klimawandels. So entdeckte der Astronom Wilhelm Herschel bereits im Jahr 1801 einen Zusammenhang zwischen einer geringeren Anzahl der Sonnenflecken und schlechten Weizenernten und er beschrieb eine kleine Eiszeit für die Jahre von 1650 bis 1800. Immerhin ein hübscher Stimmungshintergrund für die barocke Epoche, die in diese kleine Eiszeit fällt und deren Vanitas-Verliebtheit. Das Gefühl der Vergänglichkeit war die führende Empfindung während dieser kalten Jahrhunderte. Als es dann wieder etwas wärmer wurde, dachte sich ein Polizisten-Sohn aus Irland er könnte doch mal das Nachbarhorn des Matterhorns, das Weisshorn (immerhin 100 Meter höher) besteigen. Das war 1861 und dort hatte er offenbar etwas gesehen, gefühlt, erfahren. Denn ein Jahr später beschrieb er erstmals den natürlichen Treibhaus-Effekt:  „So wie ein Staudamm ein lokales Anschwellen eines Flusses bewirkt, so erzeugt unsere Atmosphäre, die als Barriere für die von der Erde kommende Strahlung wirkt, einen Anstieg der Temperaturen an der Erdoberfläche.“
Es dauerte eine weitere Generation, bis der Sohn eines Landvermessers, der Schwede Svante August Arrhenius im Jahr 1896 als erster von einer globalen Erwärmung sprach und dies in einem Zusammenhang mit Kohlenstoffdioxid, das für große Temperatursprünge sorge. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das erste Konzept für Klimaerwärmung aus dem kalten Schweden stammt.
Es dauerte wieder mehrere Jahrzehnte, bis ein englischer Ingenieur die globale Erwärmung nachwies und feststellte, dass die Zahlen nicht auf eine natürliche Erwärmung zurückzuführen seien. Im Jahr 1938 veröffentlichte er einen Artikel in dem er bewies, dass die Menschheit während der vergangenen 50 Jahre 150.000 Mio. Tonnen Kohlendioxid emittiert hat, und errechnete daraus eine jährliche globale Erwärmungsrate von 0,003 °C.
Das war also 1938. Heute spricht man hier vom Callendar-Effekt, denn so hieß dieser englischen Ingenieur, Guy Stewart Callendar.
Trotz weiterer Warnungen in den 1950ern und 1960ern (davor waren wir vor allem damit beschäftigt uns gegenseitig tot zu schlagen – auch eine Klimalösung) kam es erst 1979 zur ersten Weltklimakonferenz.
Vor einigen Tagen ging nun die 26. Konferenz in Glasgow zu Ende.  Ausgerechnet der britische Premierminister Boris Johnson bezeichnete die Konferenz als „letzte Chance“ für eine gemeinsame Klimaschutz-Politik – bei einem Scheitern „scheit’re alles“, es sei „eine Minute vor Zwölf“. Zuvor war dieser Mann mit der von Wind und Wetter zerzausten Frisur bereits aus dem europäischen Projekt ausgestiegen und er verströmte die Glaubwürdigkeit eines veralteten Diesel-Motors bei seinen Panik-Worten.
Ich möchte aber nicht auch noch Panik verbreiten, indem ich auf unfähige Politiker hinweise, deren Uhren offensichtlich falsch gehen – denn es ist bereits fünf Minuten nach zwölf, glaube ich. Nein, ich möchte noch einmal abschließend den Geist der Tradition aufrufen, den Ortega Y Gasset bereits vor fast 100 Jahren entflohen sah. Vor 2.400 Jahren lebte in der Provinz Izmir der Begründer der akademischen Skepsis. Arkesilaos sagte vor so vielen Jahren schon den Satz aller Sätze: Nichts ist sicher und nicht einmal das ist sicher.
Der schottische (wegen Cop26 und Glasgow passend) Philosoph David Hume meinte einmal, dass wir nicht einmal Gewissheit darüber haben, dass morgen die Sonne aufgeht. Er nannte diese Haltung „Fallibilismus“. Und doch habe ich genau das (den Sonnenaufgang) nun bereits über 20.000-mal erlebt und halte es für sehr, sehr wahrscheinlich, dass sie morgen auch aufgehen wird. Also im metaphorischen Sinn, denn die Sonne geht nicht auf, sondern die Erde dreht sich zu ihr hin. Aber das tut sie. Das alles könnte ich genauso gut bezweifeln und dann bliebe mir als letzte Gewissheit nur mein Zweifel selbst, den ich (so René Descartes einst) nicht anzweifeln kann. Mein Vater, der heute 102 Jahre alt werden würde, sagte es treffender als alle Philosophen der Welt es könnten: Egal wie man sich dreht und wendet, der Arsch bleibt immer hinten.
Wer daran zweifelt, der glaubt aber auch alles.

 

Streifschuss vom 11. November 21

 

Anlass: verkriecht euch endlich wie früher in die letzen Winkel - ihr alten Deppen

 

Frau Heidenreich ist cringe

 

Viel wurde in letzter Zeit über die ekligen alten weißen Männer geredet. Es wird daher Zeit, über die ekligen alten weißen Frauen zu reden. Zum Beispiel Elke Heidenreich. Im Oktober äußerte sie sich in der Talkshow von Markus Lanz über die Sprecherin der jungen Grünen Sarah Lee Heinrich wie folgt: „Was sind alle immer sofort beleidigt? Um mal bei diesem Mädchen zu bleiben: Sie hat überhaupt keine Sprache. Sie kann nicht sprechen. Das sind Kinder, die nicht lesen. Das ist diese Generation, von der ich immer wieder merke, wie sprachlos sie ist, wie unfähig mit Worten umzugehen.“
Nun verteidigte sie diese rassistische, kleingeistige und oberlehrerhafte Äußerung in geschichtsvergessener Bravour in einem Interview für die NZZ.
 Früher, so Frau Heidenreich (schon dieser Name hat was vom Antichrist), sei man gebildeter gewesen, habe kritisch gedacht. Heute dagegen pflege man eine Kultur des Beleidigt seins. Ihre Heidenreichigkeit sagte es so: „… wir hatten eine andere Kultur, eine andere Bildung und andere Absichten. … Das war die Zeit, wo wir alle in das Alter kamen, unsere Eltern zu fragen: Was habt ihr im Zweiten Weltkrieg gemacht? Als die Dinge endlich aufgearbeitet wurden, wir uns von Obrigkeiten, die eventuell darein verwickelt waren, nichts mehr sagen ließen. Heute ist das so, dass wir eine hysterische Beleidigt-Kultur haben. Das heißt, jeder, der nicht sofort in jedem Satz mitbedacht wird – schwarz, einbeinig, blind, taubstumm, Migrationshintergrund, was weiß ich: bisexuell –, ist beleidigt, weil er in diesem Satz nicht erwähnt wurde. …Diese Betroffenheitskultur finde ich völlig falsch.“
Diese von Elke so gefeierte 68er-Zeit war in Wirklichkeit eine Zeit der charakterlosen Indoktrination. Eine Bande Verrückter ermordeten regelmäßig Politiker und akzeptierten in ihrem paranoiden Systemkampf auch zivilen Kollateralschaden. In den Verbänden herrschte Meinungsdiktatur und niemand durfte etwas gegen Marx und Lenin sagen. Außer er war bei der CSU angestellt, dort durfte man Marx und Lenin nicht einmal erwähnen. Kurz: Eine diskursfreudige Demokratie war das in dieser Zeit hinten und vorne nicht. Wenn man sich eine Bonner Bundestagssitzung ansieht und diese nach Zigarrenqualm und altem Männersmegma stinkende Brut, dann ist es wirklich sonderbar, dass eine Frau diese Zeiten verherrlicht und eine anständige Zeitung wie die NZZ das auch noch abdruckt. Ach Heidenreich, auch das Reich in der Heide spricht für sich – was für ein Röslein. Eine alte Frau, weiß, privilegiert und völlig zu Unrecht eine Art Literaturpäpstin (ihr Literaturgeschmack pflegt eher guilty pleasures zu präferieren), eine solche Schwätzerin wirft noch einmal ihren Mangel an Charme in die mediale Waagschale und wird dann mit einem großen Puff wie aus dem Zauberlehrling verschwinden, oder sich in ein weißes Kaninchen verwandeln. Ich hoffe es zumindest. Denn ich kann diese neurotische Abwehr gegen eine neue geschlechtsneutrale Sprachsensibilität nicht mehr anhören. Wenn hier jemand nicht sprechen kann, dann ist das doch Frau Heidenreich, die welke Elke, die welche nicht mehr mitkommt mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Daher bin ich hier mal ganz politisch unkorrekt und bezeichne die alte, weiße Frau Heidenreich als Sprachglucke – da sie mit ihren Fusselhaaren schon ein wenig an eine täglich Eier legende und gackernde Kreatur erinnert. Tut mir leid. Echt. Ich bin ja auch keine Schönheit und das ist auch gar nicht nötig. Aber dennoch: ist ein wenig Demut zu viel verlangt? Denn niemand opfert mehr der Gottheit ihrer Pracht, ist doch ihre Sprache teils nichts und nichtig geworden und erreicht lange nicht mehr den Glanz früher Tage. Das Vorrecht der Jugend ist es von jeher lauter sein zu dürfen. Wenn aber nun alte weiße Frauen, laut schreiend durch die mediale Landschaft stampfen, dann empfinde ich Scham. Während die einen Frauen verzweifelt dem alten Glanz ihrer Jugend nachtrauern, betreibt Frau Heidenreich Geschichtsklitterung vom Feinsten. Die gute alte Zeit, die sie beschwört war ein Haufen aus Schweinen und diskriminierte nach Herzenslust. Als wäre das Bedürfnis nach einer besseren Sprache nicht auch ein Bedürfnis nach einem besseren Stil. Frau Heidenreich ist cringe.

 

Streifschuss vom 04. November 21

 

Anlass: Ein Schuss auf die Kultur

 

Wie braun ist grün?

 

In der Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. Und dass es mit dem Tode Ernst sei, ließe sich schon daraus abnehmen, dass es mit dem Leben, wie jeder weiß, kein Spaß ist. Wir müssen wohl nichts Besseres, als diese beiden, wert sein. So schrieb es Schopenhauer in seinen Todesreflexionen (im Band II der Welt als Wille und Vorstellung) nieder.
Erst ein freudloses und hoffnungsloses Dasein, bedroht von Armut, Hunger und Elend. Dann ein langsamer Tod unter Schmerzen, Atemnot, Selbstekel und einsam in der Abstellkammer eines städtischen chronisch unterfinanzierten Altenheims. Trotz der zehn Milliarden Dollar, die unsere fürsorglichen Regierungen weltweit für die Gesundheit ausgeben, klappt das noch immer nicht. Acht Milliarden Menschen und zehn Milliarden Dollar, also locker eine Milliarde pro Kopf und Jahr! Warum klappt das nicht? Warum muss ein Mensch so erbärmlich leben und noch erbärmlicher sterben? Wohin verschwindet all das Geld? Gegenfrage: Wo kommt es her? –Danke Herr Lindner für diesen nicht konstruktiven Beitrag . – Im Ernst. Das Leben ist kein Spaß und dann sterben wir auch noch, werden konsequent vernichtet! Mit dem Ergebnis: edite, bitite, post mortem nulla voluptas. Ab nach Malle und scheiß auf den Rest? Die Natur war nie, ist nicht und wird nie unser Freund sein. Unser Versuch ihr gerecht zu werden wirkt absurd. Auf jede einzelne Geburt kommt ein produzierter Neuwagen. Klimaneutral? Wird schwierig. Acht Milliarden Menschen wollen Kühlschränke, Fernseher, Computer, elektrische Zahnbürsten. Man kann die Natur verstehen, wenn sie uns zur Gegenwehr Überschwemmungen, Hitzewellen, Pandemien, Krebs und – für die Hochentwickelten unter uns – das metabolische Syndrom schickt. Jeder morgendliche Laubbläser belegt unsere Feindschaft mit der Natur. Und was ist Natur? Eine Art Gottheit. Und schon Homer sagte, dass allein die Wahrheit das einzige Mittel im Kampf der Sterblichen gegen die Götter sei.
Wenn der Mensch als Tier es also tatsächlich hinbekommt, seinen Planeten (seinen Wirt) zu zerstören, kann man ihn als eine Krankheit des Planeten einstufen. Und so wie die aktuelle Lage sich darstellt, stehen menschliche Erfindungen und menschliches Wohlbefinden in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Veränderungen auf der Erde, die dazu beitragen, dass alle auf dem Planeten lebenden Lebewesen gefährdet sind.
Der Mensch ist eine Bedrohung für alle anderen Tiere, eine Bedrohung für die gesamte Fauna und Flora des Planeten. Das lässt sich nicht wirklich abstreiten. Warum ist das so? Eine merkwürdige Frage. Manche Viren können nicht mit dem Wirt in verträglicher Symbiose leben und sterben so mit dem Wirt, indem sie ihn zerstören. Ähnlich zerstört auch der Mensch seinen Wirt. Der Mensch ist mutiert. Von einem harmlosen Säuger hin zu einem komplexen Geistwesen das mit seinen umfangreichen und blütenreichen Gedanken und Gedankenspielen nicht mehr mit seinem Wirt kompatibel ist. Der berühmte Soldat und Spion Albert Leo Schlageter sagte einmal das inzwischen unselig geflügelte Wort: Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Browning. Nun ja. Die Politiker, sagt der Mund des Volkes, tun ja nichts. Das stimmt so nicht. Und genau das ist das Beunruhigende (Hinweis an den Joschka Fischer für Liberale, Mi(ni)ster Habeck).
Als der Mensch noch in kleinen Gruppen auf der Erde umherstreunte und sich lediglich mit Knüppeln gegen die körperlich überlegenen Großtiere wehrte, war das Tier Mensch keine Gefahr für den Planeten. Inzwischen hat der Mensch mehrere Tausend Jahre Kultur auf die Natur gepackt und es erscheint uns so, als wäre fast nichts mehr natürlich aus sich selbst erwachsen im Sinne einer sich selbst erschaffenden Natur. Nahezu alles auf dieser Erde erscheint wie eine menschliche Schöpfung: gemacht und nicht geworden. Dieser Rundumschlag eines unaufhörlich Waren produzierenden Kapitalismus erdrückt jede natürliche Form des Gewordenseins. Die große Frage ist also, ob der Mensch eine Kultur erschaffen kann, die in Symbiose mit der Natur lebt ohne sie permanent durch Verdrängung zu zerstören. Eine Art Paradies mit Internetverbindung und elektrischem Rasiermesser? Halten Sie besser ihren Browning in Griffnähe.

 

Streifschuss vom 01. November 21

 

Anlass: Sinnsuche

 

Woher und wohin und wie?

 

Warum sind wir hier und vermehren uns wie die Karnickel? Wir wissen es nicht. Wir haben zwar zahlreiche Erklärungsversuche unternommen, um den Sinn des Lebens zu ergründen. Aber es waren eben nur Versuche. Daher haben die Philosophen und dann alle anderen Menschen es allmählich aufgegeben, den Sinn des Lebens zu ergründen. Die meisten von uns konzentrieren sich voll und ganz auf den Sinn ihres eigenen Lebens und sind damit mehr als beschäftigt. Fragt man mich jedoch nach dem Sinn meines Lebens, habe ich das ungute Gefühl, es wäre Hybris darauf zu antworten. Warum sollte ausgerechnet mein Leben irgendeinen Sinn haben, den vielleicht ein anderes Leben nicht hat? Das ergibt keinen Sinn. Wenn man über den Sinn wie über irgendeinen Sachverhalt nachdenkt, verhält sich die Sache vor dem denken anders als nach dem denken. Es ist tatsächlich eine Art Hinterher denken. Die Sache kommt einem hinterher anders vor. Es kommt zum Vorschein, was dahinter ist, aber was dahinter scheint nicht zum Vorist. Wenn ich darüber nachdenke, wie mir das vorkommt, was mir da beim Vordenken nachkommt, dann verstehe ich Walter Benjamins Einräumung, wir würden nicht mit der Sprache denken, sondern in der Sprache. Die Sprache ist oft selbst ganz sinnlos. Sie ist nicht so smart, wie die FDP das gerne hätte. So kommen wir oft nur ex negativo auf irgendeine Spur. Wir sagen „das ist sinnlos“, wenn jemand eine Tätigkeit ausführt die nicht zu einem erkennbaren Ergebnis führt. Wir bezeichnen es aber auch als sinnlos, wenn jemand ein Gedicht schreibt, oder überhaupt sich für irgendetwas schindet ohne Geld oder irgendeinen Preis dafür zu bekommen. Wozu die Anstrengung? Oder wir empfinden es als sinnlos, wenn sich jemand für etwas Gutes einsetzt, weil wir glauben, dass er das Ideal seiner Anstrengungen nie erreichen kann. Warum für den Umweltschutz engagieren? Die Menschen werden doch eh alles zerstören. Warum sich für die Armen engagieren? Es wird immer Reiche und Arme geben. Warum für den Frieden demonstrieren? Der Mensch wird immer Krieg führen. Und so weiter. Auch mit Kindern sind wir nicht gnädig. „Lass den Unsinn“, sagen wir zum Kind, wenn es etwas macht, das uns zu stören scheint. Dabei ist Unsinn anders als bei den Unkosten (oder der Unmenge), nicht mehr Sinn, sondern weniger. „Erzähl keinen Unsinn“, sagt man mir oft obwohl ich gar kein Kind mehr bin. Andererseits ist man im Werden immer auch noch ein wenig das, was man mal war. Also steckt in uns allen ein Kind, das gerne Unsinn macht oder wenigstens machen würde, wenn man es ließe. Unsinn verstößt gegen Normen. So schafft der Sinn ein normatives Verhältnis zum Leben. Es ist daher eine merkwürdige Unwissenheit, den Sinn des Lebens nicht zu kennen. Wir kennen die normative Grundlage von allem gar nicht. Alle unsere Regeln und moralischen Vorschriften sind im wahrsten Wortsinne aus der Luft gegriffen. Wir leben alle in einer normativen Enge des „Du darf dieses nicht und jenes nicht“. Vieles von dem was man nicht darf, macht Sinn. Aber warum?  Stehlen, morden und huren wird überall verurteilt. Andererseits fühle ich mich täglich von meinem Vermieter bestohlen, vom Finanzamt, von der Telekommunikationsgesellschaft, den Nahrungsmittelherstellern. Warum dürfen diese mich bestehlen und ich sie nicht? Warum muss ich mich auf dem Arbeitsmarkt (früher auch Sklavenmarkt genannt) zur Hure machen? Das ist nicht nur sinnlos, es ist sogar unmoralisch! Ausbeutung für ein paar reiche Arschlöcher, die sich dann intergalaktische Raumstationen bauen auf denen sie mit ihren scheißreichen Freunden sinnlose Partys feiern, während ich auf die nächste Überschwemmung warte?
Nestle darf mich sogar langfristig mit überzuckerten Nahrungsmittel umbringen, ohne bestraft zu werden. Das Leben ist sinnlos, weil es ungerecht ist oder ist es ungerecht, weil es sinnlos ist? Oder ist Gerechtigkeit eine Frage der Perspektive und für eine arme Socke wie mich ist das Nachdenken über Gerechtigkeit ein zu spät denken? Kann man beim Nachdenken nicht mehr hinterher kommen und ist das Denken dann ganz sinnlos? Macht es Sinn, hier herum zu sitzen und über Gott und die Welt nachzudenken ohne je auf ein vernünftiges Denkergebnis zu kommen? Ich könnte diese Zeit jetzt sinnvoll damit verbringen, Geld zu verdienen. Selbst schuld, statt reich.
Der Mensch verfügt über Sinne und es macht Sinn, Augen zu haben um die Welt zu sehen, Ohren um die Welt zu hören, eine Nase um die Welt zu riechen, Beine um durch die Welt zu gehen und Hände um die Welt anzufassen. Darüber muss man gar nicht groß nachdenken. Aber wie steht es um Blinde, Taube, Gelähmte? Ist ihr Leben jetzt sinnloser als meines? Nicht immer ist das, was einen Sinn macht auch ein Sinn. Handlungssinn, Bedeutungssinn, Verstehen. Eine Definition – sagte einmal Hans Jonas – kann Wissen nicht ersetzen. Definitionen sind für den Philosophen wie Klebstoff für den Bastler. Bei der Handarbeit mit Schere und Papier klebt man schnell mal was zusammen, was gar nicht zusammen gehört. Gelegentlich ist das Sinnlose aber schön und berührt so den Sinn. Ein Gedicht mag sinnlos sein, sobald es jemand mit Genuss liest, berührt es den Sinn. Was uns in den Sinn kommt, ist nicht immer sinnvoll und daher filtern wir vieles wieder aus unseren Sinnen heraus. Das macht Sinn. Niclas Luhmann sah im Sinn die ständige Aktualisierung von Möglichkeiten. Andererseits ist das Unmögliche gelegentlich sinnstiftend. Oder macht eine Utopie etwa gar keinen Sinn? In gut 50 Tagen beginnt die sinnliche Jahreszeit, die für einen Atheisten schlicht nur kalt ist. Leuchtende Kugeln auf Tannenbäumen ergeben gar keinen Sinn, aber die Stimmung die zur Weihnachtszeit in unseren Landen herrscht, möchte ich nicht missen. Auch wenn Jesus, der Weihnachtsmann, der Nikolaus und andere Fabelwesen nur abergläubischer Unsinn sind, sie berühren unsere Sinne. Wenn Unsinn Sinn macht und das Sinnlose unsere Sinne berührt, dann eröffnet mir die Sprache Räume und dies immer wieder, sogar nach tausenden von gesprochenen Jahren. Ein weiteres sinnloses Wunder.

 

Streifschuss vom 27. Oktober 21

 

Anlass: Eine Höhle ist eine durch natürliche Prozesse gebildete unterirdische Hohlform, die ganz oder teilweise von anstehendem Gestein umschlossen ist.

 

Höhlenträumerei

 

Über Jahre unterlag mein Verstand der irrigen Anschauung die Menschen würden sich dafür interessieren was ich denke, ihnen wären meine Meinungen und Ideen über die Welt von Bedeutung. Nun sind sie alle verschwunden, fortgegangen, haben mich verlassen. Und ich stehe alleine in einer Häuserschlucht meiner Stadt aus Träumen. Um nicht zugrunde zu gehen an meinem frustrierten Mitteilungsbedürfnis wandelte ich meine Gedanken in Referate um mit informativen Inhalten und fuhr in die Nachbarstädte. Ich sprach mit fremden Menschen in fremden Städten, weit entfernt von meinen Träumen. Was ich ihnen mitteilen konnte war etwas, das weit entfernt von meinen Gedanken, Meinungen und Vorstellungen in einer Illusionswolke verpackt, lediglich den Anspruch von Mitteilung korrespondierte. Ich spielte meine aus der Verzweiflung geborene Rolle aber so gut, dass ich diesen Verrat an meinen Träumen vor mir selbst verbarg. Doch immer wieder kehrte ich gegen Abend in meine verwaiste Stadt der Träume zurück. In der Abenddämmerung ging ich durch leere Straßen, blinde Fenster verweigerten mir Einblicke, die Geschäfte waren alle geschlossen oder ausverkauft. Hinter einem völlig leeren Mausoleum aus Stein ging die Sonne langsam unter, meine Träume schwebten wie traurige und vor Trauer wütende Geister durch die Gassen. Doch ihr Spuk machte niemandem Angst außer mir selbst. Ich wusste: am nächsten Tag würde ich diese kaputte Stadt wieder verlassen und in eine mir ganz fremde aber immerhin belebte Welt gehen. Dann träfe ich auf fremde Menschen mit fremden Gedanken. Denen würde ich zunicken und mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft würde ich meine eigene Fremdheit ihnen gegenüber zu verbergen suchen. Um mich mitteilen zu können, verzichtete ich auf den bedeutenden Teil der Mitteilung, auf mich selbst. Nein. Das klingt jetzt, als wäre ich nur ein Opfer. Denn ich täuschte diese Menschen, legte ihnen heimlich kleine Pakete mit meinen Vorstellungen und Ideen aus meiner Stadt der Träume vor die Haustür, klingelte und lief davon, wie bei einem Jungenstreich. Menschen sind von Natur aus neugierig, öffnen diese Pakete und dann springt ihnen eine Meinung, eine Idee ins Gesicht. Sie können sich waschen, mit einem Tuch das Gesicht abwischen, sich schütteln. Ein klein wenig von diesen Meinungen und Ideen bleibt an ihrem Gesicht für immer haften. So schlich ich in fremden Städten wie ein Partisan umher, verteilte meine Träume ganz heimlich. In meiner Stadt der Träume wurde es nun noch leerer. Die Geister spukten kaum noch, denn sie waren nun Migrationsgeister in fremden Städten. Zurück blieb bei mir die Unsicherheit, dass sie mir auf die Schliche kämen und meine Träume in Lager sperren würden, um sie entweder zu töten oder in meine Stadt der Träume zurückzuschicken. Und dann wusste ich nicht mehr, ob an dieser Brutalität der Menschen meine Träume eine Mitschuld traf. Ihr von meinen Träumen entstelltes Gesicht vor Augen! Waren sie nicht alle – zum Teil wenigstens - ein Produkt aus meiner Stadt der Träume? 
Um die Menschen dazu zu bringen, sich für meine Ideen zu interessieren, hatte ich sie ein wenig zu mir selbst gemacht, sie arglistig  mit meinen Träumen kontaminiert. Um diese Kontamination wieder loszuwerden, schufen sie nun Konzentrationslager für meine Träume, entwickelten ein tödliches Gas mit dem sie sich zuletzt nur selbst schadeten. War ich ihnen so fremd, dass sie mich derart hassen mussten? Oder war mein Bedürfnis mich ihnen ganz nackt zu zeigen eine Schandtat? War der eigentliche Sündenfall meine Verkleidung, um mich ihnen nähern zu können?

So zog ich mich zu guter Letzt wieder ganz in meine Stadt der Träume zurück, mit dem Vorsatz dort für immer zu bleiben und diese Stadt nur dann zu verlassen, wenn es absolut notwendig wäre.  Rein logistisch um Nahrung einzukaufen oder notwendige Dinge die ich nicht selbst produzieren könnte. Dieses halb autarke und verträumte Dasein eines postmodernen Troglodyten führe ich nun schon einige Jahre mit zunehmender Selbstsicherheit. Mit irrem Blick und langem Bart tauche ich daher gelegentlich ganz unmotiviert in fremden Städten auf und sorge für eine gewisse Unruhe. Ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen, aber gewiss niemanden beunruhigen, ganz gewiss nicht. Eigentlich und ganz zu Anfang wollte ich mich nur mitteilen und das ist doch ein sehr menschliches Bedürfnis.

 Streifschuss vom 13. Oktober 21

 

Anlass: Ermüdungszeichen während der Recherche

 

Über den Unfug der Verwertungskette

 

Ein Missverständnis mit Literatur liegt oft darin, dass man von Prosa erwartet, dass sie Wirklichkeiten schildert. Aber Prosa schildert keine wirklichen Dinge, sondern erzählt uns wie die Dinge wirklich sind. Erst durch das intime Verhältnis von Text und Leser entsteht eine tiefere Wahrheit die das Leben ausdeutet. Wollte man nun die Methoden der Darstellung im Text analysieren, entstünde ein Verhältnis von Text und Leser, das voyeuristische Nuancen aufweist und dem Text einseitig beim Wirken zuschaut. Das ist irgendwie ein unanständiges Bild, das ich hier vor meinen Augen habe. Die Vorstellung, man könne sich als Beobachter von Text aus der Textentstehung raushalten und den Text rein und nackt bewerten, ist naiv und fast zum Lachen. Immer wenn man liest, macht man durch das Lesen erst den Text. Und das ist Arbeit. Leser sitzen also nicht faul in der Sonne und schmökern degeneriert vor sich hin, sondern sie gestalten eine Welt in ihrem Kopf. Und gar nicht selten entsteht im Kopf des Lesers eine Welt, die so unterschiedlich ist von der Welt die der Autor des Textes intendierte, dass der Autor sich wirklich fragt, wie diese Welt in den Kopf seines Lesers kommen konnte.

Der eigene Diskurs im Leserkopf ist wie der Schatten, den der Text wirft. Und wie über einen echten Schatten, kann auch der Text nicht über diesen springen. Womit klar ist, dass ein Textbeobachter immer auch ein Textgestalter ist. Sogar der Autor ist im Entstehungsprozess nicht nur Autor des Textes, sondern im Moment der Entstehung auch sein Schatten. Einen Autor nach der Bedeutung seines Textes zu fragen, ist nicht viel ergiebiger, als einen x-beliebigen Leser über diesen Text zu befragen. Der sehr intime Moment der Textentstehung durch den Autor enthält kein Exklusivrecht über die Deutung des entstandenen Textes. So wenig, wie es nur den Eltern zustünde, ihre Kinder charakterlich zu bewerten. Oft sind die Eltern am allerwenigsten dazu geeignet, ihre Kinder zu bewerten. Sie sind parteiisch, vernarrt in ihre Kinder und schaden den eigenen Kindern oft mehr durch ihre Vernarrtheit. Autoren sind nicht selten ähnlich närrisch, selbstverliebt noch dazu wenn sie ihre Texte mit sich selbst verwechseln. Natürlich ist es in unserer tief bürgerlichen Welt fest verankertes Bewusstsein, dass diese Autor-Text-Intimität Urheberrechte hervorbringt. Wie ein Tycoon oder ein Magnat herrscht der Autor über seinen Text und merkt gar nicht, wer bei diesem zur Miete wohnt. Während der Rezipient der Illusion unterliegt, er habe sich den Text durch Lesen angeeignet, unterliegt der Autor der Illusion, er habe sich den Text durch das Aufschreiben angeeignet. Die bürgerlich-kapitalistische Warenkonfiguration ist im Bewusstsein so manifest, dass man diese Feststellung als komisch betrachtet. Doch die kreative Energie die der Leser aufbringen muss, um sich den Text anzueignen ist nur von einer anderen Art, als die kreative Energie, die ein Autor aufbringen muss, um den Text zu schreiben. Der Markt bewertet dabei aber nicht die kreative Energie, sondern die Warenform des Textes als Buch, das über einen Ladentisch verkauft wird. So wird die Illusion einer Kopfwelt zum Eigentumsdelikt. Und diese Realität lässt vor allem die Händler daran verdienen. Der Autor bekommt sein Gnadenbrot. Der Leser, der sich den Text mit hohem Arbeitsaufwand erst aneignen musste und die eigentliche wertvolle Illusion erst erschaffen hat, bezahlt für die Ware Buch erstaunlich einvernehmlich. Nur professionelle Leser, die ihre Textaneignung selbst wieder zu Text oder Bild verarbeiten, werden bezahlt. Eine Kuriosität, denn diese bezahlten Textvorgaukler erinnern an die Vorkoster an mittelalterlichen Höfen.

So komme ich zum Ende noch auf den Titel dieses Textes: Streng genommen könnte man den Verbraucher (den Leser genauso wie den Esser) ebenso gut bezahlen für seinen Energieaufwand das Buch zu lesen. Stellen Sie sich vor, man würde eine allgemeine Lesegebühr einführen (ähnlich wie die allgemeine Guck-Gebühr / GEZ) und pro gelesenes Buch bekäme man einen Rentenpunkt. Was wäre das für eine belesene Gesellschaft!! Und nun würden sogar Männer wieder zum Buch greifen!!
Die von der Allgemeinheit staatlich organisierte Leseförderung würde auch den zeitlichen Aufwand für eine 500-Seiten Lektüre respektvoll spiegeln. So aber ist der Leser – ohne die es kein Buch gibt – nur ein Verbraucher und Spielball einer im Wortsinn perversen Literaturindustrie. Hier kann man sich vom Vorleser zum Vorkotzer entwickeln. Vor allem, weil die Leser sich derart in die bürgerlich-kapitalistische Matrix verwickelt haben, dass sie gar nicht mehr merken, wie man sie verarscht, ausnimmt und ausweidet. Denn der Verbraucher wird hier verbraucht in diesem kapitalistischen Durcheinandertal.

 

Streifschuss vom 08. Oktober 21

 

Anlass: Dass der Hund mir lieber sei….

 

Was vom Pferd erzählt

 

…da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort »das geniale Rennpferd«. … das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kavallerie gewesen, und in seiner Kasernenjugend hatte Ulrich kaum von anderem sprechen hören als von Pferden und Weibern und war dem entflohn, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war.(MoE Kapitel 13)

 

Der kluge Hans – das Pferd das Ulrich zuvor gekommen war - war ein fünfjähriger schwarzer Orlow-Traber aus Russland, den der deutsche Elementarschullehrer Wilhelm von Osten im Jahr 1900 erwarb und zwei Jahre später über eine Anzeige im Militärwochenblatt verkaufen wollte mit dem Hinweis, dass dieses Pferd zehn Farben unterscheiden könne und vier Grundrechnungsarten beherrsche.
Niemand reagierte auf diese Anzeige. Der Lehrer, der seinem Pferd mit den gleichen Methoden wie seinen Schulknaben das Rechnen beigebracht hatte, gab aber keineswegs auf. Er schaltete eine weitere Anzeige, diesmal im deutschen Offiziersblatt und lud zu einer Besichtigung seines klugen Pferdes ein. Ein Generalmajor kam auch und war fasziniert, schrieb einen Artikel über den Lehrer und sein Pferd. Das löste eine Begeisterung in ganz Deutschland aus. Plötzlich gab es im ganzen Land sprechende Hunde, Katzen, Bären. Der berühmte Großwildjäger, Fotograf und Tierschützer (irgendwie widersprüchlich, aber so steht es auf Wikipedia) Carl Georg Schillings führte der Allgemeinheit das geniale Pferd vor. Eine 13-köpfige Kommission unter der Leitung von Professor Stumpf (Musil hatte bei ihm studiert) prüfte das Pferd und kam zu dem Schluss, dass keine Tricks im Spiel waren. Es handelte sich tatsächlich um ein geniales Pferd. Nur ein kleiner Doktorand war skeptisch. Typisch! Diese Kleingeister, die keinen Sinn für Größe haben. Der Doktorand Herr Pfungst testete und testete, er gab dem Tier auch Scheuklappen und stellte fest, dass das Tier mit Scheuklappen plötzlich nicht mehr rechnen konnte. Der kluge Hans hatte sich nämlich alle Ergebnisse nur abgeschaut aus den erwartungsvollen Gesichtern der Zuschauer. Die kannten das Ergebnis ja schon. Und wenn der kluge Hans mit seinen Hufen klopfte, schaute er in die Gesichter seiner Zuschauer und erkannte ihre Begeisterung, wenn er sich der Lösung näherte. In gewisser Weise ist dieses Tier doch genial. Nur auf eine andere Weise. Dr. Pfungst schrieb dazu auch ein Buch und das führte erst einmal dazu, dass man überhaupt nicht mehr über die Mensch-Tier-Kommunikation forschte, weil man nach dieser Peinlichkeit lieber die Finger davon ließ. Musil dichtete noch ein Epitaph auf Dr. Pfungst:
Hier ruht Oskar Pfungst
gestorben an einem Hungst
der aus Rache mit dem Bein
stieß ihn in das Grab hinein

Und so unwahrscheinlich ist das gar nicht. Der Zoologe Thomas H. Gillespie berichtete von dem Maskottbär eines Artillerieregiments, der - ohne dazu abgerichtet worden zu sein in einer Gefechtssituation ein 15-cm-Geschoß aufhob und sich in die Kette der Munitionsträger einreihte. Ein geniales Pferd, das sich an einem Psychologen rächt, ist dagegen nur eine Kleinigkeit.

Der Schweizer Zoologe Heini Hediger schrieb dann vor knapp 50 Jahren einmal, dass wir „für das Tier oft in einer für uns unangenehmen Weise durchsichtig“ seien. Und der Primatologe Ray Carpenter erklärte, wie kompliziert das Leben von Affen ist, die in Bruchteilen von Sekunden einschätzen müssen, ob die Begegnung mit einem anderen Tier gefährlich ist oder nicht, ob es sich um Artgenossen handelt oder nicht, ob es weiblich oder männlich ist, ob es gerade in Hitze ist, ob es alt oder jung ist, ob es zu seiner Gruppe gehört oder nicht. Das alles sind geniale Fähigkeiten, die der gewöhnliche Homo Sapiens gar nicht mehr beherrscht ohne sein Smartphone zu benutzen. Wir Menschen sind im Vergleich mit dem Verhaltensgenie von Tieren grobe Klötze ohne Sinn und Verstand. Und ein Planet der Affen ist denkbar.
Jeder Hund, jede Katze durchschaut den Menschen. Aber der Mensch? Bleibt sogar sich selbst gegenüber ein großes Rätsel.

 

Streifschuss vom 06. Oktober 21

 

Anlass: wir wissen, was wir sehen

 

Aber sehen wir auch, was wir wissen?

 

Der französische Kubist George Braque gehörte ja zusammen mit Pablo Picasso zu diesen untalentierten Leuten, die – weil sie nicht richtig malen konnten – einfach eine eigene Stilrichtung gründeten. Sie nannten sich „Die Würfler“ und malten geometrische Figuren, die immer ein bisschen wie ein missglücktes Mathe-Experiment aussehen. Sie, die Kubisten (Würfler) gingen davon aus, dass Objekte nicht im eigentlichen Sinne existieren, nicht für sich selbst sozusagen, sondern nur als Beziehung zwischen Objekten und als Beziehung zwischen fühlenden und erkennenden Lebewesen zu Objekten die als Beziehung zueinander erkannt werden könnten. Also ein Apfel existiert nicht allein als Objekt, sondern nur als Beziehung zum Baum an dem er hängt oder zum Teller auf dem er liegt und als Beziehung zum Obstkonsumenten der ihn vom Baum pflückt oder auf dem Teller zerhackt.
Heute nennt man diese Auffassung Predictive Coding, was gelehrt klingt, aber ein alter Hut ist und worunter man ein Gehirn versteht das laufend Prognosen erstellt über zukünftige Ereignisse und diese nach zwei Methoden berechnet. Entweder die eigenen Erwartungen beeinflussen die Wahrnehmung der Wirklichkeit oder die reine kognitive Verarbeitung von Sinnesreizen beeinflusst permanent die eigene Wahrnehmung. Vielleicht ist es auch so, dass viele erwarten, ihr Gehirn würde es schon richtig machen. Was ein großer Fehler in der Sache ist, weil das Gehirn ohne seinen Besitzer ein nicht existierendes Objekt ist und nichts berechnen könnte.
Tatsache ist, dass wir tatsächlich eher sehen, was wir wissen und seltener tatsächlich wissen, was wir wirklich sehen. Das beginnt schon mit der Augenmotorik. Vier Hirnnerven steuern die Augenbewegungen. In einem komplexen Zusammenspiel muss das Auge  Blickzielbewegungen durchführen, so genannte Mikrosakkaden. Das geschieht ca. drei Mal in der Sekunde und hilft dabei, die unterschiedlichen Lichtverhältnisse gleichmäßig auf die Rezeptoren zu verteilen. Wäre der Kopf fixiert und die Augenmuskeln gelähmt, käme es zur Erblindung. Doch zwischen den Blickzielbewegungen bleibt noch ein Rest von 30 Millisekunden übrig. In dieser Zeit sind wir alle blind. Bei ca. 100.000 Sakkaden pro Tag kommen wir immerhin auf eine knappe Stunde in der wir nichts sehen. Was will Gott, dass wir nicht sehen? Doch das ist noch nicht alles. Alle vier Sekunden müssen wir die Augen schließen, um sie zu befeuchten. Während eines Lidschlages sind wir 300 Millisekunden lang blind. Es kommen also noch einmal ein paar Minuten dazu. Doch wir bemerken es nicht. Wir haben nicht den Eindruck vorübergehender Erblindung. Unsere fehlende Wahrnehmung wird durch unser Wahrnehmungsgedächtnis im präfrontalen Cortex kompensiert. Somit erleben wir einen Teil des Lichtes, das unser Auge formte als Erinnerung.

Erinnerungen, Vorwissen, Erwartungen, Reize. Diese Reihe bildet ein mentales Modell der Wirklichkeit ab und die vorgestellte Wirklichkeit in unserem Gehirn hat gar nicht so viel zu tun mit der wirklichen Wirklichkeit. So ist die Aufnahme kollidierender Elementarteilchen in einer Blasenkammer (Teilchendetektor) ein viel genaueres Abbild der Wirklichkeit als es mein Gehirn grob zusammengeschustert hat.
Es ist daher ein großes Wunder, dass wir uns dennoch in der Welt zu Recht finden und den Weg zum Arbeitsplatz. Doch sollten Sie mal eine Ausrede für Ihren Arbeitgeber brauchen, dann sagen Sie ihm, dass der von ihm zur Verfügung gestellte Arbeitsplatz in Ihrer Erinnerung und Ihrer Erwartung ganz woanders war und Sie daher auch woanders waren an dem Tag, an dem Sie hätten arbeiten sollen. Denn! Was könne man schon für sein Gehirn? Das sei einem gegeben. Die Schule weckte auch nur falsche Erwartungen vom Leben…

 

Streifschuss vom 29. 09. 21

 

Anlass:  Molar 2/7 mit MAV

 

Wer hat dich du schöner Wald

 

Als Robert Musil postoperativ nach einer Gallenoperation sich im Palast-Hotel Kaiserhof in Bad Harzburg erholte, schrieb er folgende Worte auf: „Wie wenig bedeuten Gemälde, Romane, Philosophien in solchen Augenblicken! In diesem Zustand der Schwäche schließt sich das was einem an Körper geblieben ist, wie eine fiebernde Hand, und die geistigen Wünsche schmelzen darin weg, wie Körnchen Eis, die nicht zu kühlen vermögen.“
Ich begrüße den Zerfall meines Körpers schon seit meiner Jugend, als er sich nur ganz zart und ohne Schmerz  eine ferne Ahnung andeutend ankündigte.

Nun schlug er zu und ich? Sollte wohl heiterer sein. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nicht in einem Palast-Hotel erholen konnte. Der Zerfall hat nun Einlass gefunden. Die Tür geöffnet. Der Zerfall ist in meinem Haus, schläft in meinem Bett, nascht von meinen Vorräten und sitzt still am Abend neben mir.  Nur langsam kriechen wieder die Lebensgeister in mich. Zögerlich schnuppern sie erst an mir, tuscheln geheimnisvoll und unentschlossen um mich herum, stupsen mich vorsichtig, „ist er schon so weit?“, drehen noch einmal kurz ab und schlüpfen probehalber in mich. Ganz mögen sie noch nicht einziehen, geschweige denn Miete zahlen. In meinem Körperhaus fühlen sich die Lebensgeister nicht mehr so wohl, seit der Zerfall nicht nur urlaubsweise, sondern ganz bei mir eingezogen ist.

 So nehme ich Abschied von diesem Leben, Stück für Stück, Zahn für Zahn. Dieses Elend wird vergehen. Die Organe werden aufhören zu funktionieren, die Nieren werden nichts mehr filtern, das Herz nichts mehr pumpen und nach ein paar Minuten sterben auch meine Gehirnzellen. In diesen Minuten aber wird eine letzte große Show stattfinden und durch den durch die Hypoxie verursachten Stress werden Massen von Hormonen ausgeschüttet, meine Nervenzellen feuern noch einmal alles ab was sie haben. Es werden mir daher alle Erinnerungen und Lebensmomente gleichzeitig vorgespielt und ich bin in diesen Minuten auf einem Wahnsinns Trip. Dann bin ich tot. Die Zellen haben alle Energie verschossen, keine Elektrizität mehr, Dunkelheit. Die Myriaden von Bakterien und Kleinstlebewesen die in mir und auf mir leben, existieren weiter und fressen. So werde ich recycelt. Atom für Atom. Ich werde Baum, Blatt, Käfer, Stern. Teil eines Ganzen, kehre ich Teil für Teil in das Ganze zurück. Wie ein Tropfen, der aus dem Meer emporgestiegen und für einen Moment sich seiner selbst bewusst wurde, sinke ich wieder ins große Meer zurück.
Es war ein eher langweiliges, relativ triviales Leben das ich lebte. Die meisten Aufregungen waren schlicht künstlich. Mit etwas weniger Phantasie begabt, hätte ich ein recht angenehmes und beiläufiges Leben führen können. Aber ich habe es fiebrig wahrgenommen und überdreht kommentiert. Man muss nicht gar so viel Aufhebens machen von einem Haufen Zellen die für kurze Zeit elektrisch aufgeladen herum zappeln. Überhaupt machen die meisten Menschen einen Bohei um alles, was überhaupt nicht den Mangel an Bedeutung wiederspiegelt den das in Wirklichkeit alles hat.
Ich machte da keine Ausnahme. Mein Geschrei und Gezeter wirkt in der Nachbetrachtung peinlich und lächerlich und ich würde es gerne ungeschehen machen. Aber das geht nicht. Auch nicht so wichtig, denn es ist alles zum Vergessen gemacht – auch meine komische Existenz und das ausgiebige Gelächter darüber wird verhallen und in ein großes Nichts übergehen. Vielen erscheinen diese Worte vielleicht deprimierend. Aber das sind sie nicht. Denn der heitere Aspekt ist offensichtlich dabei. Alles verliert an Schwere, wenn man den körperlichen Zerfall nicht mehr nur theoretisch kanonisiert, sondern wirklich erlebt. Diese Leichtigkeit wird beinahe zu mystischer Ekstase wenn der körperliche Schmerz nachlässt. Aber das ist schon wieder zu viel des Guten. Ich sollte das nicht tun. Denn die Leichtigkeit entsteht nicht durch mystischen Einfluss, sondern dadurch, dass es ganz unwichtig ist und der Tod nur den Zustand markiert, der über die meiste Zeit für mich vorgesehen war bzw. ist.

 

Streifschuss vom 26. September 21

 

Anlass: Heute

 

Macht endlich Schluss damit

 

Heute ist die 20. Bundestagswahl dieses Landes. Am 07. September 1949 tagte er zum ersten Mal. Der schlesische Tischlerjung Paul Löbe eröffnete die Sitzung in einer Turnhalle in Bonn. Paul Löbe war noch wegen Majestätsbeleidigung und Aufheizung zum Klassenhass im Gefängnis gesessen, so alt war der Mann damals schon. Er gehörte zur alten Garde die für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich eintraten.  Und in seiner Antrittsrede 1949 machte er es zur ersten großen Aufgabe, Deutschland wieder zu vereinen. Tja. Das wurde dann vierzig Jahre später auch geschafft. Damit wäre alles erledigt und die Nazis können wieder kommen oder? Unter Beifall der insgesamt 410 Abgeordneten (aus CDU, SPD und FDP) fügte Löbe hinzu: „Uns bewegt nicht, wie es früher geschehen ist, der Gedanke an irgendeine Form von Vorherrschaft; wir wollen mit allen anderen gleichberechtigt in den Kreis der europäischen Nationen treten.“ Vor ein paar Jahren ermordeten sie noch sechs Millionen Juden und dann wollen sie Gleichberechtigung. In seiner Rede sprach Paul Löbe die Opfer des Widerstandes an und die verstorbenen deutschen Soldaten, aber kein Wort von den Juden. Nichts. Nada. Nur ganz allgemein sprach er von den Kriegsopfern aller Völker. Dieses Land, beide, also Deutschland und Österreich hätte man schon damals zwischen Franzosen und Russen aufteilen sollen. Holstein hätte man den Dänen schenken können. Als Wiedergutmachung den Hamburger Hafen den Engländern.

Die Tatsache, dass Angela Merkel die erste amtierende Bundeskanzlerin ist, die sich nicht mehr zur Wiederwahl stellt, spricht dafür dass der Bundestag fertig ist.
Man sollte ihn noch heute auflösen statt ihn wiederzuwählen.
72 lange Jahre pflegte man hier einen heimlichen Nationalismus, einen Hinterhof-Heil-Fahnen-Nationalismus. Schon Adorno erkannte in einem Gruppenexperiment von 1950 (finanziert von den Alliierten und durchgeführt vom Institut für Sozialforschung), den so genannten Heimkehrer-Studien, ein großes Demokratie-Defizit.
Wie fühlten sich die neuen Demokraten und ehemaligen Soldaten der Wehrmacht, die für die Nazis im Krieg waren 1950? Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung kursierte unter den Rückkehrern vom Feld eine von dieser erheblich abweichende nicht öffentliche Meinung wie eine zweite Währung. Dies führte zu der Erkenntnis: Das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie ist gefährlicher, als das Nachleben des Nationalsozialismus gegen die Demokratie. Und bedenkt man nun, dass Löbe in seiner Eröffnungsrede des ersten offiziellen deutschen Nachkriegsparlamentes den Beschluss des Ermächtigungsgesetz (1933 in der Berliner Kroll-Oper) lediglich als einen illegalen Akt bezeichnete („Das war ein illegaler Akt, durchgeführt von einer illegalen Regierung. Der Widerstand dagegen war eine patriotische Tat.“), dann kann man sich immer schön rausreden.

Im November 1913 erschien in der expressionistischen Monatsschrift „ die weißen Blätter“ (1913-1920) ein Aufsatz des österreichischen Schriftstellers Robert Musil mit dem Titel „Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes“. Einige Passagen dieses Textes hören sich erstaunlich aktuell an. „Einstweilen treiben wir Politik, weil wir nichts wissen“, schreibt Musil darin, weiter schreibt er von den Parteien „sie existieren durch die Angst vor der Theorie. Gegen die Idee, fürchtet der Wähler, lässt sich stets eine andere Idee einwenden. Darum schützen sich die Parteien gegenseitig vor den paar alten Ideen, die sie ererbt haben. Sie leben nicht von dem, was sie versprechen, sondern davon, die Versprechen der andern zu vereiteln.“
Musil kritisiert die so genannte Realpolitik. „Sie nennen diese gegenseitige Behinderung, die nur kleine praktische Ziele erreichen lässt, Realpolitik.“ Weiter stellt Musil fest: „Sie wollen gar keine Politik machen, sondern Stände vertreten und für bescheidene Wünsche das Ohr der Regierung haben.“ Interessant an dieser Passage ist, dass Musil zwischen Parteien und der Regierung unterscheidet. Denn zeitweise hat die Monarchie in Österreich-Ungarn sogar das Parlament ausgesetzt. Heute dagegen haben die Parteien nicht nur das Ohr der Regierung, sondern bereits den gesamten Körper besetzt. Parteien sind inzwischen die Regierung. Und sie haben sich nicht verändert. Was Robert Musil dort als grade mal 33jähriger schreibt, trifft heute noch zu oder sogar verstärkt. „Ich bin überzeugt“, schreibt Musil weiter „dass das wirtschaftliche Programm keiner einzigen von ihnen (der Parteien A. d. A.) durchführbar ist und dass man auch gar nicht daran denken soll, eines zu verbessern.“
Wenn wir heute eine Koalition aus drei Parteien (anders wird es nicht mehr möglich sein hier zu regieren) in den 20. Bundestag wählen, dann haben wir eine Konstellation, die für die nächsten vier Jahre jede Art von tiefgreifender Politik sabbotieren wird. Denn – wie Musil schreibt und heute noch gilt, ist es das Ziel jeder Partei, die Ziele der anderen Partei zu verhindern. Wir haben das ja nun die letzten vier Jahre bis zum Überdruss erleben dürfen.

Bedenkt man, dass Musils Text nur ein halbes Jahr vor Kriegsausbruch veröffentlicht wurde, wirken seine folgenden Worte  besonders erschreckend: „Sie werden weggeblasen, sobald der Wind sich erhebt, wie allerhand Mist, der sich auf stillem Boden angehäuft hat. […] Noch aber ist es still und wir sitzen wie in einem Glaskäfig und traun uns keinen Schlag zu tun, weil dabei gleich das Ganze zersplittern könnte."

 

 

Streifschuss vom 09. September 21

 

Anlass: postdemokratische Wahlpanik

 

Man kann nicht  nicht wählen

 

Ehrlichkeit ist eine sittliche Eigenschaft, die in Vorwahlzeiten oft gesucht und selten gefunden wird. Redlich, aufrichtig, wahrhaftig, offen, gradlinig und fair sind die wenigsten Menschen und am allerwenigsten ist das die Jobbeschreibung eines Politikers.  Ich zapple nun fast sechs Dezennien auf dieser bescheuerten Erde sinnlos herum. Lange genug, sagt mein sich langsam in seine Bestandteile auflösender Organismus. Lange genug jedenfalls, um mir mal einen Augenblick der Ehrlichkeit zu gönnen. Frei nach dem Motto: Was soll’s.
Vor etwa einer Woche lag ein Brief in meinem Postkasten. Einer dieser Briefe mit beigefarbigem Umschlag. Finanzamt, Jobcenter, Staatsanwalt? Es war ein Brief der Wahlbehörde. Ich nahm ihn noch mit in meine Wohnung, legte ihn auf die Kommode. Die Folge längerer Bewegung ist Erschütterung. Zwischen Enddarm und Blase liegt eine Drüse in der Größe und Form einer Kastanie die dann bei jedem Schritt mal auf den äußeren Schließmuskel und mal auf die Blase drückt… aber darüber wollte ich jetzt gar nicht schreiben. Das sind nur Ausflüchte.  Machen wir es kurz und schmerzlos. Als mir klar wurde, dass in dem beigefarbigen Umschlag ein Brief der Wahlbehörde drin ist, zerriss ich den Brief in einem panischen Anfall mitten durch, ohne ihn zu öffnen. Als wäre ätzende Säure auf der Umschlagoberfläche, warf ich die beiden Briefteile von mir in die Papiertüte mit dem Altpapier. Ja. Ich zerriss den Brief mit der Wahlbenachrichtigung, den Brief mit dessen Hilfe man zur Wahl berechtigt ist oder Briefwahl beantragen kann. Ich zerstörte meine demokratische Stimme. Und ich bin nicht stolz darauf. Ich war schlicht panisch! Was um Himmelswillen sollte ich wählen?
Nach den vielen Jahren der Koalition kann ich die CDU und die SPD gar nicht mehr auseinanderhalten. Ihren Wahlversprechen misstraue ich, denn immerhin haben beide Parteien über Jahre auf ihre eigenen Positionen gut verzichtet, sonst wäre realpolitisch eine solche Partnerschaft gar nicht möglich gewesen. Die Grünen kann man sich in einer Koalition mit der CDU genauso vorstellen wie in einer Koalition mit der SPD. Das Klima wollen sowieso alle schützen. Da sind sich alle wählbaren Parteien einig. Nur darüber wie man das Klima schützt, gibt es die eine oder andere technische Diskussion. Ich habe keine Ahnung, wie man das Klima schützen soll. In diesem Jahr wurden bis jetzt fast 60 Millionen Autos produziert. Auf jede zweite Geburt kommt ein Auto. Mit was sollen all diese Autos in Zukunft fahren? Klimaneutral? Keine Ahnung. Die Grünen sind realpolitisch und es wird mit ihnen auch nächstes Jahr eine IAA geben. Warum auch nicht. Die Industrie brauchen wir. Was also – um auf meine Panikattacke zurückzukommen – soll ich noch wählen? Die FDP? Schwierig, denn der politische Wille dieser Partei scheint sich mit dem Wetter zu ändern. Die AFD besteht aus Faschisten, die von Faschisten gewählt wird. Die LINKE könnte man noch wählen. Aber die erreichen grade mal über fünf Prozent. Ein bisschen Sozialismus wäre schön.
Daher zerriss ich meine Wahlbenachrichtigung. Der Rabbi Maimonides aus dem 13. Jahrhundert sagte einmal, eine falsche Entscheidung zu treffen sei besser, als die Hölle einer langen Unentschlossenheit. Und Ratsch. Vorbei war es mit dem politischen Einfluss des kleinen Herrn Horwatitsch, diesem älteren Herrn aus dem zweiten Stock. Ja. Ich bin überfordert! Und so schloss ich mich einfach der größten Partei an, der Partei der Nichtwähler. Sie ist die bunteste und heterogenste Partei Deutschlands. Zu ihnen gehören Antidemokraten, denen die AFD nicht weit genug geht, harmlose Spinner die von einem Märchenkönig träumen, von der Komplexität der Welt restlos Überforderte wie ich, Ignoranten die nicht einmal mitbekommen, dass überhaupt eine Wahl ansteht, Vollidioten, die tatsächlich glauben es sei ein politischer Protest nicht zu wählen, und schließlich Leute die behaupten sie würden wählen, es aber tatsächlich nicht tun, die sich aber schämen, zuzugeben, dass sie zur Partei der Nichtwähler zählen.
Nein. Ich bin nicht stolz darauf ein Nichtwähler zu sein. Meine Panik beim Anblick des Briefes war allerdings nicht gewollt. Plötzlich wurde mir klar, dass meine Stimme ebenfalls über Wohl und Wehe der Zukunft unseres Staates mitentscheidet. Ich entschied mich dagegen, mich zu entscheiden. Ich war einfach überfordert! Ich kann über Politiker schimpfen, über den Zustand der Welt jammern und über die Dummheit der Menschen endlos den Kopf schütteln. Aber ich kann doch nicht entscheiden, wie es weiter geht! Klar. Ich könnte mich rausreden, ich wolle eine andere Art der Demokratie, ich sei gegen diese Parteiendemokratie und würde daher nicht wählen. Alles schön und gut. Aber wie ich schon eingangs sagte, nach fast sechs Dezennien in denen ich mich von knapp vier Kilogramm Geburtsgewicht auf fast 120 Kilogramm Lebendgewicht gesteigert habe, will ich mir nicht mehr selbst etwas vormachen. Ich kann und ich will nicht entscheiden wie es weiter geht und ich kann und will auch nicht diejenigen bestimmen, die dann für mich entscheiden. Wie sollte ich Letzteres machen? Wie soll ich hier eine richtige Wahl treffen können? Das ist absurd. Am besten man wählt halt eine der üblichen Parteien. Zumindest wenn man alle fünf Sinne beisammen hat und kein Faschist ist, wählt man auf keinen Fall die AFD. CDU, SPD, die Grünen, die LINKE, sogar (unter Vorbehalt) die FDP kann man wählen. Dann ändert sich ganz sicher nichts.
Denn dieses Paradox müssen die Politiker inzwischen den Wählern verkaufen: Alles muss sich ändern und es bleibt dabei wie es ist. Diese kognitive Dissonanz kann ich nicht mitmachen. Es tut mir weh. Ich spüre fast körperlich die Schmerzen dieser kognitiven Dissonanz. Ich will ja auch, dass alles so bleibt wie es ist und sich komplett ändert. Aber ich will nicht mehr, was ich will.

Das war der Inhalt meiner Panik, als ich die Wahlbenachrichtigung in zwei Hälften zerriss. Komprimiert. Danach herrschte eine sehr unpräzise Gefühlsmischung aus Erleichterung und Bedauern in meinem Kopf. Gott sei Dank musste ich nicht mehr wählen, aber ich hatte die falsche Entscheidung getroffen. – So wie demnächst Millionen Deutsche. Egal was sie wählen werden.

 

Streifschuss vom 13. August 21

 

Anlass:  Es kommt wie es kommt

 

Der äußere und der innere Mensch

 

Stellen Sie sich vor, Sie haben über 20 Jahre mit einem Menschen eine rege Korrespondenz geführt, sich mit diesem Menschen über alles Mögliche ausgetauscht. Nun sitzt er plötzlich ganz leibhaftig vor Ihnen und entspricht überhaupt nicht den Vorstellungen, die sich über ihn in Ihnen während der ganzen Zeit gebildet haben. Genau so ist es mit unserem Leben. Plötzlich ist es da, mehr oder weniger fest und stofflich geworden. Das eigene Leben erscheint überhaupt nicht als das, was man sich darüber vorstellte, als man einmal jung war und man mit der Zukunft nur korrespondierte. Jetzt ist die Zukunft da, von der man einst glaubte sie beeinflussen zu können. Sie ist aber ganz anders. Gegenüber dem Ideal ist das Leben eine Enttäuschung, weil Schönheit meist durch Nähe einbüßt. Es ist nicht so bunt, nicht so makellos, nicht so mondän, nicht so schillernd, nicht so intensiv, nicht so verwirrend, nicht so außergewöhnlich wie man es sich in seiner Jugend vorstellte. Jetzt, wo es ist wie es ist, dieses Leben, muss man es bis zum Ende behalten. Es geht nicht mehr weg. Alle Versuche dieses fertige Leben loszuwerden, wirken absehbar lächerlich oder sogar bösartig. Menschen die sich neu erfinden sind am Ende hohle Nüsse. Ihnen ist alles abhanden gekommen und mangels jugendlicher Spannkraft können sie das Neue nicht formen. Dafür rächen sie sich auch mal. Die Kraft der jungen Jahre in denen wir unser Leben so formten wie es nun ist, ist dahin. Es war eine blinde Kraft, ja die Blindheit war überhaupt Voraussetzung dieser jugendlichen Kraft das Leben zu formen. Wenn alte Menschen versuchen, sich zu regenerieren verfällt nur ihre Form ohne dass sich eine neue Form bilden könnte. Menschen die ihre Form verlieren zeigen das Äußere eines Monsters. Denn ihre Kraft ist nicht blind. Diese Kraft deckt auf, was jungen Menschen verborgen blieb und erzeugt so großen Horror. Jeder Versuch der Einflussnahme mündet in der Paradoxie. Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit.
Nun ist es heute so, dass sich kein Leben mehr ganz durchformen kann. Junge Menschen scheitern nicht etwa an der Vielzahl der möglichen Entwürfe. Das war noch das Lebensgefühl der Moderne, in der neue Moden und neue Freiheiten mehr Auswahl suggerierte. Heute sind die angebotenen Entwürfe selbst formlos. Es besteht strukturell keine Möglichkeit mehr, den angebotenen Lebensentwurf zu formen. Entwürfe sind Illusionen geworden. Hat man erst die Verpackung entfernt, sieht doch jedes Smartphone gleich aus. Am Ende gleichen auch wir Menschen uns alle. Nur der Besitz von Dingen, materiellen Dingen und geistigen Dingen bildet Schichten, wie Dinge eben dazu neigen, sich zu schichten, aufzuschichten. Am äußeren Glanz der oberen Schicht zeigt sich der Mangel an Tiefe und Form: Ein geisterhaft leuchtendes Flackern, das man nicht mit den Händen greifen kann. Durch den statischen Druck der weiteren Schichten wird die Form in den unteren Schichten noch am Deutlichsten. Aber dort ist sie nicht mehr sichtbar. Die Glanzlosigkeit in den unteren Schichten deren Leben sich durch die Discounter-Dinge formte, ist kaum erstrebenswert. Wie aus Polyäthylen geformte Legobausteinchen bilden die unteren Schichten die Basis für die wabernde und formlose Oberfläche.
Das tatsächliche Leben, so wie es ist, ist meist reinste Massenware. Diese Menschen unterscheiden sich in ihren Leben kaum noch.  Die Unterschiede tauchen nur an der formlosen Oberfläche auf, die einen Firnis bilden, der schon beim Auftragen Patina anwarb. So träumen wir der Zukunft unseres Lebens hinterher. Längst ist unser Leben wie es ist, während wir uns in die Vergangenheit träumen, in der wir noch von Zukunft träumen konnten. Der äußere Mensch erscheint daher in seiner vergangenen Form. Der innere Mensch dagegen bleibt sich entweder neurotisch vor sich selbst verborgen oder er deckt sich psychotisch auf. Denn äußerer und innerer Mensch passen nie zusammen. Treffen wir uns auf der Oberfläche, laufen wir in unserem Auftreten unserem eigentlichen Sein Jahrzehnte hinterher. Wir sind antiquierte Menschen, weil wir unser tatsächliches Sein, unser Sein wie es ist, nicht aushalten würden. Es käme zum Denkzerfall und am Ende zum Stillstand, zur völligen Antriebslosigkeit, wenn wir den inneren Menschen aufdecken würden. 

 

Streifschuss vom 02. August 21

 

Anlass: eine menschliche Enttäuschung

 

Die Gier der Erfolglosen nach Menschenfleisch

 

Es gibt zwei Regeln für Erfolg. Die erste Regel lautet: Verrate nie alles was du weißt.
Da ich weder erfolgreich bin, noch ein Geheimnisträger fand ich diesen Scherz aus „How to sell drugs online fast“ ganz nett. Aber ich brauchte einige Zeit, um ihn gänzlich zu verstehen. Es gibt kein Erfolgsrezept. Es gibt nur Menschen, die besonders gierig sind und daher an unser herrschendes System gut angepasst. Gier und Egoismus sind keine erlernbaren Techniken, keine Regeln, sondern Charaktereigenschaften. In einem kapitalistischen System sind „Eigenschaften“ die man als Grundkapital ins Leben mit einbringt, besonders hilfreich. Und ich lernte nun einige solche Menschen kennen, denen eine besondere Art von Geltungsgier und Egozentrismus zu Eigen sind.  Eine weitere Eigenschaft bringen diese Menschen mit in das Leben. Sie scheinen freundlich und zugewandt zu sein. Aber das ist nur Schein. Tatsächlich sind sie frei von jeder Empathie. Ihre Zuwendung ist darauf berechnet, wie nützlich ihr Gegenüber für ihren Eigennutz ist. Sie benutzen Menschen. Ihr Erfolg ist an diese Fähigkeit gekoppelt.
Die Fähigkeit andere zu täuschen ist daher wohl weniger eine Eigenschaft, sondern eine Begabung. Die Fähigkeit, andere zu täuschen, sie zu benutzen und auszusaugen will entwickelt werden. Gier und Egoismus nutzen einem als Charaktereigenschaft wenig, wenn man nicht eine Begabung hat, seinen Mangel an Empathie gewinnbringend einzusetzen. Schamlosigkeit, maßlose Selbstüberschätzung, fehlende Selbstkritik und Arroganz gerade denen gegenüber, die wirklich etwas können, sind Teil des Erfolgskonzepts. Erfolgreiche Menschen in kapitalistischen Systemen sind Trampeltiere. Gefühllose Monster denen Werte nur nutzenmaximierende Effizienzsteigerung bedeuten. Moral spielt für solche Menschen nur dann eine Rolle, wenn diese Moral auch effizient und nutzenmaximierend ist. Wenn sie das nicht ist, dann pfeifen sie auf die Moral, selbst dann, wenn es so im Gesetzbuch steht. Diese besondere kriminelle Energie zeichnet erfolgreiche Menschen aus. Sie haben ihre eigene Moral. Auffallend ist, dass diese Privatmoral verallgemeinert wird. Damit fällt den Erfolgreichen gar nicht mehr auf, wie pervertiert ihre Moralvorstellungen eigentlich sind.
 Erfolg wird immer positiv definiert. Das angestrebte Ziel wird mit dem erreichten Ergebnis verglichen und die Effizienz ist der Parameter des Erfolgs. Vom Ursprung des Wortes (erfolgen – siehe Johann Christoph Adelung) ist diese Definition weit entfernt. Ursprünglich meinte man mit Erfolg die Konsequenzen seines Handelns. Auch das ist ein besonderes Kennzeichen erfolgreicher Menschen im Kapitalismus. Sie denken nicht über die Konsequenzen ihres Handelns nach. Sie denken nur im Sinne ihres Eigennutzes und bewerten die Effizienz ihres Handelns, nicht die Konsequenz. Ihr Gewinn ist jedoch der Verlust vieler anderer. Denn die so genannte Pareto-Superiorität gilt nur, wenn die Gütermenge insgesamt immer weiter ansteigt. Und das führt am Ende zum Klimakollaps. Wer also das kapitalistische Spiel der Gier und des Egoismus mitspielt und innerhalb dieser Matrix seinen Erfolg anstrebt, ist immer ein Teil des Problems. Egal was er macht. Denn die Bewertung seines Tuns ist immer die Effizienz und nicht die Konsequenz seines Tuns. Es ist seltsam, dass diese einfache Tatsache von so vielen Menschen nicht begriffen wird. Zumal die meisten Menschen in diesem kapitalistischen Spiel von Gier und Egoismus den Kürzeren ziehen. Aber in den Medien zeigen sie uns die Erfolgreichen als glänzende Helden unserer Zeit. Dabei sind die meisten von ihnen amoralische Dreckschweine ohne Empathie und mit allen Wassern gewaschene Kriminelle. Wenn die Medien schreiben, dass jemand ein mit allen Wassern gewaschener Krimineller ist, und wieder einmal der Polizei entwischte, dann empfinden die meisten Menschen Neid – Sollseite der unerfüllten Gier. Das ist schon eine absurde Komik. Denn in medialer Form kann man noch besser Empathie vorspielen. Wir alle wollen an „Die Guten“ glauben. Doch niemand will „Die Guten“ wirklich. Denn die wirklich Guten sind nicht effizient. Man will nur an sie glauben. Dann hat man zur Not ein paar Schuldige. Die Erfolgreichen, also diejenigen, die ihre Ziele erreicht haben sind die angeblich „Guten“. Aber sie sind es natürlich nicht. Sie sind nur an das System angepasst. Hin und wieder braucht der Kapitalismus Menschenopfer. Das sind dann die besonders Erfolgreichen. Sie werden unter dem Jubel der erfolglosen Masse für das System der Gier geopfert.

 

Streifschuss vom 28. Juli 21

 

Anlass: Fearstreet reality

 

Montezumas Rache

 

Michel Foucault stellte an den Ursprung der Autorschaft die gefahrenreiche Rede als Tat. Da war diese Autorschaft noch kein Eigentum, kein Produkt, keine Sache. Es waren heilige oder profane Taten in Form der Rede. Man könnte die Zunahme der wahnhaft-privaten Mythen im Querdenker-Milieu als Rückkehr der gefahrenreichen Rede als Tat betrachten. In ihrer selbstgebastelten Privatmoral Marke Homeoffice, können sie dann tun und lassen was sie wollen, sind sie freie Menschen und können das Gesetz übertreten. Ein Drittel der Bevölkerung interpretiert die Welt inzwischen wahnhaft in der gefahrreichen Rede, wie sie Foucault an den Beginn der Autorschaft stellte, bevor im 18. Jahrhundert dieses Gut in den Einzugsbereich des Eigentums gestellt wurde. Im Querdenker-Milieu gibt es keine beweisbaren Wahrheiten mehr, keinen textuellen Besitzstand. Sie bauen sich ihre eigene private Matrix in der sie Gott und Schaf zugleich sind.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung hat sich inzwischen aus dem allgemeinen bürgerlichen Wertekanon verabschiedet. Sie fiktionalisieren die Realität aus einem besonderen Grund. Sie haben Angst und wehren diese Angst durch die gefahrenreiche Rede ab.
Schlicht gesagt: Die Herde zerstreut sich in Panik. Und jedes dieser von der Herde abgesprengte menschliche Tier galoppiert paranoid verstört durch die Steppenlandschaft auf der Flucht vor einem abstrakten Realitätslöwen. Es ist nicht weiter überraschend, dass die Angst immer größer wird. Die Kosten für die Verdrängung dieser Angst vor den realen Bedrohungen erhöhen den psychischen Druck immer mehr und forcieren die wahnhafte Panik. Die Klimakatastrophe erreicht nun auch die reichen Westnationen, Pandemien reduzieren unseren hedonistischen Gewinn, unser Lebensstandard sinkt, am Arbeitsplatz verrohen die Sitten, die Wissenschaften widersprechen sich, und ohne gemeinsame ethische Konzepte sind wir metaphysisch obdachlose, traurige Kinder ohne Perspektiven.
Es gibt eine Menge Angst zu verdrängen. In den Medien ploppt das schlechte Gewissen dann wieder verzerrt auf.  Wir starren dort in einen grässlichen Spiegel und das gibt uns noch mehr Motivation, uns eine eigene ganz private Privatmatrix zu basteln und sei sie noch so absurd. Besser eine eigene idiotische Matrix, als das hier, das Reale. Denn das wissen wir längst. Realität ist eine Frage der Perspektive. Doch genau diese fehlt uns zunehmend. Der Ausblick auf die Realität verdunkelt sich seit Jahren zunehmend und wir sind nicht handlungsfähig bzw. wandlungsfähig. Es geht alles viel zu langsam. In sechs Jahren haben wir unseren Carbon-Kredit aufgebraucht und  die Erde erwärmt sich um weitere 1,5 Grad. Noch mehr Eis schmilzt und das einfließende Süßwasser lähmt die thermohaline Zirkulation. Wir stehen damit kurz vor dem endgültigen Tipping Point. Was kommt auf uns zu? Zunahme der Wetterextreme, Anstieg des Meeresspiegels mit Überschwemmungen auch vieler Teile Europas. In der letzten Warmklimaphase (Miozän vor 15 Mio Jahren) war Europa von Flachmeeren überschwemmt und in Inseln aufgeteilt. Es wird zu einer weiteren Ausbreitung parasitärer Erkrankungen kommen, Zunahme pandemischer Zoonosen. Der Sauerstoffgehalt der Luft wird sinken und es werden Teile der Welt unbewohnbare Wüsten werden. die Zunahme von toxischen Algenblüten (Cyanobakterien im Meer) wird zu einem Massensterben der Fauna führen. Unsere Nahrungskette bricht zusammen. Und das alles geht sehr schnell. Einfach gesagt: Wir werden ertrinken, verbrennen und verhungern. Dass sich die Herde nun auflöst und in Panik zerstreut? Ist das ein Wunder? Und wie soll man einen Autoritätsverweis akzeptieren, der uns beweist, dass wir sehenden Auges und völlig chancenlos auf den Abgrund zurasen und noch nicht einmal auf Erlösung hoffen können? Wir ertrinken, ersticken, verbrennen, verhungern ohne jeden Sinn. Alles selbst verschuldet durch unsere Maßlosigkeit. Ach! Alles Lügen, Lügen, Lügen!!

 

Streifschuss vom 22. Juli 21

 

Anlass: Angst ist für die Seele ebenso gesund wie ein Bad für den Körper - Maxim Gorki

 

Scary me up

 

Die beiden israelischen Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky entwickelten 1979 eine so genannte Erwartungstheorie nach der wir Menschen eher risikoscheu sind. Wir  verzichten auf einen unsicheren großen Gewinn zugunsten eines wirklich sicheren kleineren Gewinns. Dieses Verhalten basiert nicht auf Fakten. In einer Studie mussten die Probanden entscheiden, ob schwer erkrankte Patienten eine heilende Operation durchführen lassen oder nicht. Die eine Gruppe bekam die Information, dass die Operation 90 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit hat. Die zweite Gruppe bekam die Information, dass die Operation eine Sterberate von 10 Prozent hat.  Tatsächlich stimmte die erste Gruppe für die Operation und die zweite Gruppe gegen die Operation. Das bedeutet im Klartext, dass eine so einfache Prozentrechnung nicht ausschlaggebend ist. Denn 10 Prozent Sterberate entspricht 90 Prozent Überlebensrate. Man kann uns Menschen also leicht Angst machen, ohne sich dabei um die Fakten zu kümmern. Unser Verhalten ist leicht zu erklären. In einer Bedrohungssituation wird nicht unser komplexes Großhirn aktiviert, sondern unser evolutionär sehr altes Stammhirn. Mit diesem Stammhirn kann man schneller atmen, den Herzschlag beschleunigen, die Muskelspannung erhöhen aber nicht rechnen. In den letzten 20 Monaten haben sowohl die Journalisten, als auch die Politiker in wesentlicher Hinsicht Stammhirn-Politik betrieben. Die leichte sprachliche Ähnlichkeit zum Wort „Stammtisch-Politik“ ist natürlich rein zufällig.  Inzwischen haben sich viele Menschen an diese Stammhirn-Politik adaptiert und entwickelten eine gewisse Angst-Lust. Jeder Artikel mit einem Bedrohungsszenario aktiviert unser Stammhirn und wir erleben dabei eine Art Lustgewinn. Das ist schon ein wenig pervers. Vor allem dann, wenn die Fakten keine Bedeutung haben. Man könnte nämlich von der Flutkatastrophe auch so berichten: Es haben mehrere Millionen Menschen die jüngste Flutkatastrophe überlebt. Natürlich würden wir so eine Nachricht als beruhigend und belanglos empfinden. Die so genannte „gute Nachricht“ ist dabei meist eine Anekdote mit kuriosem Inhalt. Zum Beispiel überlebte eine niederländische Kuh die Flutkatastrophe. Sie trieb rund 100 Kilometer weit in den Fluten dahin,  bis sie lebend gerettet werden konnte. Der Besitzer der Kuh konnte sie dann an der Grenzstadt Nimwegen unbeschadet in Empfang nehmen und wieder in seinen Stall zurückbringen.
Man könnte über die Pandemie auch so berichten: In den letzten 20 Monaten haben über sechs Milliarden Menschen die Pandemie unbeschadet überlebt. Die Fakten haben sich nicht geändert. Doch der Effekt einer solchen Nachricht wäre natürlich nicht sinnvoll. Wer würde sich impfen lassen oder eine Gesichtsmaske tragen? Ich will hier weder die Pandemie klein reden, noch die Flutkatastrophe. Schon in der Erwähnung der Worte „Pandemie, Katastrophe“, ist doch offensichtlich, dass es sich um eine Bedrohung handelt. Angst ist dennoch ein ungutes Gefühl. Auch wenn wir lernten einen Lustgewinn aus ihr zu ziehen, ist Angst ein handlungshemmendes Gefühl, das langfristig die Paranoia fördert. Und jetzt beschweren sich genau die Leute, die seit Jahren die Angst fördern und unter die Leute bringen (die Journalisten und Politiker) über die paranoiden Verschwörungstheoretiker! Das ergibt keinen Sinn.


 

Streifschuss vom 13. Juli 21

 

Anlass: Gefeuerte Literaturkritiker

 

Literatur im Fernsehen

 

It ain’t what you don’t know gets you into trouble. It’s what you know for sure that just ain’t so. (Mark Twain)

 

Literatur im Fernsehen hat mehrere gute Gründe für sich. Jährlich werden in Deutschland ca. 80.000 Neuerscheinungen gedruckt und auf den Markt gebracht. Das ergibt einen Bücherstapel von etwa 4.000 Metern Höhe. Ein hübsches Türmchen Lesestoff den niemand mehr vollständig bewältigen kann. Ohne Schlaf bräuchte man 100 Jahre, um diesen jährlichen Bücherturm zu lesen. Es ist klar, dass hier eine Menge Lesestoff einfach unter den Tisch fällt. Jede Neuerscheinung steht in einem Verlagskatalog, den jeder lesen kann. Cover, Klappentext und Buchrücken sind allerdings nur bedingt aussagefähig. Hat man von dem Autor schon mal was gehört? Ist man ihm bei einer Veranstaltung begegnet, hebt ihn der Verleger besonders hervor unter seinen Autoren? Wie kommt man ins Feuilleton? Wie kommt man ins literarische Quartett? Wie schafft man es in eine Radiosendung? Und ist der literarische Kanon von Denis Scheck wirklich hilfreich? Feuilleton, Fernsehen und Radio sind zusätzliche Lesefilter. Die zuständigen Journalisten sind damit aber auch Orientierungshilfen und prägen unser Leseverhalten. Regulative Ideen darüber, was wir lesen sollten, brauchen eine Theorie. Weder Denis Scheck noch Reich-Ranicki haben bzw. hatten eine solche Theorie. Sie präsentieren nur sich selbst und ihren subjektiven Geschmack. Das dürfen sie auch. Selbst wenn sie keinen Geschmack haben.

Wer einmal die Frankfurter oder Leipziger Buchmesse besucht hat weiß, was es bedeutet im Buchmarkt die Orientierung zu verlieren. Für die Journalisten ist eine Buchmesse eine Schlacht. Vom Sektempfang am Verlagsstand 3.1 Nr. 92 bis zur Lesung drei Blöcke weiter hetzt der Journalist durch die Hallen. Sieht man ihn rennen, hat man eher den Eindruck, der Journalist sei auf der Flucht vor den auf ihn einstürzenden Büchertürmen. Verleger und Autoren sind eindeutig in der Überzahl und jagen die Journalisten quer durch die Hallen. Das ist jetzt natürlich eine Karikatur von mir. Um solche Jagdszenen zu vermeiden, entstand mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis zwischen Verlag und Journalist. Doch wer kontrolliert das? Ein Schelm, der Böses dabei denkt…

Jede Dienstleistung und jede Ware wird in Deutschland wenigstens in Stichproben geprüft. Vom Reinheitsgebot des Bieres, bis zum Gütesiegel verdammter Eier - jede Ware wird geschützt. Die Literatur dagegen ist Freiwild und Verbraucher können sich bei der öffentlich finanzierten Verbraucherzentrale nicht über Bücher beschweren. Versuchen Sie doch mal, sich bei der Verbraucherzentrale zu beschweren (nutzen Sie das digitale Kontaktformular) über ein schlechtes Buch, das Sie gelesen haben, über ein Buch das nicht hielt, was es versprach. Der gesamte Buchmarkt kontrolliert sich nur noch selbst und die Leser haben das Nachsehen. Der Literaturbetrieb ist ein neoliberales Monster geworden. Neulich hörte ich in einem kleinen Interview auf youtube eine Autorin sagen, dass sie für ihren Verlag „lesefreundlich aufbereitete Geschichten“ schreibe. Ich spürte daraufhin eine schmerzliche intellektuelle Übelkeit und suchte sofort in meinem Bücherregal nach einer möglichst leseunfreundlichen Geschichte als Gegengift.

Die Aufgabe von Feuilleton, Fernsehen und Radio ist kompliziert. Ästhetische Urteile sind immer subjektiv. Spätestens seit Gotthold Ephraim Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767-69) die formalen Regeln des Barock für überholt erklärte und das Hauptziel des Dramas in der Katharsis anlegte, können Dichter machen was sie wollen. Hauptsache ist: es gefällt dem Leser. Im 17. Jahrhundert konnte man noch von falscher und richtiger Dichtung sprechen. Heute fehlen uns sämtliche Kriterien. Wir haben einen herrlichen Wildwuchs und erleben eine intellektuelle Freiheit, die es nie gegeben hat. So viel Freiheit kann leicht in die Anarchie münden. Auf die Anarchie folgt naturgemäß die Tyrannei. Daher ist es so wichtig, Literatur außerhalb des Mainstreams zu fördern. Diese Aufgabe ist so kompliziert, weil man sich auf den vielen Nebenstraßen verirren kann und nicht mehr zurück findet. So mancher Journalist ging schon verloren in den unendlichen Weiten des Literaturbetriebs. Wer ein Buch empfiehlt, das sonst niemand empfiehlt, ist ähnlich verloren wie ein Autor, der ein Buch schrieb das niemand lesen will. Es müsste Literatursendungen geben, die eine Art Geographie der literarischen Landschaft zeichnen, eine Art Wanderratgeber für Leser. Nicht nur „Neues vom Buchmarkt“, sondern Sendungen und Texte die dem Leser ein Konzept liefern, dass er sich selbstständig in der literarischen Landschaft zurechtfinden kann. Einen mündigen Leser fördern! Das ist die Aufgabe von Feuilleton, Radio und Fernsehen. Eine öffentlich-rechtliche Literaturbildungsinitiative (Komposita-Monster)!
 

Streifschuss vom 10. Juli 21

 

Anlass: Mehr Aktivität für Verschwörergehirne

 

Per Lichtschalter zum Roman

 

Für einen wirklich guten Verschwörungstheoretiker könnte es sich bei Covid19 um optogenetisch veränderte Viren handeln. Dieses Verfahren wird schon länger in der Forschung genutzt, um gezielt Nervenzellen mit Lichtsignalen ein- oder ausschalten zu können, also für eine gezielte Verhaltensmanipulation durch Licht. Die Grünalge verfügt über Halorhodopsine, die aus ihr isoliert werden und in einen Virus übertragen. Diesen veränderten Virus injiziert man in das Mäusehirn und dieses Mäusehirn produziert fortan lichtempfindliche Ionenkanäle im Gehirn. Also da, wo im Gehirn der Denkstrom verläuft kann man dann mit einem Glasfaserkabel Licht einer bestimmten Wellenlänge in das Gehirn leiten und so die Ionen-Kanäle gezielt aktivieren oder deaktivieren. Es gibt also einen unmittelbaren Zusammenhang mit Covid19 und dem Internet. Das Licht der Bildschirme beeinflusst den durch das Virus veränderten Menschen in seinem Verhalten und so lassen sich dann gezielt Menschen steuern.  Nun. Das klingt so herrlich wissenschaftlich und ist natürlich kompletter Unfug. Der Trick ist hier, wissenschaftliche Fakten mit Fiction zu mischen. Das ist eine gut bewährte Technik für SF-Literatur. Leider gibt es sehr viele Menschen, vor allem Männer die keine Fiction lesen. Sie sind eindeutig anfälliger für Verschwörungen, denn sie glauben alles und können nicht mehr unterscheiden zwischen der Halluzination (ihren Vorstellungen und Visionen) und den reinen Fakten, die sie als geübter Fachartikel-Leser konsumieren.
Wollen wir wirklich gegen diese immer mehr um sich greifende Seuche der Verschwörungstheorien vorgehen, schlage ich eine verbesserte Literaturförderung vor. Und vor allem eine Leseförderung. Statt Autowerbung sollte man zur besten Sendezeit in den öffentlich-rechtlichen Sendern Literaturwerbung betreiben. Aber Literatur im Fernsehen? Ab 01.00h nachts. Da ist der Verschwörer schon längst in seiner Verschwörung abgetaucht und kann nicht mehr erreicht werden. Nein. Zwischen Prostatamedizin und Audi, zwischen Margarine und Mercedes, gehört die Literatur gezielt in blaues Licht getaucht auf die Bildschirme. Das EM-Finale wird gesponsert vom Diogenes Verlag -  dann sieht man die Fresse eines bekannten Schriftstellers und die optogenetisch veränderten Verschwörergehirne werden gezielt zum Lesen von Romanen gezwungen. So sollte das doch klappen, dass auch ein Mann mal einen Roman liest und so langsam lernt Fiction von Fakten zu unterscheiden.

 

Streifschuss  vom 06. Juli 21

 

Anlass:  Der Gunnery Sergeant Hartman der Grünen

 

Ihr werdet mich nicht mögen, weil ich hart bin

 

Jetzt habe ich natürlich auch keine gute Meinung von Leuten, die einen Termin vereinbaren und dann nicht erscheinen. Aber es ist eine Anmaßung und eine Unverschämtheit von Politikern, von „Impfschwänzern“ zu reden, als wären wir alle nur kleine ABC-Schützen in der Staatsschule. Dieses paternalistische Gehabe unserer Politiker ist ziemlich daneben. Sie plagiieren, hinterziehen zur Parteienfinanzierung Steuergelder, betrügen uns nach Lust und Laune (Maskenbetrug), bekommen es mit den Impfstoffen hinten und vorne nicht auf die Reihe und am allerschlimmsten sind die Heuchler, wie Winfried Kretschmann, ein kackbraun-grüner Autohändler aus Baden-Württemberg.  Ausgerechnet dieser Bürstenschädel, der sich vom einstigen Paulus in einen Saulus wandelte und damit bewies, dass es in der Politik völlig egal ist woran man glaubt, ausgerechnet diese Landesvater-Karikatur forciert weiter die gesellschaftliche Spaltung. Hier die Geimpften, die Guten, die Fürsorglichen, die Braven – dort die Ungeimpften, die Bösen, die Unverantwortlichen, die Schwänzer. Die Seuche wird somit zu einer Art Parameter für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Schon zu Beginn der Seuche wurde die Gesellschaft auf die Probe gestellt. Dort die Alten, Unbrauchbaren, hier die Jungen, die noch was leisten können. Wenn man will, dass wir stärker generative Verantwortung übernehmen sollen, dann wäre es hilfreich wenn man erwachsene Menschen nicht wie trotzige Schulkinder behandelt. Auf diese sehr preußische Art mit der Kretschmann in seiner maßlosen Selbstüberschätzung auftritt könnte er auch einen Gulag führen. Wie gesagt: Ich bin sehr für Impfung. Als ich mich beim Impfzentrum anmeldete, bekam ich eine Email die mir drohte, wenn ich mich melde, denn sie würden sich bei mir melden. Sie taten es aber nicht. Stattdessen bekam ich einen Impftermin durch Zufall bei einem 30 Kilometer entfernten Arzt. Ich lebe in München-Sendling mit einer Arztdichte die so hoch ist, dass man mich mit einem Spritzwurf ins Fenster impfen könnte, aber ich musste 30 Kilometer fahren für meine vier Dollar teure Impfdosis von AstraZeneca, die sich nun als ganz plötzlich als nicht wirksam genug entpuppt und ich muss nun Politikern vertrauen, dass die Misch-Match-Variante mit Biontech hilfreicher ist. Das Durcheinandertal deutscher Politik ist an Provinzialität und Schlamperei kaum noch zu überbieten. Aber der Schuldige wird dann im „Impfschwänzer“ gesehen. Nochmal: Es ist kein guter Charakterzug, Termine einfach nicht wahrzunehmen und es erschwert natürlich  die Arbeit von Ärzten (die auch ziemlich allein gelassen werden von der Politik). Aber es gilt nachwievor das Grundgesetz in Deutschland und es gibt immer noch keine Impfpflicht per Gesetz. Auch wenn es sich längst so anfühlt.

Ich bin geimpft und habe schon in meinem letzten Streifschuss (Von der Herde) die globale Leistung der Wissenschaft gelobt. Doch die deutsche Politik kann ich unmöglich loben. Sie zeigt sich eingebildet, paternalistisch und unfähig. Es ist eine Politik die mir das Wählen versaut. Leuten wie dem Kretschmann sollte man daher deutlich klar machen, dass er zwar Landesvater ist, aber nicht mein Papi.

 

 

Streifschuss vom 23. Juni 21

 

Anlass: Wenn Orpheus einen Stimmbruch hat

 

Wenn Kunst sich selbst erschafft

 

Miles Davis sagte einmal über seinen Konkurrenten Ornette Coleman, dass dessen Spiel respektlos sei gegenüber denen, die ihre Instrumente beherrschen. Und in der Tat! In Colemans letzter Scheibe Sound  Grammar spielt Coleman Geige, er spielt viel Geige. Dabei so genial schlecht, dass man aufspringen und „Chapeau“ rufen will auf dass das Geigen nie enden möge. Und auch in der Literatur ist die Geige nicht selten ein disruptives Instrument zur Offenbarung lebendiger Kunst.

Wir haben das Schöne durch kosmetische Operationen auf ihre Oberfläche reduziert und benötigen daher dringend – um den aktuellen Lieblingsausspruch deutscher Sportreporter zu benutzen: mehr Tiefe. Unter der Oberfläche der zur Ware reduzierten Kunstwerke, sei es ein Bild, ein Musikstück oder ein Text, suchen wir vergeblich nach organischer Lebendigkeit. Wir haben es mit chirurgisch unterwanderten Kunstwerken zu tun, mit Kunststoff, mit Scheinkunst. Der Kunst wurde das Wasser entzogen und das Vakuum zwischen den Zellen mit Silikon aufgefüllt. Im Kapitalismus gibt es keine echte Kunst mehr. Die Arbitrarität von Kunst nagt am Bewusstsein des Künstlers. Die Inkongruenz seiner kreativen Verfasstheit und die realen Auswirkungen seines schöpferischen Treibens machen den Künstler anfällig für ästhetische Fehlinterpretationen. Dieser Riss zwischen Welt und Seele (altmodisch gesagt) wird einfach zugegossen mit Kunstharz. In unseren Regalen stehen Mumien. Die Schönheit wurde in Scheiben geschnitten. Tote Exponate. Nichts lebt. Und wer einen Hauch von Leben äußert, wird sofort exekutiert. So müssen sich die lebenden Künstler verstecken, leben in Angst und Schrecken, immer unter Anspannung auf der Flucht vor dem Polymer der Kapitalisten. Jenseits der Märkte, in versteckten Kleinoden hämmern und zimmern sie noch an einer elfenbeinernen Jungfrau. Der warme Kuss des Künstlers erweckt sie zum Leben, sie biegt sich – und … so sehr verbirgt sich die Kunst in der eigenen Kunst: ars adeo latet arte sua.

Der Pygmalion-Effekt, den der Deutschamerikaner Robert Rosenthal in den 1960er Jahren experimentell belegte, sagt auch etwas über die Bewertung von Kunst. Wenn erst eine Erwartung aufgebaut wurde, wird sie erfüllt. Niemand möchte in seinen Erwartungen enttäuscht werden. Da spielt es nicht einmal eine Rolle, ob man etwas Schlechtes oder etwas Gutes erwartet. Und niemand will wohl die Erwartungen anderer enttäuschen. Auf dieses Trugbild baut unsere Kunstökonomie. Es ziemt sich nicht, den Gestank der präparierten Kunst-Leichen in den Regalen zu riechen. Der tote, nach Plastik miefende Gestank kapitalistischer Produktivität ist im Vergleich mit der lebendigen und echten Paphos nicht annähernd so wohl duftend wie er sich präsentiert. Das sich Paphos aber aus Angst davor, in Scheiben geschnitten, präpariert und ausgestellt zu werden, verstecken muss, versteckt sich die Kunst im Kapitalismus in der Kunst. Diese Erkenntnis hatte schon Georg Lukács in seiner Romantheorie. Wenn sich innere Zerstörung durch äußere Ästhetik vermittelt, müsste sich innere Ästhetik durch äußere Zerstörung vermitteln. Diese disruptive Kraft der Kunst zeigt sich daher nicht im Schönen.  

 

Streifschuss vom 18. Juni 21

 

Anlass: ein altkluges Resümee

 

Von der Herde

 

Vierhundertfünfundachtzig Tage nach dem Lockdown vom 17. März 2020 und hundertzweiundneunzig Tage nach der ersten Impfung am 08. Dezember 2020 durchgeführt an der 90-jährigen Britin Margarete Keenan, über drei Millionen Tote später und fast zwei Milliarden Impfungen später, scheint es einen Sommer zu geben, der nicht nur heiß ist, sondern sogar virustatisch. Weniger Aerosole in der heißen Luft und mehr UV-Strahlung – was ein Strahlenvirus (Corona) scheinbar als Konkurrenz empfindet – lassen die Inzidenz-Zahlen schön sinken. Auch ich wurde nun geimpft (50 Prozent aller Deutschen inzwischen), ein halbes Jahr nach Margarete Keenan. Es ist eine wahnsinnige Leistung, die manche Wissenschaftler schon mit dem bemannten Flug auf den Mond verglichen haben. Und wenn man das ohne Ressentiment und ganz entspannt betrachtet, dann ist die Impfaktion die größte globale Friedensaktion aller Zeiten. Das Virus hat nicht nur die ganze Welt erfasst, machte keinen Unterschied in den Nationen, es war nun die letzten 15 Monate dauerpräsent. Wann hat zuletzt ein Thema 15 Monate die internationale Presse täglich beschäftigt? Wann überhaupt einmal? Die meisten Nachrichten werden schon nach wenigen Stunden durch neue Nachrichten ersetzt. Das Virus hielt sich und mobilisierte nicht nur die Wissenschaft. Trotz mancher Unvernunft war die letzte Zeit doch gekennzeichnet von einer herausragenden Disziplin der Menschen. Sie hielten Abstand, verringerten ihren Mobilitätsdrang erheblich und trugen klaglos ihre Masken. Daher ist es einmal an der Zeit, diese Fakten herauszustellen. Eine nie dagewesene globale Impfaktion die von der Entwicklung verschiedener hoch wirksamer Impfstoffe durch die Pharmakonzerne bis zum normalen Hausarzt den Lebenswillen der Menschheit beispielhaft demonstrierte und weiter demonstriert. Die Opfer waren groß und so mancher kämpft sich immer noch ins Leben zurück. Natürlich müssen wir weiter alle über diesen Schock hinaus nachdenken. War dies nur ein einmaliges Ereignis? Oder war es der Startschuss für weitere Katastrophen, die der Mensch auch selbst hervor ruft? In der Gain-of-function-Forschung wird mit Absicht die Mutagenität und Virulenz von Viren erhöht. Und ein Schelm, der Böses dabei denkt. Es ist immer noch nicht abschließend erwiesen, ob Covid-19 nicht doch ein Labormonster war. War die Pandemie ein klimatisches Ereignis (Mensch und Tier rücken näher zusammen und erhöhen die Gefahr von Zoonosen), war es wissenschaftliche Hybris, war es einfach nur Gottes Wille, eine Art mikroorganismische Sintflut? Was auch immer es war bzw. ist, es hat viel verändert und manches auf den Punkt gebracht. Ein weiteres Mal in der Menschheitsgeschichte wurde uns mehr als deutlich vor Augen geführt, wie verletzlich wir sind und ein weiteres Mal hat der Mensch als Menschheit reagiert. Diese kollektive Reaktion überschattet aber auch die individuellen Schicksale und begrenzt die individuellen Freiheiten. Es wird daher eine Zeit brauchen, um wieder ein neues Maß zwischen kollektivem Überlebensdrang und individueller Freiheit zu gewinnen. Mit den Spuren der Verwüstung und den Errungenschaften und neuen Hoffnungen gleichzeitig umzugehen, das sind die nächsten Herausforderungen. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist gestiegen und wird weiter steigen. Wenn wir als Kollektiv, als Menschheit nicht nur überleben wollen, sondern auch leben, dann muss unsere nächste große Friedensaktion darin bestehen Hunger, Not und Elend im großen Stil zu bekämpfen. Die Hälfte aller Menschen die mit oder an Covid-19 verstarben, lebte in den USA, Brasilien, Mexico und Indien. Es ist auch deutlich zu sehen, dass die arme Bevölkerung einen geringeren Schutz genießt, höhere Hürden zur Gesundheitsvorsorge zu bewältigen hat und das liegt nicht nur an dem klassischen Bildungsrückstand, sondern an Armut. Auch kluge Menschen können arm sein. Die Herde sollte sich nicht abwenden von denen, die bedürftiger sind. Doch hier ist das Kollektiv meist korrumpiert, denn es stellt Bedingungen und opfert das Individuum immer zugunsten des Kollektivs. Diesen dialektischen Widerspruch gilt es anzugehen.

 

Streifschuss vom 08. Juni 21

 

Anlass: Zueignung in Prosa

 

Oh sähst du voller Mondenschein, zum letztenmal auf meine Pein…

 

In den letzten Tagen tauchten ein paar schwankende Gestalten erster Liebe und Freundschaft mit trübem Blick erneut in meinem Leben auf. Sie waren – wie ich – dem Geisterreich auch schon deutlich näher gekommen. Und so überlegte ich, ob das, was mir entschwunden in die Erinnerung, tatsächlich mehr Wirklichkeit war, als die Zeit selbst an der mich eine höhere Gewalt festgenagelt hat. Leben wir schon während wir leben in der Erinnerung? Bin ich mir selbst ein Schatten? Vom Licht zerstreut in die Dunkelheit vergangener Zeiten hineingeworfen?
Ich wechsle die Tonart. Neben alten Freunden, die sich bei mir meldeten, die sich erinnerten, las ich für meine Vortragsrecherchen regelmäßig über historische, längst verstorbene Künstler, Schriftsteller, Gelehrte. Immer öfter fiel mir dabei auf, dass ich bereits älter geworden war, als die Verstorbenen es wurden. Das stellte ich mit gemischten Gefühlen fest. Einerseits beneidete ich die Toten. Sie hatten diesen Irrsinn des Daseins hinter sich, den Schatten der Erinnerungen zurück gelassen und ruhten sich nun irgendwo von allem aus. Ich kam mir vor, als wäre ich bei einem Date versetzt worden, vergessen, ausgesetzt in dieser elenden Hölle. Dann hörte ich jemanden sagen: „Was jammerst du hier rum? Du kannst doch jederzeit gehen! Niemand hält dich hier!“ Und dann schielt mich die Person einen Heuchler. Ja das mochte wohl sein. Die Zeit ist ein Berg. Und ich konnte von Weitem bereits das Gipfelkreuz sehen. Es erschien mir unanständig, nach so langer Wanderschaft vor dem eigentlichen Ziel aufzugeben.

Nun fürchte ich – um in den Präsens zu wechseln - mein Weg zum Gipfel des Berges wird immer steiler und beschwerlicher werden. Dann würde ich tatsächlich auf das Ziel pfeifen und vorzeitig in die Tiefe stürzen. Denn oben auf dem Gipfel des Berges wartet auf mich auch nur ein Grab. An Dantes Horroroman will ich da nicht denken. Aere sanza stelle, che sanza speme vivemo in disio. Eine Luft ohne Sterne, Sehnsucht ohne Hoffnung. Man kann nur mit Vergil antworten: qui si convien lasciare ogne sospetto; ogne viltà convien che qui sia morta. Keine Hintergedanken mehr, jedes weiche Mitleid muss hier sterben. Zwar befinde ich mich gerade in der Hölle des Daseins, doch verspricht mein Tod nicht zwangsläufig Hoffnung auf ewige Ruhe.
Als schlechte Nichtigkeit/ als Schatten/ Staub vnd Wind;
Als eine Wiesen-Blum/ die man nicht wider find’t.
Noch wil was ewig ist/ kein einig Mensch betrachten!

So dichtete einst Andreas Gryphius. Die Ewigkeit kann kein Mensch überblicken. Die Zeit ist immer und ewig, ich nur ein endlicher Schatten der Vergänglichkeit. Ein blasses Aufleuchten. Nichts kann da noch von Bedeutung sein. Und doch: Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice ne la miseria. Kein größerer Schmerz, als im Elend den glücklichen Zeiten nachzutrauern. Wozu? Also lösch deine Erinnerungen, oder lege einfach einen Aktenordner an in dem sie keine andere Bedeutung haben, als die Erinnerung Fremder. Erinnerungen sind Allgemeingut. Jedes Subjekt ist selbst nur ein Schatten und hat kein Recht darauf, Erinnerungen ganz sein eigen zu nennen.
Jene Geister vergangener Tage hielten mir das Labyrinth vom irren Laufs des Lebens vor Augen. Ein Homo viator? Ha! Weder kann ich mich vom Dasein lösen, noch komme ich irgendwo an. Weder ein Ziel, noch ein Zweck. Der Berggipfel ist nur eine optische Täuschung, alles nur ein Zauberhauch. Die Welt ist nur eine teuflische Institution und einen Gott hat es nie gegeben. Die meisten Menschen haben sich längst mit dem Teufel arrangiert, in Ermangelung eines anderen Herrn. Ich kann dem Teufel nicht dienen. Ich kann nicht, selbst wenn ich wollte. Da es aber nur diesen einen Herrn gibt, erwartet mich aufgrund meines Ungehorsams eine ganz besondere Hölle, bzw. befinde ich mich längst in ihr. Und der Witz meiner speziellen Hölle ist der Mangel einer Pointe, ein Witz der nicht endet. Ein schauriges Lachen aus dem tiefsten Schlund – ed elli avea del cul fatto trombetta… mehr, mehr kann ich nicht erwarten.

 

Streifschuss vom 29. Mai 21

 

Anlass: Das Boot ist nicht voll, es ist schon gesunken // alle Mann von Bord - sind anderswo ertrunken

 

Zäsur

 

"Das Leben ist ein Meer, der Fährmann ist das Geld: // Wer diesen nicht besitzt, schifft übel durch die Welt." – dichtete einst der Schwabe Weckherlin, schon vor Martin Opitz im eingedeutschten Alexandriner mit alternierendem Versmaß. Das gilt heute noch und galt vor über 400 Jahren auch schon. In diesem Sinn dichtete der viel in der Welt herumreisende Schwabe und Hofdichter in Mömpelgard Weckherlin weiter: „Wer, wenn er zwanzig Jahr nun alt, // Hat noch nicht schöne Leibsgestalt, // Und keine Stärke, wenn er dreyssig, // Wenn vierzig, kein Hirn noch Verstand, // Und fünfzigjährig, nicht ist fleissig, // Noch reich an Geld, Gut oder Land; // Der wird sehr schwerlich hier auf Erden // Schön, stark, weis', oder häbig werden."

Ja. Vor 400 Jahren reichten Kraft und Verstand noch aus für einen fleißigen Bürger, um reich an Geld, Gut und Land zu werden. Ein wenig musste man zwar auch in Weckherlins Zeit in Ärsche kriechen, vornehmlich in Fürstenärsche (Weckherlin tat das mehrfach, zuletzt in den Arsch von Johann Friedrich von Württemberg). Man musste allerdings höllisch aufpassen, ob man einen Jesuiten, Calvinisten, Lutheraner oder Katholiken vor sich hatte. Letztere waren von allen an lockersten, denn für einen Katholiken reichte meistens Geld aus, um ihn zu überzeugen. Für Calvinisten war Geld per se Ausdruck göttlicher Gnade, sonst hätte Gott einen ja nicht mit Reichtum gesegnet. Kraft und Verstand helfen heute gar nichts mehr. In Ärsche muss man (kann man?) nicht mehr kriechen, weil dort ohnehin kaum noch Platz ist. Geld ist längst ebenfalls eine trügerische Substanz geworden. Geld hilft nur noch, wenn man so viel davon hat, dass das Geld für sich selbst sorgen kann. Hat man aber nur so viel Geld, dass es zum Leben reicht, zahlt man bereits Negativzinsen. Wer hat, dem wird immer noch gegeben, aber nur, wenn man richtig viel hat. Daher gibt es zwei Arten von Freikostgängern. Einmal den Bettler und Bedürftigen, der durch Mitleid verköstigt wird, getarntes Mitleid wohlgemerkt. Denn diesem Mitleid liegt meist das Bedürfnis zugrunde den stinkenden Penner endlich wieder los zu werden. Friss und stirb. Die zweite Art Freikostgänger sind solche, die so viel Geld haben, dass niemand mehr von ihnen verlangt ihre Rechnungen zu bezahlen. Ja. Das gibt es in der Tat. Viele Superreiche wissen gar nicht, wie es ist, einen Geldschein einem anderen zu überreichen. Von Hand zu Hand. Das kennen diese Leute gar nicht.

Mit Weckherlin könnte man daher dichten: „Das Dasein ist nicht fair // Und Charons Kasse ist leer.“  
Wer mit Fünfzig immer noch fleißig ist, der hat wirklich nichts begriffen und wird sich wohl ins Grab schuften müssen. Kraft und Verstand verbraucht und morsch die Knochen, sinkt man unter die Radieschen und beißt ins nebenliegende Gras. Da sich der berühmte Fährmann längst verpisst und das Jenseits seine Türen wegen Überfüllung geschlossen hat, verrotten wir alle auf einem gottlosen Acker. Danket dem Herrn! Wem?

 

Streifschuss vom 27. Mai 21

 

Anlass: Sind wir ein Kollektiv oder doch lieber allein?

 

Hundert Jahre sind eine lange Zeit oder?

 

In Descartes, Calderon, Balzac, Verdi kulminiert die Rasse, in Kant, Shakespeare, Goethe, Beethoven die Menschheit. Diesen Satz könnte heute keiner mehr schreiben. Egon Friedell schreibt ihn, 1931 im zweiten Buch seiner Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Grundidee für diesen Satz erläutert er in der Gegenüberstellung des romanischen Kollektivbewusstseins, das dem Germanischen fehlt. Das Germanische ist individuell, weniger gleichförmig, ja freiheitsliebender. Der Genie-Kult in Deutschland wäre in Spanien undenkbar gewesen. Die romanischen Kulturen unterwerfen sich den Konventionen, den Traditionen, den Gesetzbüchern eher, als die germanischen Kulturen. Unangenehm an dieser Ideengeschichte von Friedell ist das Denken in Schablonen. Friedell erklärt den Unterschied verschiedener Kulturen durch den Unterschied der Kulturen. Das ist ein klassischer Zirkelschluss bei Friedell und es enttäuscht ein wenig, dies bei einem so gebildeten und belesenen Menschen vorzufinden. Aber zu seiner Entschuldigung muss man sagen, dass vor 100 Jahren diese Schablonen gängig waren. Keiner zweifelte an diesem Trugschluss, es gäbe so etwas wie romanische oder germanische Kulturen. Natürlich gibt es auch heute noch Mentalitätsgefälle. Ein Rheinländer kommt wohl kaum mit einem mürrischen Niederbayern aus. Aber stimmt das auch? Vielleicht denken wir alle heute nicht mehr so, weil überall ein McDonald-Laden steht? Eine äußere Uniformität ermöglicht uns innere Freiheit? Doch dann las ich in einem aktuellen Aufsatz der Zeitschrift Gehirn und Geist folgenden Satz: „Individualistische Kulturen tolerieren sowohl positiven aus auch bösartigen Neid eher als solche, in denen Gemeinsinn betont wird und strengere Verhaltensnormen gelten.“ Ach? Ernsthaft? Schubladen sind einfach praktisch und sterben nie.

 Es sind nicht nur Gegensätze zu sehen zwischen Tradition, Konvention und Individualität und Freiheit. In meiner Freiheit binde ich mich an die Tradition des Naturrechts oder in meiner Individualität an meine eigenen Konventionen die auch nicht vom Himmel gefallen sind. Wir denken nur gerne (und vereinfacht) in solchen Gegensätzen. Das haben wir tatsächlich noch aus der Ära des Barock geerbt. Was ist denn nun der Unterschied zwischen oben und unten? Ein Oben kann ich nur denken, wenn ich mir zugleich ein Unten denke. So ergibt sich der Unterschied durch den gedachten Unterschied. Dann folgen Zuschreibungen, die einem analogistischen Denken entspringen. Oben ist der Himmel, unten die Hölle. Warum denn? Das erklärt niemand. Rudimente unseres in Signaturen eingeteilten Denkens. Und das ist eben das Denken von Jakob Böhme, der es wiederum von Paracelsus übernommen hat. Je höher man steigt, desto näher geraten wir an die Sonne und drohen uns zu verbrennen, je tiefer wir fallen, desto dunkler werden die Schatten der Berge die über uns hinausragen. Es ist klar, dass solche Bilder in unseren Köpfen die Sprache gestalten. Was also sind germanische Kulturen? Krieger, Wilde, freie Bündnisse kleiner Gruppen. Rom ist das Sinnbild geordneter Soldaten in Reih und Glied, die Idee der Conditio Humana als kollektives Menschenbild, das uns vom Tier unterscheidet. Wieder nur Unterscheidungen, die bei näherer Betrachtung verschwimmen. Denn was unterscheidet den Menschen vom Tier? Dass er sich vom Tier unterscheidet. Mehr nicht. Kollektiv oder individualistisch? Wir sind immer beides und immer sind wir es zugleich. Die jeweiligen Verfassungen und Rechtsgrundlagen in den unterschiedlichen Weltgegenden sind von so vielen historischen Zufällen bestimmt, dass nur ein Schelm dabei Böses denken kann. Wir suchen nach Mustern, weil wir Muster-Schüler sind, oder uns als solche fühlen. Wir sind die Krone der Schöpfung, Muster-Schüler der Evolution. Und wir werden – wie das mit den früh Vollkommenen oft geschieht – auch bald ausgemustert. Als Kollektiv und auch als Individuum. Das spielt dann auch keine Rolle mehr.

 

Streifschuss vom 25. Mai 21

 

Anlass: Warum vergräbt man Juristen mindestens zehn Meter unter der Erde? Weil sie tief im Innern doch gute Menschen sind.

 

Lob der politischen Klugheitslehre

 

Die Demokratie ist die schlechteste Verfasstheit der Menschen, denn in ihr will jeder ein Fürst sein. Es gibt keine frommen Menschen mehr, sondern nur noch solche, die Fuchs und Löwe sein wollen. Sie versuchen ständig die Gesetze zu umgehen (wie der Fuchs) und die Wölfe zu erschrecken (wie der Löwe). Den meisten gelingt das nicht so recht. Schon besser gelingt ihnen dieser Rat von Machiavelli: Aber man muss eine solche Fuchsnatur zu verschleiern wissen und ein großer Lügner und Heuchler sein.
Um Machiavelli zu vervollständigen, könnte man noch dazu sagen, dass man verschleiern muss, dass man kein Fuchs ist und die demokratische Heuchelei besteht darin, eine Tauglichkeit vorzuspielen, über die man selbst gar nicht verfügt. Der beste Beleg ist das Bewerbungsschreiben. Aber die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr den Bedürfnissen des Augenblicks, dass derjenige, welcher betrügt, stets jemanden finden wird, der sich betrügen lässt. Das einzige was die Menschen in der Demokratie davon abhält, sich gegenseitig zu zerfleischen, ist das Gesetz. Und das ist das Problem einer Gesellschaft, die von der permanenten Rückbindung an religiöse oder quasireligiöse Normen abhängt. Es fehlt der Glaube. Jeder glaubt doch was er will und hat sogar ein Recht darauf (Glaubensfreiheit). Denn die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes und jeder hat das Gewaltmonopol auf seiner Seite. Das ist letztlich der Naturzustand, wie das Thomas Hobbes definierte und weshalb er den sterblichen Gott über die Menschen stellte, die ihm ihren Willen anvertrauen und sich freiwillig zu Untertanen machen. Das würde heute keiner mehr tun. Und sie brüllen alle wie kleine Löwen. Das Volk (urgermanisch fulka „die Kriegsschar“) ist ein Haufen kleiner Löwen die sich für groß halten. Kein Widerstandsrecht für Katzen, die sich für Löwen halten!
Daher muss ein Fürst (ein Demokrat, A. d. A), wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit. Besser lässt sich ein demokratisches Gemüt nicht beschreiben. Die Gesetze sind vor allem für die gemacht, die Füchse sind. Am besten würde wohl die Demokratie funktionieren, wenn alle Staatsmitglieder Juristen wären. Denn Juristen sind alle schlau wie Füchse. Das ist im Bundestag ohnehin schon beinahe so. Der Bundestag funktioniert daher auch viel besser, als das Volk, das diesen Bundestag wählte. Eine Schar kleiner, tapsiger Löwen gibt alle vier Jahre den Füchsen die Macht.
Ein kluger Herrscher kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlasst hatten, sein Versprechen zu geben. Das ist eine Forderung von Machiavelli, die bei jedem Wahlplakat in der Vorwahlzeit wieder aufleuchtet. Die meisten Menschen vergessen die Versprechen der Politik im Laufe der Zeit und glauben dann, dass die von ihr aus ganz anderen Gründen gewählte Regierung genau das immer schon wollte. Was wiederum zeigt, dass die Menschen einfältig sind und sich leicht betrügen lassen. Ein absolutistischer Herrscher im Sinne von Thomas Hobbes müsste sich dagegen an den Vertrag mit seinen Untertanen halten.  Ein von den Untertanen gewählter Demokrat muss das offensichtlich nicht.

Da sie (die Menschen, A. d.A.) aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber nicht halten würden, brauchst auch du dein Wort ihnen gegenüber nicht zu halten. Diese Regel beschäftigt unsere Judikative ausgiebig und daher ist der Jurist so gefragt. Die Demokratie ist damit eine Juristenhochburg und verkörpert schon darin alle Übel der Welt.
Ein einziger Fürst der über den Gesetzen stünde, würde den Juristen nicht passen. Aber so ein absoluter Fürst wäre die Rettung der Moral. Alles andere macht keinen Sinn. Außer man ist ein Anarchist. Das wäre aber nur sinnvoll, wenn der Mensch sich bessern könnte. Aber in einer Demokratie zählt nur sein Glück, die Notwendigkeit zu handeln (egal ob gut oder böse) wenn es darauf ankommt. In der Demokratie zählt nur unsere Tatkraft egal ob wir gut oder böse sind. Unsere Gesetze haben mit Moral nichts am Hut. Sie sind nur Schlingen für die Dummen.

 

 

Streifschuss vom 23. Mai 21

 

Anlass: Lasset uns Taufen

 

Die Passion eines Zombies

 

„Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ So schildert irgendein Lukas das Pfingstereignis in der Apostelgeschichte. Parther, Meder, Elamiter, Kappadokier, Provinz-Asiaten, Mesopotamier, Libyer, Ägypter, Römer lebten zu der Zeit in Jerusalem und sie waren alle erstaunt: „Sind das nicht alles Galiläer die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören?“
Das war in der Tat seltsam. Petrus musste extra beteuern, dass diese Leute nicht betrunken waren, sondern der Geist Gottes auf sie geschüttet worden sei. Wie es ein gewisser Joel schon ein paar Hundert Jahre früher vorausgesehen hatte.  Das alles geschah bei einem jüdischen Erntedankfest. Diese Christen! Zungenreden war eine Gnadengabe. In diesem Fall war es die so genannten Xenoglossie. Den Begriff führte der französische  Arzt Charles Richet in den 1920er Jahren ein. Gelegentlich kann es unter hypnotischen Bedingungen dazu kommen, dass sich der Zungenredner in diesem kryptomnestischen Zustand an vergessene Idiome erinnert, ähnlich einem Déjà-vu. Stellen Sie sich vor sie befinden sich auf einem Hochzeitsfest der Mafia. Mitten im Feiern springen Sie auf und fangen an, pseudoitalienisch zu brabbeln. Da brauchen Sie wirklich dringend einen Petrus, der dem Mafia-Boss erklärt, dass Sie nicht betrunken sind, sondern der Geist Gottes über Sie gekommen ist. Wenn Sie Glück haben, fliegt gerade eine Taube vorbei, dann wirkt es noch glaubhafter. Der ganze Klimbim aber hat sich gelohnt. Pfingsten gilt als Gründungstag der Kirche, einer Institution die nun seit 2000 Jahren  in Zungen zu uns redet und das Patent aufs Zungenreden inne hat. In allen Sprachen der Welt wurde aus einem Untoten, einem Zombie namens Jesus ein Heiland. Diese nekrophile Tendenz strahlt jedes Kirchengebäude noch heute aus. Nicht umsonst setzte sich ein Priester verstärkt für die Zombies ein in Walking Dead.
Lukas gilt als Autor der Apostelgeschichte und Lukas war Arzt, später Begleiter von Paulus von Tarsus. Vielleicht ist wirklich ein Geistesgestörter lallend und schwankend wie ein Zombie durch Jerusalem gelaufen und sah ein bisschen aus wie der jüngst gekreuzigte Jesus. Lukas dachte, scheiße noch mal. Da kann man doch was draus machen. Jesus selbst hatte schon Tote wieder ins Leben gebracht, da passte es doch gut, wenn er das mit sich selbst genauso machte. Er stieg also herab, wie er heraufgestiegen ist und klar, wenn man mal tot war, ist man nicht gleich wieder voll auf der Höhe. Man lallt und schwankt und sieht ein wenig ungesund aus. Aber was soll’s.  Dazu ein paar brabbelnde Männer, die verschiedene Idiome paraphrasieren und fertig ist der Klimbim für das einfache Volk. Wenn man bedenkt, was für einen Schwachsinn Leute selbst heute noch geneigt sind zu glauben (Mark Zuckerberg frisst kleine Kinder, zum Beispiel), dann funktioniert diese Methode immer noch. Und wird immer funktionieren.  

 

Streifschuss vom 21. Mai 21

 

Anlass: Wozu brauche ich einen Anlass?

 

Vom Unfug der Gesetze

 

Ich weiß nicht mehr, welcher Netflix-Serie ich den Ausspruch verdanke. Er lautet: „Dein Problem ist nicht, dass du zu viele Skrupel hast, dein Problem ist, dass du zu wenig Skrupel hast.“  Skrupel ist ein spitzer Stein und der war im alten Rom die kleinste Maßeinheit für Masse. Ein Skrupel waren etwa 1,25 Gramm. Aus dem Skrupus (spitzer Stein) entwickelte sich das Diminutiv Skrupel und diente ab dem 16. Jahrhundert als Metapher für überängstliches Verhalten, sich sehr vorsichtig über spitze Steinchen zu bewegen. Skrupellose Menschen haben keine Angst, sind frei von Gewissensbissen und daher sehr erfolgreich in ihrem Leben. Die spitzen Steinchen gehen ihnen am Arsch vorbei.

Unser ganzes Rechtssystem ruht auf der falschen Annahme, dass sich der Mensch frei entscheiden könne, ob er eine Missetat ausführt oder nicht. Der in gewisser Weise sehr widerliche deutsche Philosoph Immanuel Kant sah den freien Willen lediglich darin, dass man sich entscheiden kann, sich einer moralischen Instanz unterzuordnen oder nicht. Erst wenn man sich – so Kant – einem sittlichen Gesetz unterwirft, ist man wirklich frei. Das ist ein großer Widerspruch. Denn die meisten erfolgreichen und monetär reichen Menschen unserer Gesellschaft sind erfolgreich und verfügen über einen hohen ökonomischen Status, weil sie genau das nicht tun. Sie unterwerfen sich nicht den sittlichen Gesetzen. Sie machen sie. Kant erschuf ein Sklavenbewusstsein. Doch ich habe Skrupel. Frei bin ich nicht. In meinem ganzen Leben habe ich noch kein Gesetz gebrochen, weder gestohlen, gemordet, betrogen oder für den eigenen Vorteil gelogen. Gelogen habe ich viel. Und ich habe keine Skrupel, anderen etwas zu erzählen, was nie stattgefunden hat. Doch ich habe große Skrupel, dafür belohnt zu werden. Ich empfinde mein gutes Gedächtnis, das man zum Lügen braucht nicht als einen Vorteil, aus dem ich Gewinn schlagen will. Es ist eher ein Impuls und stark mit dem Lustgewinn verknüpft, den das Lügen selbst auslöst. Daher denke ich, dass Betrüger, Diebe und Mörder auf dieser Grundlage gar nicht anders können, als ihr von Gott gegebenes Talent zu nutzen. Das ist sehr calvinistisch gedacht. Es gibt Menschen, denen macht es nichts aus, sich ohne zu bezahlen an fremdem Eigentum zu bedienen. Im Gegenteil. Sie folgen einem unwiderstehlichen Drang. Wenn sie ihrem Drang zu stehlen, zu morden oder zu betrügen nachgegeben haben, fühlen sie große Befriedigung und sind glücklich. Unser Gesetz bestraft sie allerdings (wenn man sie erwischt). Doch wäre das Gesetz konsequent, müsste es die belohnen, die nie gestohlen oder gemordet haben. Sie haben genau so frei gehandelt, ginge es nach dem Gesetz. Streng genommen ist das Gesetz also Unsinn. Der Kern unseres Strafrechts ist der so genannte Verbotsirrtum im §17 StGB:   Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe gemildert werden. Wir können mit etwas Übung über einen gewissen Zeitraum unsere ureigenen Impulse unterdrücken, umlenken. Wir können auch rational einsehen, dass es falsch ist, anderen etwas wegzunehmen – sei es ihr Fahrrad oder ihr Leben. Aber wir können das auf Dauer nicht frei entscheiden. Daher ist ein mildes Strafrecht, eine abgemilderte Strafe  selbst für den übelsten unter uns gerechtfertigt. Und diejenigen unter uns, die so sehr von ihren Impulsen angetrieben sind, dass sie nicht einmal einsehen können, dass ihr Tun falsch ist, denen gebührt nicht Strafe, sondern Mitleid. Wenn ein narzisstischer, machtgieriger Psychopath (die dunkle Triade, die nach der Psychologie den bösen Menschen ausmacht) ein Verbrechen begeht, dann gebührt ihm unser Mitleid. Ist das nicht Hohn für alle braven Mitbürger? Ja. Aber es ist deshalb Hohn, weil unsere braven Mitbürger, die auch nicht anders können, als eben brav zu sein, dafür nicht belohnt werden. Würde man jedem Mitbürger eine jährliche Prämie auszahlen, wenn er wieder ein Jahr seines Lebens brav war, dann würde aus dem Gesetz ein richtiger Schuh. So aber ist das Gesetz schlicht Unfug. Kant war nur ein starker Pfeife-Raucher, der gar nicht anders konnte, als zu philosophieren. Ihm ein Denkmal aufzustellen ist Unsinn, denn Kant hätte nicht anders gekonnt. Wir Nicht-Philosophen verdienen alle ebenfalls ein Denkmal, weil wir gar nicht anders können, als nicht  zu philosophieren.

 

Streifschuss vom 11. Mai 21

 

Anlass: Zweierlei Bürger – Verbraucher und Unternehmer

 

Das Komitee der festlichen Gaukler

 

Neulich rief mich ein Mitarbeiter der Verkaufsplattform Amazon an. Angeblich hatte ich bei einem Preisausschreiben einen Warengutschein im Wert von  900 Euro gewonnen. Da kommt Freude auf. Leider haben solche Gewinne in der Welt des Kapitalismus meist einen kleinen Haken. Um an den Warengutschein zu kommen, müsste ich lediglich die Zeitung Bild der Wissenschaft abonnieren, zum Preis von 49 Euro. Erst weigerte ich mich, ahnte den Betrug. Doch der freundliche Mitarbeiter mit seiner kräftigen, männlich wirkenden Stimme rechnete mir überzeugend vor, dass ich nach Abzug von 49 Euro immer noch einen Warengutschein im Nettowert von 851 Euro hätte. „Und das bekommen Sie einfach so!“ Ich ließ mich also überzeugen.
„Ich verbinde Sie dann weiter, damit wir Ihre Daten aufnehmen können“, sagte der Mann. Das sei ein übliches Procedere, das auch die Seriosität des Ganzen unterstreichen würde. Ich willigte ein, wurde weiterverbunden an eine Dame mit einer unangenehmen Stimme. Nachdem sie mein Geburtsdatum abgefragt hatte und meine Bankdaten für das Zeitungsabonnement, erläuterte sie mir, dass nun ein Schreiben an mich herausginge, mit den Unterlagen einer Reiseversicherung.
„Was?“, schrie. „Das will ich nicht“, protestierte ich. Die Frau meinte, das sei so üblich. Aber ich ließ sie nicht weiterreden und forderte sie auf, den Prozess insgesamt zu stoppen. Mit einer noch unfreundlicheren Stimme als zuvor willigte sie ein. Ich legte auf und dachte nur, so ist der Kapitalismus. Man muss einem geschenkten Gaul immer ins ungewaschene Maul schauen, sonst frisst dich der Gaul mit Haut und Haaren einfach auf. Kurz darauf rief mich der Amazon-Mitarbeiter erneut an und wollte wissen, was los ist.
„Wir leben in einem Rechtsstaat“, sagte er mit seiner kräftigen, männlichen Stimme. Nun wollte ich nur noch eins, die gleichen Drogen die auch der Amazon-Mitarbeiter zu sich nimmt. Nichts anderes, weder einen Warengutschein, noch eine Reiseversicherung, ein Zeitungsabonnement, nur den guten Stoff, den Amazon-Mitarbeiter rauchen, schnupfen oder spritzen. Denn offensichtlich muss man high sein, wenn man so einen Job macht. Andere über den Tisch ziehen, ihnen mit billigen Tricks Versicherungen und Zeitungsabonnements andrehen und das dann als „Rechtsstaat“ verkaufen. Das geht nicht ohne Drogen. Wir leben nicht in einem Rechtsstaat. Wir leben in einem Staat mit vielen, sehr vielen Gesetzen. Genau sind es 80.000 Paragrafen, die dem so genannten Rechtsapparat zur Verfügung stehen. Die meisten davon hat das BGB (siehe Bild, das waren die elf preußischen Rechtsverdreher, die Bismarck ein schönes Pseudogesetz lieferten). Darin wird geregelt, wer wen und wie betrügen und ausweiden kann ohne dabei etwas von dem so genannten Rechtsstaat befürchten zu müssen.
Alles was Recht ist. Alles was Recht ist, ist für den Verbraucher nicht billig. Und alles was billig ist, scheint es nur zu sein, doch es geht da nicht mit rechten Dingen zu. Die Zauberkunststücke des Kapitalismus sind billig, ja. Aber sie können sehr teuer werden, wenn man der Illusion erliegt, die der Zauberer erwirkt. Es ist ein Jahrmarkt, der das ganze Jahr über Gaukler, Feuerschlucker, Schlangenbeschwörer und Wahrsager auf die Menschen los lässt, nur dass alle diese Gaukler, Feuerschlucker, Schlangenbeschwörer und Wahrsager Anzüge tragen, eine Krawatte (früher eine Fliege) binden können und  „wir leben in einem Rechtsstaat“ hersagen können. Das haben sie auswendig gelernt. Suchen Sie in irgendeinem Gesetzeswerk den Satz „Wir leben in einem Rechtsstaat“. Sie werden diesen Satz nicht finden. Immerhin, darin besteht eine gewisse Ehrlichkeit im Betrug.

Streifschuss vom 04. Mai 21

 

Anlass: Sitze nicht zu Gericht, sonst wirst du dem Verurteilten ein Feind sein.

 

Über, vor und nach dem Urteil

 

Die meisten Menschen verfügen über einen mir eher wesensfremden Charakterzug. Sie urteilen gerne über andere Menschen. Gott, hast du den Franz gesehen! Der lässt sich total gehen, seit er seinen Job verloren hat, der hat sich überhaupt nicht mehr im Griff. Oder die Jutta kann auch an keinem Tortenladen vorbeigehen. Das ist bei der Frustessen. Natürlich gibt es auch positive Urteile wie seit der Karl mit der Moni zusammen ist, ist er ein total Netter geworden.  Oder die Andrea hat gerade ihr drittes Kind bekommen. Früher war die ja ne richtige Zicke, aber seit sie Mutter ist, ist die total lieb geworden.  Viele einzelne Urteile über viele einzelne Menschen verletzen die lex parsimoniae , die der Franziskanermönch Wilhelm von Ockham schon vor 700 Jahren aufstellte und daher ist es, wie viele sagen, grundlos, mehr anzunehmen, wo weniger reicht. So Ockham in seiner Summa Logicae. Unnötige Vervielfachung gilt es zu meiden. Der Mangel an Sparsamkeit, die Verschwendung von so vielen Einzelurteilen führt zwangsläufig dazu, dass man irgendwann aus reiner Not auf Vorurteile zurückgreifen muss, weil einem die Urteile ausgegangen sind.
Ganz anders machte es daher schon vor 2.500 Jahren ein nachdenklicher Bursche aus der Kleinstadt Priene, das heute in der Provinz Aydin liegt, unweit von Güllübahçe. Bias hieß der Bursche und gehört heute nicht umsonst zu den sieben Weisen. Er sagte es einfach und schnörkellos: Die meisten Menschen sind schlecht. Was? Das soll ein Vorurteil sein? Aber sicher nicht. Im Gegenteil. Es ist ein sehr maßvolles und sehr gerechtes Urteil. Mir ist es fast zu maßvoll und zu milde. Alle Menschen sind schlecht. Von mir aus können Sie das als ein Vorurteil betrachten, auch wenn ich persönlich da anderer Ansicht bin. Aber ich bin auch keiner von den heptá sophói, den sieben Weisen.
Ich verzichte jedoch nicht aus charakterlicher Stärke auf Einzelurteile über andere Menschen, auch nicht aus Gründen der Sparsamkeit oder Logik. Es liegt eher an einer seltsamen Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen. Hat man die gesamte Menschheit unter ein Urteil subsumiert, erübrigt sich jedes Einzelurteil. Das ist logisch. Gehen wir von dem milden Urteil aus, das Bias von Priene über die Menschheit traf. Wie sollte nun mein Einzelurteil aussehen? Die meisten Menschen sind schlecht, aber du nicht. So einem Einzelurteil fehlt nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern es wirkt wie eine Schmeichelei, eine Lobhudelei. Jeder der auf diese Weise gelobt wird, hegt sofort den Verdacht: Der will doch was von mir. Wie schon gesagt tendieren die meisten Menschen dazu, Einzelurteile zu fällen. Der Typ sagt die meisten Menschen sind schlecht, aber ausgerechnet mich nennt er gut? Der will doch was von mir. Der will mich verarschen.  Jeder würde den Widerspruch bemerken. Das Gesamturteil wiegt das Einzelurteil regelmäßig auf. Sparsamkeit und Logik sind gute Gründe, um auf Einzelurteile zu verzichten. Aber es sind nicht meine Gründe. Mich treibt auch nicht das Gleichnis aus der Bergpredigt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Weder Splitter noch Balken erwecken mein besonderes Interesse. Es ist in meinem Fall keine moralische Entscheidung. Mir fehlt schlicht die mentale Apparatur für das Einzelurteil. Der einzelne Mensch liefert mir nicht genügend Material für ein Urteil. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Viel zu sehr ist der einzelne Mensch Teil eines größeren Ganzen, dem er sich gar nicht entziehen kann. Alle Deutschen sind Nazis, oder alle weißen Amerikaner sind Rassisten. Oder alle Chinesen machen Tai Chi. Oder alle Italiener essen jeden Tag Spaghetti. Sie merken es schon oder? Selbst wenn man ein paar Einzelurteile zusammenfasst, wird kein Schuh daraus. Es bleibt ein Vorurteil. Der einzelne Mensch durchwandert in seinem Leben so viele Positionen, spielt so viele soziale Rollen, dass die wenigsten wirklich wissen, wer sie wirklich sind. Und erst Recht wissen andere es nicht. Der Richter fällt sein Urteil in Bezug auf eine einzelne Tat. Es spielt für den Richter keine Rolle, wer diese Tat begangen hat, von Ausnahmen abgesehen wie Lebensalter oder Gesundheitszustand. Aber auch hier werden nicht der Mensch, sondern die Tatumstände beurteilt. In diesem Sinne müsste man das Leben überhaupt als eine Art Tat auffassen. Berücksichtigen wir die Umstände unter denen das Leben entstand, dann ist die Tat nachvollziehbar. Aber nicht automatisch verzeihlich. Angeblich gab es vor dem Leben nichts. Dieses Alibi ist nicht haltbar. Und eine Lüge macht die Tat auch nicht besser. Beurteilt man die alte Theodizee-Frage nach heutigem juristischem Standard, dann war die Schöpfung die Tat eines nicht geschäftsfähigen Gottes. Leider gibt es keine Erziehungsberechtigten, die man an der Stelle von Gott haftbar machen könnte. Die meisten Menschen sind schlecht, urteilte Bias von Priene. Sie können nichts dafür, da Gott sie so schuf. Aber Gott war damals viel zu jung, um seine Tat im vollen Umfang einsehen zu können.  Daher ist heute jeder einzelne Mensch für sich selbst verantwortlich und muss mit dieser Tat leben. Das ist ärgerlich und nicht zu ändern. Aber es ermächtigt noch lange niemanden, ein einzelnes Urteil über einen einzelnen Menschen abzugeben. Die meisten Menschen sind schlecht, aber sie können nichts dafür und müssen trotzdem damit leben. Was soll da noch ein Urteil ausrichten?

 

 

Streifschuss vom 02. Mai 21

 

Anlass: Flatted Fifth

 

Als Musik noch Bedeutung hatte

 

Charlie war gerade 17 Jahre alt und schon seit zwei Jahren abhängig vom Heroin, als er zu dem vier Jahre älteren Jay McShann und seiner Band stieß. Sie hatten einen Auftritt in Harlem, im Savoy Ballroom. Da kam Dizzy durch die Tür. Dizzy war so alt wie Jay und fragte einfach, ob er mitspielen könne. So kam es zur ersten gemeinsamen Aufnahme der Bebop-Dioskuren Charlie und Dizzy. Sechs Jahre später spielten sie gemeinsam in der New York Towns Hall. Unter anderem mit einem genialen Solo von Sid Catlett, der das Schlagzeug zum Werkzeug scholastischer Logik erhöhte, zu einem Parsimonium der Noten.
Der Bop war nun voll da und hatte den Swing in die Ecke gedrängt. Während in England das Dixie-Revival tobte und für Umsätze sorgte, bliesen, klopften und hüpften Charlies und Dizzys verminderte Quinten durch die Luft. Unvergessen ist Salt Peanuts und die Vokalstimme von Dizzy.  Denn das Wort ist die perfekte Wiedergabe der verminderten Quinte und eine herrlich witzige und ironische Untermalung. Das ist jetzt auch schon 80 Jahre her. Jazz ist inzwischen eher Musik für alte Leute. Als der Bebop aufkam waren viele Menschen entsetzt darüber. Man bewarf Charlie mit Schmutz und Spott.

Mein erstes veröffentlichtes Werk vor knapp 30 Jahren hieß Flatted Fifth und bedauerte die Tatsache, dass Bird keine Platte mehr gemeinsam mit Dizzy  aufnehmen konnte, obwohl es sein Wunsch gewesen war und Dizzy noch Jahre später zu Tränen rührte, wenn er daran dachte, wie der sterbende Charlie diese Hoffnung zum Ausdruck brachte. Und eben las ich von Murakami eine Erzählung, wo Charlie eine Hauptrolle spielt. Murakami war auch noch ein Teenager, als er in einer Uni-Zeitung eine fiktive Schallplattenkritik veröffentlichte. Charlie – bereits 1955 an den Folgen seiner Sucht verstorben – legte dort gemeinsam mit Joachim Jobim eine Schallplatte auf, im Jahr 1963. Charlie Parker plays Bossa Nova. Ausgerechnet dieser fürchterlich unterkühlte Bossa Nova-Sound! Das passt zusammen wie Hund und Katze. Ausgerechnet Jobim, der bei einem verfluchten Deutschen das Klavierspielen lernte. Und dann Charlie! Jobim und Stan Getz, ja das passte. Aber das fiebrige Abspielen und Notenhetzen des Bebops? Witzig ist, dass Stan Getz den poetischen und schmeichelnden Bossa Nova über einen Gitarristen mit dem Namen Charlie Byrd kennen lernte. Bird und Byrd. Schwarz und weiß! Hat sich Murakami etwas dabei gedacht? Wenn ja, dann weiß ich nicht was. Murakami erzählt gewohnt gut und entfaltet seinen Zauber mit feiner Ironie. Denn als Murakami Jahre später in New York in einen Plattenladen geht, findet er zufällig eine Platte mit dem Titel Charlie Parker plays Bossa Nova. Er kauft sie nicht, hält sie für einen Scherz, eine Fälschung. Zudem ist die Platte mit 35 Dollar auch zu teuer, um sich eine Fälschung zu kaufen. Doch er bereut es kurz darauf. Als er am nächsten Tag wieder in den Plattenladen geht, ist die Platte verschwunden und der Plattenverkäufer weiß nichts von so einer Platte, bietet ihm als Ersatz Perry Como sings Jimi Hendrix an. Das ist an Komik natürlich nicht zu überbieten: Magic moments! Schwarz und weiß! Heiß und kalt, langsam und schnell. Tief und flach. Murakami hat sich etwas dabei gedacht. Oder er hat uns einfach einen feingeistigen Spaß für alte Leute aufgetischt. Jedenfalls rief ihm der Plattenverkäufer noch nach, dass er die Platte auch hören wolle, wenn er sie auftreibt...

Streifschuss vom 30. April 21

 

Anlass: Der Chef von dem allen hier

 

Bildungsmiserere

 

Meine Bildung hatte bislang einen sehr geringen Effekt auf meinen finanziellen Status. Zugleich lernte ich im Laufe meines Lebens viele sehr reiche, sehr dumme Menschen kennen. Diese Differenz von Bildung und Kontostand ist ein merkwürdiger Fakt, denn überall hört und liest man darüber, dass ausschließlich Bildung uns Macht, Ansehen, Glück und eine Eigentumswohnung ermöglicht. Doch die mächtigen, angesehenen und glücklichen Eigentumswohnungsbesitzer (was für ein deutsches Wortungetüm!) verfügen bestenfalls über ein durchschnittliches berufliches Spezialwissen, sind aber ansonsten mit überschaubarer Intelligenz gesegnet und wissen auch nicht besonders viel. Reiche Menschen sind mehr schlau als klug. Ihren Mangel an Wissen gleichen sie aus durch ihren Mangel an Gewissen. Ein mit mir befreundeter Betriebswirt, der als Manager im mittleren Bereich tätig war, erklärte mir das so: Wenn du in Deutschland richtig fleißig bist, gute Beziehungen hast, etwas erbst und dieses Startkapital gut anlegst, kannst du es mit etwas Glück und Gottes Hilfe zum einstelligen Millionär schaffen. Aber alles was darüber geht, funktioniert nicht mehr mit legalen Mitteln. Kurz: Superreich ist immer superkriminell. Wenn man nun bei den Superreichen anklopft und sie um einen Beitrag zur Gemeinschaft bittet, könnte man auch den Chef der Mafia bitten, einen lieber doch nicht zu erschießen. Der würde aber nur lächeln und sagen: „Mein Freund, es tut mir leid. Der Auftragsmörder wurde schon ausbezahlt. Geschäft ist Geschäft.“ Die sehr lobenswerte Verfassung unserer Demokratie ist für Superreiche nur eine Fassade, um in Ruhe Geschäfte machen zu können. Die eigentliche Verfassung steht dann im Bürgerlichen (die Rechtschreibung verpflichtet mich das Adjektiv „bürgerlich“ groß zu schreiben) Gesetzbuch. Dort steht nichts über die Menschenwürde oder das Recht auf Freiheit, dort gilt eine andere Sichtweise. Menschen werden in Verbraucher und Unternehmer eingeteilt, in juristische und natürliche Personen. Die juristischen Personen sind abstrakte Monster die für die Superreichen die Drecksarbeit machen. Der Vorstand einer juristischen Person gliedert sich in Boss, Unterboss, Kapitäne und Soldaten. Die Triaden drücken das mit Himmel, Erde und Menschheit in ihrem Symbol sehr poetisch aus.
Es gibt nur drei Geschäftszweige mit denen man wirklich superreich werden kann: Drogenhandel, Menschenhandel, Waffenhandel. Diese drei machen 98 Prozent der Wirtschaft aus. Der Chef von dem allem ist uns allen nicht bekannt. Wer ist der Chef der Triaden, Wallmart, Yakusa, Camorra, Sino-Pec, Ndragheta, Royal Dutsch Shell? Vielleicht der Polizeipräsident persönlich? Im Sinne des BGB würde das Sinn machen. Das ist das Schöne am Kapitalismus: Eine Jagdgesellschaft die sich selbst verfolgt. Die Hunde dieser Jagdgesellschaft sind wir, die Verbraucher. Und Hunde sind laut BGB nur Sachen.
Komme ich also zurück auf die Ursprungsfrage, warum Bildung so wenig Einfluss auf den finanziellen Status hat, ist die Antwort, dass gebildete Hunde die gleichen Knochen nagen, wie ungebildete Hunde. Man muss auch noch hinzufügen, dass ein Hund der Platon zitieren kann, kaum tauglich ist für die exklusive Jagdgesellschaft der Kapitalisten. Einen Hund kann man jederzeit zurückpfeifen oder erschießen. Bücher halten keine Kugeln auf und verursachen als Schlagwerkzeug nur geringe körperliche Schäden.

Streifschuss vom 28. April 21

 

Anlass: Das ist schon lange so

 

Auf deine Meinung pfeifen wir

 

Wenn man alles sagen kann ohne dass es eine Wirkung hätte, dann hat das gar nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun. Das ist schon lange so, seit die Massenmedien uns überfluten; und das Internet als Hoffnung auf die freie Welt verkauft wurde. Daher sage ich jetzt vermutlich nichts wirklich Neues. Aber ich wiederhole es gerne. Inhalte spielen zunächst keine große Rolle dabei. Wir wissen alle schon lange, dass der Inhalt durch Mogelpackungen verschleiert wird.

 Freiheit, auch die Freiheit einer Meinung, bezieht sich auf Resonanz in dem Augenblick, wo sie im kantischen Sinne zur positiven Freiheit wird. Stehen für meine Meinung Medien zur Verfügung, steht der aktiven Äußerung das dazu nötige kommunikative Vehikel zur Verfügung, dann verfolgt die aktive Äußerung auch ein Ziel. Der Überschuss zielloser Äußerungen ist ein besonderes Kennzeichen des Kapitalismus. Massen von Rohrkrepierern sind medial unterwegs. John Austin bezeichnet sprachliche Äußerungen, die eigentlich nicht zustande kommen als Rohrkrepierer. Zum Beispiel: Hiermit beleidige ich Sie. Die Äußerung kommt nicht zustande, weil man ja für eine Beleidigung referenzielle Bezüge herstellen muss. Eben: Sie Hornochse. Massen von Äußerungen in den Zeitungen haben mit dem Empfänger der Nachricht nur sehr minimal etwas zu tun. Und die gesamte Werbung ist bloße Scheininformation. Bedeutung und Geltung der Information durch die Massenmedien werden zunehmend zu Gebrabbel, zum Hintergrundgeräusch. Wenn in diesem Hintergrundgeräusch Bedeutung erkannt wird, dann ist der Inhalt eher zufällig zustande gekommen. Die Muster, die sich aus dem Gebrabbel der Massenmedien herausbilden, stehen gar nicht mehr im Bezug zu ihrer ursächlichen Äußerung. Und das sind eben Rohrkrepierer. Die Wahrheit einer Äußerung hat mit der Folge der Äußerung nichts mehr zu tun. Wenn Ihnen eine Kaffeewerbung durch die erzählte Geschichte verspricht, dass Sie Ihre Traumfrau finden, wenn Sie diese Kaffeemarke benutzen, dann durchschaut eigentlich jeder (wenn er nicht gerade an einem Asperger Syndrom leidet), dass es sich hier um Ironie handelt. Ironie wiederum ist ein Stilmittel, das den Text verdunkelt. Ironie zählt zu den Tropen, schwerem Schmuck, vergleichbar dem Parfüm Opium. Opium verdeckt den Eigengeruch nicht nur neutralisierend, sondern verändert ihn massiv. Die Massenmedien sind somit ein einziges gewaltiges Opiat. Und genau dieser Bildfehler, den ich gerade bewusst begangen habe, prägt die Massenmedien. Ein Zufallsgenerator konstruiert die Muster im Hintergrundgeräusch der Medien. Die Absicht des Gehört werden wollens durch eine Äußerung überlagert den Wahrheitsgehalt einer Äußerung. Das Ergebnis dieser Permutationen ist eine zufällige und sehr willkürliche Wahrheit. Die bei uns im Kapitalismus praktizierte freie Meinungsäußerung wurde zum reinen Geschwätz.

Streifschuss vom 27. April 21

 

Anlass: Trinkspruch

 

Nackt auf dem Schaukelstuhl der Sonne entgegen

 

Es war ein fader Tag. Die Sonne schien. Aber es ist ja nur die Sonne, die seit Milliarden Jahren ihren Dienst verrichtet und vermutlich gar nichts davon ahnt, wie unsinnig dieser Schein-Dienst ist. Sie brennt einfach in ihrem eigenen Tempo ab. Mein Durst auf Bier stiegt ab der Mittagszeit, spätestens als ich diesen Satz las: Das Trinken aber war endlos und an keine Regel gebunden. Denn, sagte er (Gargantua, A. d. A.) die Grenze des Trinkens habe der Mensch erst dann erreicht, wenn die Korksohlen seiner Pantoffeln einen halben Schuh hoch von der eingenommenen Feuchtigkeit aufgequollen wären. So saß ich an meinem Schreibtisch mit Blick auf mittelgroße Käfige mit Front nach Südosten. Essen, trinken, schlafen, anziehen, essen, trinken, schlafen, anziehen.  Bald wurde ich noch älter als ich schon war, während andere meines Alters Karriere gemacht hatten, einen SUV die Straße rauf und danach wieder runter fuhren , ihre Eigentumswohnung abbezahlten, ihre zwei Kinder zum Studieren gezwungen, ihre Frau in die sexuelle Neurose getrieben hatten und ein so genanntes Leben führten. Weder die Sonne, noch das so genannte Leben übten einen Reiz auf mich aus. Corona verhinderte jegliche Initiative, was einer gewissen Komik an diesem strahlenden Tag nicht entbehrte. Man riskiert ja nicht nur sein eigenes Leben, wenn man sich auf die Straße begibt, sondern könnte auch andere Menschen gefährden.
Da das Impfzentrum mich nicht anrief und ich auch keine große Lust verspürte beim Impfzentrum selbst anzurufen, versuchte ich es bei meinem Hausarzt. Es dauerte ein paar Stunden, bis ich tatsächlich die Arzthelferin am Telefon hatte. Und so gelangte ich auf die Impf-Liste meines Hausarztes, aber die Arztgehelferin hatte gleich gesagt, dass „sie nicht zu den Praxen gehören, die viel Impfstoff abbekommen“. Dann würde ich warten. Und ich – so die Arzthelferin zu mir, solle bitte nicht anrufen, sie würden mich auf jeden Fall anrufen. Ein mündliches Versprechen, das mir das Impfzentrum – zwar nicht mündlich sondern über Email – auch gegeben hatte. Irgendwann hätte ich dann auch eine Impfung, dachte ich, sollte ich nicht schon vorher krepiert sein. Aber dann würde mein Listenplatz an den nächsten versteigert und mein Leben hatte einen Sinn.  Man muss Engagement zeigen und einen gewissen Aufwand betreiben, sich vordrängeln. Ich könnte noch ein paar weitere Arztpraxen anrufen und mich auf diverse Listen setzen lassen. Vermutlich machen das sogar einige. Aber mir fehlte immer schon das nötige Engagement, um mir in diesem kapitalistischen Schweinesystem das zu ergaunern, was die meisten darin als so genanntes Leben betrachten. Mir einen Impfstoff zu erschleichen? Dazu fehlt mir jede Fähigkeit. Ich empfinde jede Form von Handel wie Betrug. Ich brauche Geld um zu überleben. Aber es ist hier alles nur Betrug. Ich habe das zur Genüge in meinen Streifschüssen festgehalten. Es sind so viele. Frühes Aufstehen ist nicht glücklich / morgens trinken, das ist schicklich.
Salvia cum ruta faciunt tibi pocula tuta; adde rosam florem, minuit potenter amorem.
Von welcher Rose war hier bloß die Rede?

 

Streifschuss vom 23. April 21

 

Anlass: Vorahnung

 

Einst war diese Welt voller prächtiger Locken

 

Im Jahr 1971 wurde das deutsche Wort „Umweltschutz“ auf den zweiten Platz zum Wort des Jahres gewählt. Nummer eins war damals das schöne Wort „aufmüpfig“, das einen schweizerischen Ursprung hat und auf „muffig“ zurück geht. Sicher werden viele Menschen in ein paar Monaten „grün“ wählen. Was fünfzig Jahre danach eine gute Konklusion darstellt. Warum auch nicht. Es gibt schlimmere Kreuze. Doch erwartet euch nicht zu viel. Acht Milliarden Menschen hegen berechtigten Anspruch auf ein gutes Leben, nicht nur ein paar deutsche Wohlstandsbürger. Und wie soll das gehen? Soll weiter jeder sein Auto und sein Zweitauto besitzen dürfen, jedes Jahr in den Urlaub fliegen dürfen und sein Recht auf Fleischverzehr wahrnehmen? Sollen wirklich acht Milliarden Menschen nach Fleischeslust konsumieren bis ihnen die Rektum-Ampulle platzt oder der Analsphinkter versagt und man nur noch scheißt und scheißt? Sollen die eine Milliarde Rindviecher die man weltweit hält, weiterhin Löcher in die Ozonschicht furzen? Die meisten Rindviecher befinden sich in Indien und Brasilien. Da hat unsere Annalena auch keinen Einfluss drauf. Die Umwelt wird derzeit global zerstört und nicht nur lokal. Natürlich kann man den Kopf in den Sand stecken oder sich Sand in den Kopf füllen und so tun, als wäre alles eh schon egal oder so tun, als sei es nur eine Frage der richtigen Wahl. Nihilismus und Defätismus sind keine Lösung. Doch auf unserer schönen Erde blühen bereits erste Kirchhofrosen. Wir müssen uns vermutlich mehr Gedanken über die Verfügung machen. Welche Informationen packen wir in die Rakete für die Außerirdischen, damit die sich Gedanken machen können, wie sie unsere sterblichen Überreste behandeln. Wir haben schon lange den Bereich der medizinischen Behandlung verlassen und befinden uns im Reich der palliativen Medizin. Wir entscheiden gerade noch, wie stark die Schmerzen unseres Todesröchelns sein sollen. Wollen wir bei Bewusstsein sein, wenn wir abkratzen oder schießen wir uns mit Morphium ab? Alle Zeichen deuten auf Morphium. Denn Wirtschaftswachstum und Konsum stehen immer noch hoch im Kurs und die Kauflust ist nach wie vor ungebrochen. Aktuell muss man sich halt die Sachen von Amazon-Sklaven liefern lassen. Aber geliefert wird weiter. Bis die Ampulle so dilatiert ist, dass die Analkrypten die Größe von Ikea-Einkaufstaschen haben. Wie auch immer wir uns am 26.September entscheiden, ob wir einen laschen Grinsehobbit oder einen westfälischen Wirecard-Finanz-Kasperl bekreuzigen, irgendeine verweidelte Gauländerin oder einen verlinkten Bartsch – es wird Annalena werden. Denn unsere Hoffnung stirbt immer zuletzt.

 

Streifschuss vom 21. April 21

 

Anlass: Das B-Vokabular bestand aus Wörtern, die ganz bewusst zu politischen Zwecken gebildet worden waren; …

 

Es gibt da so Maschen, da kann man sie waschen

 

Neusprech sollte nicht nur ein Ausdrucksmittel für die den Anhängern des Engsoz gemäße Weltanschauung und Geisteshaltung bereitstellen, sondern auch alle anderen Denkweisen unmöglich machen. Es war geplant, dass wenn>Neusprech ein für allemal angenommen und Altsprech vergessen worden war, ein ketzerischer Gedanke – d. h. ein von den Prinzipien des Engsoz abweichender Gedanke – buchstäblich undenkbar sein sollte, insoweit wenigstens, als Denken an Worte gebunden war. Das Wort frei existierte zwar in Neusprech noch, konnte aber nur in Aussagen wie „Dieser Hund ist frei von Flöhen“ oder „Dieses Feld ist frei von Unkraut“ verwandt werden.

Doch auch wenn es undenkbar ist, hält es nicht davon ab, das Undenkbare zu tun.

Wer ist heute kein Umweltschützer oder Antirassist? Doch die meisten der 80 Millionen deutschen Umweltschützer frisst weiter Fleisch, fährt mit dem SUV in den Urlaub und ist begeisterte Vielflieger und sauer auf Corona. Nahezu 80 Millionen Antirassisten kommen aus dem Fernurlaub zurück und fühlen sich gegenüber den Migranten überlegen, sind Fremden gegenüber misstrauisch, während sie im gleichen Atemzug die Gastfreundlichkeit der Einheimischen ihres Urlaubslandes loben. Diese nicht öffentliche Meinung ist vielen dieser Umweltschützer und Antirassisten gar nicht bewusst.  Sie bringen ihre eigenen Umweltsauereien und ihren eigenen kleinbürgerlichen Vorstadtrassismus gar nicht in Einklang mit ihrer hohen Meinung von sich selbst. Der Effekt der Zeitungen, die den Umweltschutz und den Antirassismus voran treiben ist nur, dass sie die Gehirne ihrer Leser weiter säubern von der Wahrheit ihres Verhaltens. Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass man sich umweltschädlich verhält. Was nicht sein darf, kann auch nicht sein. Die Städte ersaufen im Müll, das Land in der Gülle. Aber alles schön umweltfreundlich. Migranten werden ohne ersichtlichen Grund abgeschoben, auf dem Arbeitsmarkt ausgebeutet, von den sozialen Institutionen benachteiligt. Und das alles im Namen der Vergangenheitsbewältigung von 80 Millionen Deutschen, die fassungslos den Kopf schütteln über das alte Nazideutschland. Als Adorno und Horkheimer von der Front heimgekehrte Soldaten über ihre Einstellung zur Demokratie befragten kam heraus, dass viele Kämpfer ihren alten Staat vermissten. Sie misstrauten der Demokratie, die in ihren Augen schon einmal versagt hatte. Immerhin waren diese Soldaten noch einigermaßen ehrlich. Wenn nun in ein paar Monaten wieder die Urnen aufgestellt werden, um unsere heiligen Stimmen zu beerdigen, stellt sich nicht die Frage nach der Ehrlichkeit der Politik, sondern nach der Ehrlichkeit des Volkes das ihre Politik aussucht. Rechnet das Volk wirklich ernsthaft damit, dass nach der Wahl das Wahlprogramm der gewählten Partei durchgesetzt wird? Nein. Da von den 80 Millionen Deutschen nur 20 Studenten der Politikwissenschaft überhaupt die Wahlprogramme gelesen haben, können sie gar nicht damit rechnen. Nach Adam Riese vielleicht. Wir sind alle Umweltschützer und Antirassisten. Aber wehe, wehe wenn die gewählten Volksvertreter ernst machen würden. Wohin mit dem Müll? Wohin mit den Migranten? Das fragen sich Umweltschützer und Antirassisten.

 

Streifschuss vom 17. April 21

 

Anlass: Eine netflixte Verschwörung

 

Die Wahrheit über das Virus

 

wir sind verpflichtet, die freie Welt zu retten und werden alles tun und sind zu allem bereit. Notfalls überschreiten wir Grenzen.

 

„Wo ist das Virus?“, brüllte einst mit verzweifeltem Tonfall Jack Bauer in der dritten Staffel im Einsatz für die CTU. Der Terrorist antwortete nicht. Das so genannte Cordillo-Virus drohte sich zu verbreiten. Der Superagent Jack versuchte die Epidemie aufzuhalten. Dieses fiktive Cordillo-Virus ähnelt dem Hantavirus. Es wird von der amerikanischen Hirschmaus übertragen und löst bei den Infizierten das HCPS aus, ein cardiopulmonales Syndrom mit einer Lungenentzündung und Lungenödem. Die Hirschmaus oder auch Weißfussmaus hat große Ohren und einen behaarten Schwanz. Das Nagetier ist sehr sozial und gründet gerne Großfamilien. Hirschmäuse lassen sich leicht züchten und eignen sich daher als Labormaus. Über geheime Zugangscodes entdeckte die Datenanalystin Chloe O`Brian später das Profil der Maus. Ein Zeuge erstellte das oben dargestellte Phantombild.
„Wo ist das Virus?“
Der Terrorist schwieg. Er hätte Jack Bauer informieren müssen. „Die Hirschmaus hat das Virus“, hätte er antworten müssen. Doch bevor Jack Bauer den Terroristen foltern konnte (dann hätte er von der Hirschmaus erfahren) wurde der Terrorist von einem anderen Terroristen erschossen, um zu verhindern, dass dieser Informationen weitergibt.  Einer der ersten Terroristen, die Mäuse für ihren Kampf gegen die freie Welt einsetzten, war der Blutkreislauf-Spezialist William Harvey. Sein Techniker Robert Hooke baute ein besonderes Mikroskop für die Maus. Der Geheimagent Gregor Mendel, auch bekannt unter seinem Decknamen „Der Mönch“, verbreitete viele Jahre später die Maus in ganz Europa. Anfang des 20. Jahrhunderts erzeugte der von Terrorgruppen radikalisierte Harvard-Student Clarance Cook-Little den Inzucht-Mausstamm DBA. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts verbreitet ein geheimes Labor in Maine Millionen dieser gefährlichen Terrormäuse in aller Welt. Sie sind die weltweite Quelle. Das Labor wurde enttarnt, als der gefährliche Terrorist Charles Li eine Mitarbeiterin entließ, die das Labor beschuldigte, "Mäusen zu erlauben, in ihren Käfigen zu leiden und dann zu sterben, anstatt sie einzuschläfern" und den Mäusen die Zehen abzuschneiden, um sie zu identifizieren. Die CTU geht davon aus, dass diese Folter die Maus radikalisierte und dazu motivierte, ihren Kampf gegen die freie Welt zu führen. Das Jackson-Labor bestritt die Vorwürfe und sagte, die Arbeiterin sei wegen ihres konfrontativen Verhaltens entlassen worden. Über ein verschlüsseltes Telefon bestätigte Präsident Biden, dass Jack Bauer vom Präsidenten persönlich gebeten wurde, die Sache zu bereinigen und Edison Liu zu liquidieren. Gerade befindet sich Jack Bauer auf dem Weg zu diesem Labor, das Jackson-Labor, um seinen Führer Edison Liu auszuschalten! Ein Einsatzteam vor Ort wird ihn dabei unterstützen. Ein nahezu aussichtsloser Kampf unseres Helden gegen Millionen von Terrormäusen.

 

 

Streifschuss vom 15. April 21

 

Anlass: Gesellschaftsspielchen

 

Alles nur Theater

 

Es war noch im 20. Jahrhundert, als ich mich auf und davon machte, um Frau und Kind im Stich zu lassen. Das klingt melodramatischer als es wirklich war. Es war sehr grau. Ich habe Frau und Kind nicht im Stich gelassen, sondern floh nur vor der Herrschsucht meiner ersten Frau, wie Sokrates vor seiner Xanthippe. Ein Bewusstsein für Klischees fehlte mir seinerzeit noch.
Mein damaliger Arbeitgeber vermietete für seine Angestellten kleine, möblierte Zimmer. Möbliert ist ein Hilfswort. Das Nötigste (Schrank, Bett, Tisch, Stuhl) in 20 Quadratmeter hineingestellt, farblos, trist. Eine Gefängniszelle hätte mehr Charme entfalten können. Ich hatte in diesem Zimmer immerhin einen Fernseher. Ein riesiges, wuchtiges Monstrum von Röhrenfernseher auf dem gerade mal vier Sender zur Wahl standen mit halbwegs scharfen Bildern. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen. Er gehörte nicht zur Ausstattung des Zimmers und ich weiß nicht, wie ich zu diesem sehr frühen Vorläufer des Heimkinos gekommen bin. Ich hatte ihn einfach. Er stand auf dem Boden, ich saß zusammen mit einer Weinflasche und einer Tüte Chips auf dem Boden vor ihm. Es war bereits Mitternacht. Sie zeigten den berühmten Episodenfilm Short Cuts von Robert Altman. Damals war der Film ganz aktuell (1993 mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet).  Mit wachsender Begeisterung sah ich den Episoden zu. Ich weiß nicht mehr genau was ich alles fühlte. Es war intensiv genug, um mir bis heute im Gedächtnis zu bleiben. Erhabenheit, Exklusivität, Lust. Von all dem etwas, fühlte ich mich wie ein richtiger Künstler. Damals hatte ich von Raymond Carver noch nie etwas gelesen. Nach dieser Nacht las ich alles. Das war nicht schwer, denn sein Werk ist schmal. Doch sein kleines Oeuvre Kurzgeschichten hat sich tief in meinen Stil eingeprägt.  In dem Episodenfilm von Altman spielt ein Erdbeben den allegorischen Höhepunkt. Mit dem Beben ist auch das Beben der amerikanischen Gesellschaft der 1990er Jahre gemeint. In einer Szene sagt ein Protagonist „Es ist noch nicht das große Beben.“ Das wurde für mich zum Paradigma. Bei jeder Erschütterung meines Lebens sage ich mir: „Das ist noch nicht das große Beben.“ Dieser Komparativ lauert mir auf, wie der Günstling Damokles dem Tyrannen Dionysios. Doch möglicherweise täusche ich mich und es handelt sich in Wahrheit um eine Antonymie. Es ist nicht mehr das große Beben. Was mir noch blüht im Leben, könnte man eher als Abwicklung bezeichnen. Ein rein verwaltungstechnischer Vorgang der lediglich Fragen nach den Kosten oder der Hygiene nach sich ziehen wird. Alles Erinnern nur eine Inszenierung. Der Narr und das Narrativ pflegen eine besonders komische Ehe, die mit Applaus geschieden wird. Das eigentliche Wesen dieses Theaters kommt zum Vorschein, wenn die Zuschauer gegangen sind und Blaumänner die Bühne abbauen. Die Bretter der Welt werden klappernd gestapelt und ein letzter Arbeiter löscht das Licht und schließt die Tür von außen.

 

Streifschuss vom 14. April

 

Anlass: Wechsel aus heiteren Abschnitten und dichten Wolken mit Regen- oder Graupelschauern. Vereinzelte Gewitter nicht ganz ausgeschlossen

 

Ein kleiner Wetterbericht

 

Ich war etwa 16 Jahre alt, da hatte ich eine Erkenntnis. Es war nicht nur so ein Gedanke, sondern ein echtes Heureka-Erlebnis. Ich wusste mit einem Schlag, dass ich postmortale Berühmtheit erlangen würde. Woher diese Gewissheit eines Jünglings kam, der noch nichts in seinem Leben erlebt oder geleistet hatte,  kann ich nicht sagen. Sie war einfach da. Familie, Freunde, Schule (später Beruf) waren nur noch Zeugen. Post mortem auctoris. Der Ehrgeiz, etwas im Leben zu erreichen, war ad absurdum geführt worden. Ich kannte mein Schicksal bereits. Das Leben würde mir nichts einbringen. Nur der Tod. Selbstverständlich nahm ich weiterhin formal am Leben teil. Und die ungeheure Wucht des Lebens erfasste mich wie jeden anderen Knaben. Ich verliebte mich, fühlte mich verlassen, war wütend, verärgert oder aufgeregt. All diese Emotionen konnte auch meine Erkenntnis nicht aufhalten. Aber es war ein Trost über die Jahre, dass dieser Irrsinn mit meiner postmortalen Berühmtheit eine Art Lohn bereit hielt.
Heute, 40 Jahre später ist mir natürlich mehr als bewusst, dass der 16jährige nur versuchte eine allgemeine Panazee gegen die Betrübnisse des Lebens zu finden.  Es war kein wirklicher Schutz. Es war nicht einmal eine echte Erkenntnis. So wenig wie ich von der Existenz eines Gottes wissen kann, so wenig kann ich wissen, welche historische Bedeutung ich nach meinem Tod haben würde. Doch ist die Möglichkeit, nach meinem Tod berühmt zu werden immer noch wahrscheinlicher, als die Existenz Gottes. Gott ist nur ein abstraktes Konzept, mehr eine Art Idee in die jeder seinen ganz privaten Inhalt hinein kippt.  Ich bin jedoch real. Mein Leben findet in der Wirklichkeit statt. Und wenn ich tot bin, ist auch dies real. Es handelte sich um eine Art rationaler Mystik. Zu wissen, dass ich nach meinem Tode berühmt werden würde, spendete nicht nur Trost. Es gab mir auch die Kraft frei und selbstbestimmt meinen Weg zu gehen. Es lag ein gewisser Widerspruch darin, dass das Leben einerseits seine zwingende Herrschaft über mich verloren hatte und ich wie ein Hans im Glück dem Leichtsinn verfiel, aber andererseits unbeirrbar meinen Weg einhielt.
Doch kann ich natürlich lebend über die Zukunft nur Vermutungen anstellen. Das Schicksal hält keinerlei Garantie bereit. Es ist wie bei der Lottoziehung. Es gibt keine Gewähr. Meine Jünglingserkenntnis war nichts als Eitelkeit. Das ist die Vanitas, die Eitelkeit des Diesseits. Inzwischen hat diese ungeheure Wucht des Lebens mir das Leben eher ausgeredet. Selbstverständlich nehme ich formal weiter am Leben teil. Ich sorge mich, wundere mich und lasse mich auch überraschen. Doch auch dieser durch mein Alter bedingte stoische Rückzug aus dem Leben bietet keinen Schutz und liefert mir keinerlei Garantien. Es bleibt weiter eitel. So gehe ich weiter unbeirrbar meinen Weg, als könnte das Leben mir nichts anhaben. Postmortale Berühmtheit bedeutet mir schon länger nichts mehr. Warum sollte ich in dieser Welt von Bedeutung sein, wenn diese Welt mir selbst kaum noch etwas bedeutet? Ich gehe weiter meinen Weg. Diese Zeilen bezeugen das. Das Schöne an dieser enttäuschenden Analyse ist das Bild vom einsamen Wanderer, der heiter Wind und Wetter trotzt.

 

Streifschuss vom 13. April 21

 

Anlass: Glückshormone

 

Ballade vom großen Glück

 

Über ein Jahr Seuche und ich muss jetzt mal los werden, wie dankbar ich dafür bin. Danke liebes Virus. Wer auch immer dich in Umlauf brachte, und wenn es auch die Chinesen waren: Danke auch euch. Ich genieße den Platz in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Keine Horden jugendlicher Hormonmonster mehr auf der Straße. Haltet die Schulen unbedingt weiter geschlossen! Clever war es auch, den Weg Richtung Mallorca offenzuhalten. Verpisst euch nach Mallorca, ihr neureichen Säcke, und bleibt dort. Selbstverständlich sollte auch der Weg nach Ischgl offen bleiben, nur den Rückweg sollte man versperren. Sogar die Behörden haben einen Gang runtergefahren und verwalten mich nicht mehr so aggressiv wie vor der Seuche. Finanzämter, Jobcenter, Kreisverwaltungsreferate! Bleibt geschlossen für die nächsten Jahre. Es reicht völlig, wenn die Politiker auf Achse sind. Sie laufen herum wie aufgescheuchte Hühner und geben ihr Bestes. Ich nehme es, danke. Keine Ursache. Verstau das Beste in meiner Schublade und preppere vor mich hin. Ab und zu gehe ich in meinen Schutzbunker und kontrolliere das Verfallsdatum der Raviolidosen und verschwöre mich mit mir selbst. Ich privatisiere mich komplett und treffe mich nur in allerhöchster Not mit anderen Menschen. Es ist so angenehm, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Und man hat für seinen Rückzug juristische Rückendeckung. Verschärft den Lockdown, macht das Infektionsschutzgesetz zum Grundgesetz. Lasst euch bloß nicht impfen, sonst ist diese schöne Zeit wieder viel zu schnell vorbei. Geht nicht auf die Straße, füttert keine Tauben mehr, bleibt in euren Wohncontainern und digitalisiert euch. Das ist Algos Rhythmus. Netflixt statt zu fluchen oder euch zu ärgern, es gibt so viele Serien, so viel Möglichkeiten des Eskapismus! Flieht vor dieser Welt, diesem Horror aus acht Milliarden Planetenfressern.
Klar! Es sterben Menschen. Ausnahmsweise nicht nur in der so genannten Dritten Welt. Aber dort immer noch viel mehr als bei uns. Wir genießen unser Wohlstandsdasein und erfreuen uns an der Erhöhung des Regelsatzes auf 446 Euro. Wo kommt nur dieses viele Geld her? Danke Sozialstaat. Daher begrüße ich die Rekordzuwächse des DAX. Triggle down! A bisserl was fällt auch in meinen Schoß. Toll dieser Kapitalismus und Unternehmer sind nicht nur Menschen die nehmen. Als Untergebener nehme ich gerne die Gaben. Ein glückliches Jahr liegt nun hinter mir und meine Hoffnung ist groß, dass meine geringe Lebenserwartung noch mit weiteren glücklichen Seuchenjahren  pandemisiert bleibt. Danke, danke und danke.

 

Streifschuss vom 11. April 21

 

Anlass: vom Untergang des Abendlandes

 

Unter Leuchten

 

Neulich saß ich in einer Runde, die in etwa so bunt war wie Ausgekotztes nach einer durchzechten Nacht. Eine 50jährige ziemlich aufgedrehte, mehrfach schönheitsoperierte (sie zeigte mir tatsächlich ihre OP-Narben!) und von Astrologie und Sex besessene, alkoholkranke Frau, daneben ein nicht viel jüngerer Blondschopf dem das ganze Hochhaus gehörte auf dessen Dachterrasse wir uns befanden, und bei dem der Begriff „Geldsack“ sich tatsächlich in seiner Körperform ausgegossen hatte. Wobei ich ihn noch in Schutz nehmen möchte, war er doch von allen der am wenigsten ausgekotzte Brocken – sieht man mal davon ab, dass er gegen Abend alles „privatisieren“ wollte. Weiter dabei eine 30jährige pummelige Sozialpädagogin, die bereits Brüste wie ein Kamel hatte und dennoch vor hatte sich diese vergrößern zu lassen. Wollte sie durchstarten? In 80 Tagen um die Welt mit einem Busenballon? Anfangs zurückhaltend, später schnippisch werdend, ganz so wie es das Klischee von Sozialpädagoginnen erwartet. Gastgeber war – und das werden Sie mir jetzt wahrscheinlich nicht mehr glauben – ein Psychiater. Woher kennt nun dieser mittelmäßige Kolumnist und Autor dieser Zeilen einen jungenhaft wirkenden Psychiater im Rapper-Outfit? Er kennt ihn schon lange. Da war dieser Kollegah Psychiater noch Student und provozierte Oberärzte mit einem T-Shirt auf dem „Pozilei“ stand. Heute ist er selbst Oberarzt. Oberarzt in einer Lebenskrise, der zur bildlichen Veranschaulichung seiner Lebenskrise diese Runde in sein neues Domizil in Schwabing geladen hatte. Da saß ich nun immerhin fünf Stunden meiner Lebenszeit auf der Dachterrasse bei Champagner und Sushi, im Hintergrund die Münchner Skyline und dahinter die Berge. Natürlich muss man hier sofort an Baby Schimmerlos und Generaldirektor Haffenloher denken. Teufel noch mal. Wie fühlt man sich, wenn man als Plattitüde zwischen Helmut Dietl und Veronica Ferres eingezwängt sitzt, englisches Ale trinkt (weil ich keinen Perlwein mag) und einer 30jährigen pummeligen Sozialpädagogin dabei zuhört, wie sie von ihrer kommenden Schönheitsoperation schwärmt. Das Ale hatte mir Generaldirektor Haffenloher extra aus seiner Wohnung geholt, die gleich nebenan lag. Schon das lässt ihn hier gut weg kommen. Ein Mann, wie ein Fels in der Brandung mit einem Kühlschrank voller englischem Bier.
In dieser Runde von der man nicht sagen kann, ob sie einfach nur traurig war, oder ein evolutionärer Missgriff, war ich immerhin der Senior. Und ich war daher auch unter all diesen Leuchten, derjenige mit der geringsten Lebenserwartung. Sowohl das pummelige in einem Irrenhaus arbeitende Busenwunder als auch die alkoholkranke Medienberaterin erwarteten sich tatsächlich noch etwas von ihrem Leben. Auch der Großunternehmer der alles privatisieren will und der Arschhosen tragende lebenskriselnde Psychiater! Alle vier glitzerten, vom Champagner beschwipst wie kurz vor Weihnachten. Dieses Bild hätte auch Ernst Jünger entwerfen können, als er einst als Offizier mit dem Champagnerglas in der Hand auf den Untergang Deutschlands wartete. Natürlich wird heute niemand dieses Land ernsthaft vermissen, wenn es mal weg ist. Nur das Geld das hier sinnlos herumliegt und auf seine Privatisierung wartet. Nur ist das Geld dann vermutlich nichts mehr wert.
Meinen rechtzeitigen Aufbruch (anfängliche Versuche zu entkommen scheiterten an meiner Artigkeit) konnte ich ohne Verlust von Höflichkeit durch die Sperrstunde rechtfertigen. Aber da waren der Champagner und die Sushi ohnehin alle und die Leuchten erloschen. Die pummelige Sozialpädagogin und Kollegah Psychiater blieben allein zurück und was danach kam, gehört nicht zu meinem bevorzugten Phantasien. Echt nicht.

 

Streifschuss vom 06. April 21

 

Anlass: Vom Sprech- Schreib- und Lesakt

 

Akte X

 

Ich habe bislang selten einen Text gelesen, der so geschrieben war, dass man ihn nicht auch anders hätte schreiben können, um den gemeinten Inhalt wiederzugeben. Liegt das an der fakultativen Kraft der Sprache? Oder eher daran, dass unbeholfene Passanten an einem Unfallopfer mal den Rock öffnen, um ihn gleich darauf wieder zu schließen, versuchen das Opfer aufzurichten oder im Gegenteil wieder hinzulegen, aber eigentlich mit diesen Handlungen nur die Zeit ausfüllen wollen, bis endlich sachkundige und befugte Hilfe kommt. Eingeschüchtert von den zahlreichen Dispositions- oder Kombinationsoptionen der Sprache, die sich zugleich in unzähligen Permutationen brechen. Worüber wir uns nicht eindeutig verständigen können, müssen wir – wollen wir nicht schweigen - inszenieren und bei dieser Inszenierung den sprachlichen Ausdruck selbst zum Gegenstand machen. Ein Modell, das den Unfallhergang nachstellt, entspricht einer spekulativen Sprachlogik in der „alles, was der Fall ist“ ontologisch determiniert ist. Doch neben dem Unfall gibt es leider auch den Zufall. Sämtliche Versuche eine Universalsprache zu entwickeln oder die adamitische Ursprache wieder zu finden, kann man samt und sonders schon seit dem vorigen Jahrhundert zur Wissenschaftsgeschichte zählen. Ein Modell ist immer nur ein Modell. Die Suppositionen sind von vorne herein festgelegt. Für wen, wann und wozu verkürzt es pragmatisch das Original. Eine Erzählung ist nicht das wirkliche Geschehen. Ein wirkliches Gespräch zwischen zwei Menschen, sei es noch so kurz, ist nicht mehr wiederzugeben, weder als Ton- noch als Bildaufzeichnung. In seiner Einmaligkeit (früher hätte man pathetisch in seiner Göttlichkeit gesagt) lässt sich die Wirklichkeit nicht reflektieren, ohne dabei eine weitere Wirklichkeit zu erschaffen. In jedem Sprachgebrauch entsteht daher eine neue Wirklichkeit, deren Wiederholbarkeit sich auf technische Reproduzierbarkeit reduziert. Doch täuschen wir uns nicht. Die technische Reproduktion eines Textes ist nicht gleichzusetzen mit wiederholtem Lesen des Textes oder Sprechen des Textes. Jeder Text koppelt sich an das subjektive Bewusstsein, das nicht außerhalb seiner Zeit existiert. Wiederholtes Lesen ist immer wieder neues Lesen. Und damit erschließt sich auch jeder Text immer wieder neu. Tradition ist damit Fortschreibung. Ein barocker Text aus seiner Zeit ist verschollen in der Zeit. Was bleibt ist die Leseerfahrung einer neuen Wirklichkeit des Textes. Diese Leseerfahrung ist nicht reproduzierbar, verschließt sich jeder Technik. Den Wahrheitsgehalt eines Textes gibt es nur strukturell, allgemein bezogen auf Eigenschaften, Kräfte oder Instanzen. Jeder Schreibakt ist ein Einzelfall. Der abgeschlossene Text ist eine Illusion. Er mag geschrieben worden sein und scheinbar feststehend.  Doch er benötigt für seine Lebendigkeit den Lesakt in der Zeit. Jeder Lesakt ist wiederum ein Einzelfall bezogen auf einen einmaligen Text. Sie mögen sich ähneln, aber nur strukturell als Modell. Aber ein Modell ist eine pragmatische Verkürzung der Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit ist nie wiederholbar. Schon von daher lässt sich nie ein Text schreiben, der nicht zu verändern wäre. Nur ein Sonderfall an den wir uns immer wieder erinnern: Die Bibel. Der Bibeltext verweist nicht auf seine Reproduzierbarkeit (das war damals als die Bibel geschrieben wurde technisch nicht gegeben). Die Bibel verweist auf seine immer gleiche Bedeutung und eröffnet damit eine höhere Weisheit, die paradox ist. Die Bibel ist der Text, der sich vor 1000 Jahren genauso in der Wirklichkeit befand wie heute. Das ist zumindest sein Anspruch, aber auch seine Kraft durch den Anspruch den der Text für sich reklamiert. Jeder Text birgt daher eine homiletische Aktion in sich und verweist in seiner Dauer auf eine Predigt. Das ist wirklich außerirdisch….
 

Streifschuss vom 01. April 21

 

Anlass: ein privater Diskurs über die Heiligkeit der Literatur

 

Die Kopie von der Kopie von der Kopie
ein kleiner Literassismus

 

Es gibt in Deutschland ca. 20 Millionen Schriftsteller, von denen 10 Autoren von ihrer Tätigkeit wirklich leben können. Das sind dann 0,00005 Prozent. Diese 0,00005 Prozent schreiben nur marginal besser, als die restlichen 99.9995 Prozent der Autoren. Wenn nun jemand behauptet, der Kapitalismus funktioniert, dann lässt sich das anhand dieser simplen Zahlen leicht widerlegen. Der Kapitalismus funktioniert nur ex negativo. Diese 10 Autoren werden massiv verwertet und schleppen vielleicht weitere 100 Autoren mit, die durch ihre Arbeit als Schriftsteller ein kleines Nebeneinkommen generieren können. Diese 110 Autoren, die überhaupt Geld bekommen, werden nicht durch Leistung bekannt, sondern durch Propaganda. Heute nennt man diese Propaganda ganz harmlos „Feuilleton“. Die performative Literatur hat die Tradition in vielfache Diskurse aufgespalten. So wird es möglich, dass sich immer wieder der eine oder andere Germanist oder Drogerieverkäufer in die Bestseller-Listen schreiben kann. Diese Arbitrarität der Literaturen wird künstlich sortiert und verwaltet. So entsteht neben der Vielfalt der Diskurse und dem allgemeinen Sinnverlust von Sprache ein illusionärer Eindruck von Sinnhaftigkeit und Verbindlichkeit. Diese Illusion nennt sich dann Literaturmarkt. Tatsächlich ist es einem Jahrmarkt ähnelndes Konstrukt aus Schaustellern, Feuerschluckern, Kettensprengern, Jungfernzersägern, Messerwerfern und anderen Kuriositäten. So wird die Literatur zu einer schönen Nebensache herab gewirtschaftet und der Diskurs in ihr zu einem Steckenpferd.  10 Autoren (nicht immer dieselben – die wechseln sich durch und erhalten so die Illusion von Vielfalt in der Einöde aufrecht) stehen auf einer Liste zur allgemeinen Verfügung. Am Ende der Verwertungskette befindet sich naturgemäß der lesende Konsument. Und der lesende Konsument ist oft selbst ein Autor, der nicht davon leben kann. 20 Millionen Schriftsteller garantieren erstens einen laufenden Umsatz und zweitens ein Bedürfnis danach, der Literatur eine sakrale Bedeutung zuzuschreiben. Jeder Text der in Buchform gedruckt wird, äußert sich homiletisch. Jeder Text, der es nicht in die Buchformate schafft, bleibt profan. Die repräsentative Kraft des Buches übertönt die Performanz der Texte. So kann sich das System der Literatur auf einem religiösen Niveau erhalten. Die Revolution des Buchdrucks durch Book on Demand und die nahezu unendliche Reproduktion des Textes durch das Internet hat in den letzten zwanzig Jahren eher dazu beigetragen, den Buchdruck, das gedruckte und beglaubigte Buch noch sakraler zu machen. Der Ritterschlag des veröffentlichten Romans durch einen offiziell als seriös bezeichneten Verlag (was immer das sein soll) treibt die 20 Millionen Schriftsteller vor sich her. Sie hören nicht auf zu schreiben. Ein Schuster, der seine Schuhe nicht verkaufen kann und in seinen selbst produzierten Schuhen halb erstickt ist ein Witz über den man „laufend“ lachen kann. Unterm Strich steht der Betrug. Sofern man geneigt ist, den Verkauf von Illusionen die nur kosten und wenige ernähren, als Betrug zu bezeichnen. Das literarische System ist eine Maschine, die man als Kultur bezeichnet. In einem großen Verwaltungsakt wird die Kirche subventioniert und ihre Päpste sind seit dem Tod von Marcel Reich-Ranicki in ein Schisma gespalten, das jeden Agenten dieses Systems zu einem Schlapphut macht, der nur noch mit Platzpatronen auf diese Kultur zu schießen vermag. Es ist ein Bravourstück der dauerhaften Resilienz und hat die Literatur zu einem Popanz der Bedeutungsreproduktion werden lassen. Seit Berlin-Babylon glaubt natürlich niemand mehr an Worte. Bilder fluten unsere Augen. Kein Sehsystem ist mehr in der Lage dieser Bilderflut zu entkommen und es wird längst weit mehr gesehen als gelesen. 60 Millionen Deutsche können sich nicht mehr über längere Zeit auf schwarze Punkte konzentrieren, die sinnlich unzugänglich sind und den Kopf unnötig anstrengen, Gelesen wird von denen, die selbst schreiben. Wer liest ohne zu schreiben, wird irgendwann das Bedürfnis entwickeln, diese von allen beherrschte und leicht zugängliche Kulturtechnik des Schreibens selbst anzuwenden. Das literarische System wird zunehmend autistisch. Der darin dann entstehende Konkretismus wird die Metaphorik zerstören, bzw. hat dies bereits begonnen. Die Illusion der Performanz kommt auch nicht ohne Mimesis zurecht. Doch in der Vielfalt des Diskurses reduziert sich die Mimesis auf die Imitatio. Nihil autem crescit sola imitatione – Nichts aber wächst, wo man nur nachahmt – hatte allerdings schon Quintilian gewarnt. Der allgemeine Stillstand, ja der Schwund an Originalität der Literaturen erklärt sich daraus. Das Paradox einer wachsenden und immer weiter wachsenden Zahl an Schriftstellern bei zugleich immer einfallsloser werdender Literatur wäre damit geklärt. Der Grenznutzen des Literaturmarktes ist schon seit 200 Jahren erreicht. Die Sprachkrise am Beginn des vorigen Jahrhunderts war ihr Symptom. Die Postmoderne war ihr Geschwür und die Rückkehr zu den Erzähltraditionen des Realismus war ihr Zerfall. Heute ist Literatur nur noch durch die Marktzugänglichkeit geregelt. Der Rest ist Humus der stinkt und fault und auf dem wilder Wuchs gedeiht. Da braucht man einen guten Rasenmäher.
 

Streifschuss vom 25. März 21

 

 

Anlass: Hamlets Erzählung von einem Narren

 

Sein oder nicht sein bedeutet nichts

 

Irgendwann habe ich wohl beschlossen, nichts mehr ernst zu nehmen. Man sieht das schon an meiner Orthographie. Wann? Ich weiß nicht. Bin ich eines Tages aufgewacht mit dem Gedanken, mach mir ruhig den Pelz nass, aber wasch mich dabei nicht? Nein. Man kann nicht auf einen Schlag nichts mehr ernst nehmen. Man würde verrückt werden bei dem Versuch. Einzusehen, dass nichts einen Sinn hat (und damit allem jeder Ernst fehlt), bedarf eines starken Charakters und schlechten persönlichen Eigenschaften. Schlechte Charaktereigenschaften bekommt man nicht über Nacht. Die muss man einüben. Erst mal klein anfangen. Zum Beispiel mit den Politikern. Die gibt es halt wie nicht weg geräumte Hundehäufchen auf der Straße. Wenn man rein tritt, klebt das an der Schuhsohle und stinkt. Ist blöd, ja. Aber nicht ernst. Hat man erst einmal gelernt, die Politiker nicht mehr ernst zu nehmen, kann man diesen korrupten und machtgeilen Mistkerlen sogar wieder zuhören und dabei herzhaft lachen, wenn diese verzweifelt ihre Lügen als ernste Wahrheiten ausstreuen. Dann die Ärzte. Sie nicht ernst zu nehmen ist von großer Bedeutung. Denn dann regt man sich über seinen erhöhten Blutdruck nicht mehr auf und das ist lebensverlängernd. Ärzte sind in ihren weißen Kitteln, dem aus der Brusttasche hängenden Stethoskop oder ihrer Kopflampe an der Stirn letztlich lächerliche Figuren. Nimmt man die Politiker und die Ärzte  nicht mehr ernst geht man schon entschieden heiterer und weniger aufgeregt durchs Leben. Nehmt den Chef nicht mehr ernst und ihr ertragt die Sklaverei leichter. Nehmt die Freunde nicht mehr ernst und ihr habt mehr Spaß mit ihnen. Nehmt die Liebe nicht mehr ernst und ihr habt weniger Kummer. Und vor allem: nehmt die Kritik nicht ernst. Was soll das denn heutzutage? Natürlich kann man kritisieren wen oder was man will. Aber ernst nehmen darf man Kritik doch nicht. Als würde irgendwas irgendeinen kritikwürdigen Sinn machen. Jahrelang sucht man nach einem solchen Sinn, nur um dann festzustellen, dass es keinen gibt. Jahrelange vergebliche Sucherei, Haarerauferei, Zähneknirscherei und Nägelkauerei. Für nichts. Daran sollte man erkennen, dass auch aller Trübsinn nichts bedeutet. Was bleibt ist die Freiheit, darüber zu lachen. Wer nichts mehr ernst nimmt, der nimmt auch das Leben nicht ernst. Und das erleichtert einem das Sterben. Zum Ende darf man auch das Nichternstnehmen nicht mehr ernst nehmen, sonst würde man durch den Tod das Lachen verlieren. Das Lachen zu verlieren ist aber auch kein Verlust. Jedwede Negation funktioniert nur als vollständige Negation, sonst wäre es nur eine Subtraktion. Aber von was sollte man denn was abziehen?
 

 

Streifschuss vom 24. März 21

 

Anlass: Cancel Culture

 

Ich bin nicht bedroht! ICH BIN DIE BEDROHUNG

 

Seit nun schon längerer Zeit gehöre ich einer der am meisten gehassten Gruppen an, den alten, weißen, heterosexuellen Männern. Und alles was man über diese Gruppe behauptet, stimmt. Gott sei Dank bin ich wenigstens nicht privilegiert und kaum noch sexuell aktiv. Aber ich bin wütend. Und wütend darüber, dass ich wütend bin. Natürlich verberge ich diese Wut hinter ironischen Klugscheißereien. Wer es mit mir zu tun bekommt, bekommt es mit mir zu tun. Alles was früher schlecht war, ist heute auch noch schlecht und alles was früher besser war, ist heute wieder schlecht geworden. Und alles was heute besser ist, war früher zwar schlecht, aber wen interessiert das? Alle schauen nach vorn. Nur die alten, weißen, heterosexuellen Männer schauen konsequent in den Rückspiegel. Sieht aus, als würden sie vorausblicken, aber es sieht halt nur so aus. Was sieht der alte, weiße, heterosexuelle Mann wenn er tatsächlich nach vorne blickt? Hängende Klöten ohne Kröten, viel Not ohne Brot und – was dem Zwangsreimen folgt – die Demenz. Der alte, weiße, heterosexuelle Mann erlebt sehenden Auges seine eigene Verblödung und kann nur hoffen, dass diese Verblödung noch vor der Obdachlosigkeit eintritt. Dann ist er ein dementer, alkoholkranker, alter, weißer, heterosexueller Mann ohne Dach über dem Kopf. Da der alte, weiße, heterosexuelle Mann dement und korsakowerisiert ist, erkennt er seine eigenen Kinder nicht mehr, lebt von der Hand in den Mund auf der Straße und ähnelt zunehmend den Pavianen in Neu Delhi. Der alte, weiße, heterosexuelle Mann wird zur Affenplage. Sofern sie körperlich noch einigermaßen rüstig sind, greifen sie die friedlichen Passanten auf der Straße an und rauben sie gnadenlos aus. Alles was irgendwie glitzert, zieht sie an. Alles was bimmelt, zieht sie an. Anfangen können sie mit ihrer Beute wenig. Ein primitives Tauschsystem unter den alten, weißen, heterosexuellen Männern funktioniert halbwegs. So werden Essensreste (weggeworfene halbe Döner, Pizzen, Big Macs) gegen Smartphones und Tablets getauscht. Unter den alten, weißen, heterosexuellen Männern gibt es dann wütende Revierkämpfe. Und nicht selten Tote. Sie sehen! Wenn ich jetzt wütend bin und schlechter Laune liegt das ausschließlich daran, dass ich ein alter, weißer, heterosexueller Mann bin.

 

 Streifschuss vom 22. März 21

 

Anlass: Demokratie-Pflege

 

Ich sitze furchtbar gern im Sessel und döse
(David Lynch)

 

 Unser bürgerliches, kapitalistisches System garantiert nur einer privilegierten Schicht echten und nachhaltigen Wohlstand. Alles Geld der Welt ist nur geborgt  und nur wer herrscht verdient es. Wer es verdient, herrscht nicht. Das sagt ja schon das Vollverb „ver-dienen“. Die Versprechen von Gleichheit sind längst in der Freiheit zu lügen untergegangen. Nicht umsonst heißt es „Lug und Trug“. Wo gelogen wird, wird auch betrogen. Und nirgendwo sonst wird so viel gelogen – ohne Not gelogen – wie in der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Aber nicht, dass Sie glauben, ich glaubte noch an die Wahrheit. Nein, sicher nicht. Ideologien habe ich von jeder Seite her inzwischen betrachtet und verachtet. Eine Revolution tauscht nur die Mächtigen mit anderen Mächtigen, die Privilegierten mit anderen Privilegierten. Es ist besser, die alten Machthaber zu behalten. So lange wie möglich, denn sie werden müde und damit kann man arbeiten.
Die größte Vernunft geht vom schläfrigen Regenten aus, denn er oder sie ist im bestmöglichen Sinne objektiv. Der müde Regent hat dank seiner Sehnsucht nach Schlaf wenig Ego und vertritt keine Ideologien. Der müde Regent tagträumt, bringt nichts zustande und kann somit keinen Schaden anrichten. Wollen wir einen Buddha auf dem Thron? Dann wählen wir den Komatösen. Jede an ihn gerichtete Frage wird mit Schweigen bestraft. Jede Ideologie wird vom komatösen Regenten ignoriert und scheitert an dem regelmäßigen Atem des Beatmeten. Halten wir also die Demokratie, die längst im Koma liegt, weiter künstlich aufrecht. Machen wir einfach weiter und überlassen den Rest einer höheren Fügung. Achten wir darauf, dass sich die Demokratie nicht wund liegt, wechseln wir das eingeschissene Laken der komatösen Demokraten aus und straffen das frische und weiße darunter, damit ja keine Falte entsteht. Mobilisieren wir den komatösen Regenten indem wir ihn mal nach links und mal nach rechts drehen und dann wieder in der Mitte liegen lassen. Wie geht es weiter? Das entscheidet der Sozialbetreuer des mittlerweile zu Recht entmündigten demokratischen Regenten. Lesen wir die Schriften von Platon,  Cicero oder Rousseau weniger als philosophische Texte, sondern mehr als Verfügungen, an die sich die Ärzte der Demokratie halten müssen. Gemeinsam mit den Psychologen, den Therapeuten und den Pflegern des Systems arbeiten wir daran, dass der Regent einst aus seinem ewigen Schlaf erwachen wird. Auch wenn das Gehirn des schlafenden Regenten längst zu Mus geworden ist, hoffen wir auf ein Wunder. Denn dieser schlafende Riese in seinem weißen Bett ist der beste Regent aller Zeiten und für alle Zeiten. Für die nächsten Tausend Jahre Demokratie im Schlaf, erträumen wir uns ein schlarafftes Land aus Faulenzern. Sauber, satt und sicher. Gedruckt zu Arbeitshausen / in der Graffschafft Fleiß im Jahr / da Schlarraffenland entdeckt war.

 

Streifschuss vom 19. März 21

 

Anlass: in fünf Monaten sind die natürlichen Ressourcen der Erde wieder mal aufgebraucht

 

Der Mensch ist der Bock im Garten Eden

 

Schon seit der Antike mindestens bemühen sich weise Frauen und Männer zu verstehen, warum der Mensch immer wider besseren Wissens handelt, warum der Mensch trotz allgemeiner Volksbildung und Durchalphabetisierung und bei voller psychischer Gesundheit mit dem Brustton der Überzeugung sagen kann: „Rauchen erzeugt Krebs, das ist ja wohl erwiesen“, und sich dann genüsslich eine anzündet. Wie schafft es der Mensch, am Abend vor dem Fernsehapparat zu sitzen, sich eine investigative Sendung über die katastrophalen Zustände in deutschen Schlachtbetrieben anzusehen, entsetzt über den Zustand der armen Viecherl, während er sich das billige Rindshack in den Mund stopft? Und wütend schimpfen wir über den Schlachthofbetreiber, der – nach eigener Aussage - gar nicht anders konnte, als polnische Hilfsarbeiter zu zehnt in fünf Quadratmeter große Barracken zu stapeln. Er sei schließlich Unternehmer! Und als wir erfahren, dass die Börsenkurse wieder fallen, machen wir uns ernsthaft Sorgen um die Wirtschaft.
Aber wir müssen gar nicht so weit ausholen. Schon am Morgen beim Aufwachen fängt das an. Wir stehen auf, obwohl wir ganz genau wissen, dass es klüger gewesen wäre liegen zu bleiben, besser für den Kreislauf, besser für die Laune, besser für die unschuldigen Passanten, die man in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit anschnauzt. Wir stehen auf, wider besseres Wissen, ziehen uns an und fahren in die Arbeit. Alles gegen unsere Vernunft. In der Arbeit begegnen wir unserem Chef. Der meint, dass es sehr löblich sei von uns, in der Arbeit zu erscheinen, aber wenn wir nun schon mal da wären, könnten wir tatsächlich auch arbeiten. Und, Überraschung! Wir arbeiten wider besseres Wissen. Schließlich kommt der Chef – es ist nicht zu umgehen, ihn bei der Arbeit anzutreffen – erneut auf uns zu, findet es positiv, dass wir arbeiten. Jetzt wäre es noch besser, meint der Chef, wenn wir auch alles richtig machen würden. Das tun wir. Sicher. Das muss ich nun nicht mehr weiter erklären. Und so kommt wider besseres Wissen ein nagelneues vierrädriges Automobil frisch aus dem Werk in die Hände eines begeisterten Autofahrers. Dieser fährt nun mit dem von uns wider besseres Wissen gebauten Automobil auf der Autobahn und hört sich eine Radiosendung an. Dort berichten sie über die Zerstörung der Umwelt durch die steigenden CO2 Werte. Der begeisterte Autofahrer schüttelt den Kopf und sagt zu seiner beifahrenden Ehefrau: „Die Menschheit wird auch nicht klüger.“ In der Tat. Ich behaupte, dass unsere gesamte Zivilisation auf dieser besonderen Form der Inkontinenz beruht. Wir hätten von Anfang an im Bett bleiben sollen, oder auf dem Planeten von dem auch immer wir her gekommen sind. Scheiß Affen.

 

Streifschuss vom 17. März 21

 

Anlass: Apollons Amme

 

Aletheias Schlaflied

 

Der Weg zur Wahrheit ist mit Paradoxen gepflastert. Oscar Wilde opferte die Wahrheit für ein gutes Bonmot. Er hat es in einem Brief an Conan Doyle sogar selbst zugegeben. Kein Paradox führt auch nur annähernd zur Wahrheit. Im Gegenteil sind Paradoxien Sackgassen. Es ist also Unfug zu behaupten man müsse auf  Penrose-Dreiecken oder als sich selbst rasierender Barbier Richtung Wahrheit gehen. Simplex ratio veritatis. Vielen Dank Herr Cicero für diesen pragmatischen, römischen Beitrag. Aber nein. Das stimmt leider auch nicht. Die Wahrheit ist sehr kompliziert und um sie auf den Tisch zu bringen, benötigt man ausgefeilte, mühsame und oft sehr tröge Ausführungen. Die Menschen interessiert die Wahrheit nicht. Sie langweilt sie. Versucht man den Menschen die Wahrheit begreiflich zu machen, schlafen sie ein.  Hallo? Sie sind nicht eingeschlafen? Ehrlich nicht? Also gut. Dennoch Zeit für ein Bonmot. Man nennt den anderen einen Sophisten, wenn man fühlt, dass man dümmer ist als er. Oh vielen Dank Herr Valery. Wenn auch Ihre Poesie nicht ganz so rein war wie Sie es wünschten. Da ist Ihnen ein Bonmot geglückt, das endlich der Sache näher kommt. Hat man die Wahrheit erst begriffen, ist sie ganz einfach. Doch der verblödete Schüler spürt bleierne Müdigkeit in sich aufkommen, verursacht durch das beständige Ziehen an seinem Hinterkopf von den Ausführungen des Lehrers. Doch auch der Lehrer spürt sie jetzt, langsam werden auch seine Augen schwer, Senkblei in seinem Körper, bei seinem steten aber immer scheiternden Versuch, dem verbödeten Schüler die Wahrheit begreiflich zu machen. Denn die Wahrheit…gähn, die Wahrheit meine lieben Leser, die Wahr….tssss,…zzzzzz.

 

Streifschuss vom 16. März 21

 

Anlass: Zum Jahrestag des Lockdown hier noch mal zur Erinnerung eine meiner ersten Reaktionen. Gott! War ich damals noch naiv. Aber ich muss ehrlich bleiben...

 

 

Streifschuss vom 14. März 2020

Manidae pholidota, auch genannt Pangolin

 

Und die ganze Welt steht still, wenn ein Tannenzapfentier es will

 

Geschlossene Schulen, geschlossene Kindertagesstätten, auch die Münchner Volkshochschule und die Volkshochschulen im Münchner Umland schließen ihre Pforten. Gerade jetzt, wo die Menschheit Bildung so nötig hätte! Sogar die kulturelle Veranstaltungslandschaft kommt zum Erliegen. Es findet kein Profifußball statt! Brot und Spiele wurden vorerst - seit Covid-19 von einem Tannenzapfentier auf den Menschen übersprang – eingestellt. Bedenkt man, dass in den letzten 50 Jahren der demokratische Staat nur funktionierte, weil Freiheit von Mangel uns das Denken ersparte und die Maschine der Ablenkung reibungslos lief, dann wird es spannend zu beobachten, was diese Krise aus unserer Unabhängigkeit des Denkens macht, und aus unserem Recht auf politische Opposition. Werden wir alle stille halten, abwarten, verängstigt in unserer Quarantäne verharren? Sind wir schon so unseres kritischen Verstandes beraubt worden, dass wir einem derart absurden Rat folgen, auf Sozialkontakte zu verzichten? Oder wird die Rückkehr des Mangels uns endgültig den neofaschistischen Wölfen um Adolf Höcke zuführen? Kann es sein, dass eine Glatze immun macht? Und geschlossene Grenzen haben ja schon immer prächtig funktioniert? Der drohende ökonomische Kollaps sollte eigentlich niemanden besonders wundern. Längst war die herrliche Globalisierung an ihrer kritischen Grenze angekommen. Ein wenige Nanometer (Faktor von 10-9) kleiner, relativ einfach aufgebauter Körper schaltet das gesamte moderne System der Spätindustrie aus und könnte die Menschen wieder ins 19te Jahrhundert befördern. Die Vulnerabilität eines solchen Systems klingt nicht Vertrauen erweckend. Da wird auch die Bazooka von Herrn Minister Scholz nichts nutzen. Denn auch Geld immunisiert nicht gegen Viren. Auf diesen Mr. Scholz bin ich ohnehin nicht gut zu sprechen, will er doch auf Kleinkünstler mit Kleinkaliber schießen (so äußerte er sich tatsächlich, und merkte nicht, dass er Goebbels zitierte –natürlich stand die Metapher für Kleingeld, aber das macht es nicht wirklich besser). Wenn ein Kleinkünstler nichts tun kann, dann schadet das niemandem. Im Gegenteil. Daher bekommt der Kleinkünstler nur Kleingeld. Da sich politische Macht nur behaupten kann, wenn es ihr gelingt technische, wissenschaftliche und mechanische Produktivität zu mobilisieren, ist Stillstand das einzige revolutionäre Gegenmittel. Eine Pandemie dauert etwa zwei bis drei Jahre. Dann ist der Kapitalismus wie wir ihn kennen vorbei. Und es wird schlimmer. Wie immer, bevor es besser wird.

 

Streifschuss vom 14. März 21

 

Anlass: wieder mal ein Skandal in der politischen Kaste

 

Folgt nicht dem Gestank, sondern riecht wo er herkommt

 

Wir haben es erwartet und es überrascht uns nicht. Und doch: im tiefsten Winkel unseres Herzens hofften wir alle, sie wären so gut, so ehrlich, so ideal wie sie auf den Werbeplakaten kurz vor den Wahlen dargestellt sind. Aber die politische Kaste ist ein verdorbener, korrupter und gesetzloser Haufen. Sie ernähren mit ihren Skandalen die journalistische Kaste. Eine Win-Win-Situation. Und so kann der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sich ganz entspannt empören. Der Inhaber des höchsten Amtes der politischen Kaste weiß ganz genau, dass Betrug und Korruption die Regel sind, und nicht die Ausnahme. Wüsste Steinmeier das nicht, dann wäre er eine kuriose Fehlbesetzung. Auch hier hoffen wir insgeheim, der empörte Präsident habe „nichts davon gewusst“. Klingt ein bisschen naiv oder? Klingt wie „wenn das der Führer wüsste“. Keine Sorge Volksgenossen. Er weiß es. Der Präsident ist nur aufrichtig empört über die Tatsache, dass sich mal wieder ein paar Vollidioten haben erwischen lassen. Aber auch das gehört zum System. Denn darüber schreiben die Journalisten und halten den Betrieb auf diese Weise aufrecht. Ein paar unmoralische Verfehlungen, ein paar schwarze Schafe werden geopfert und der Rest der politischen Kaste steht im Grunde moralischer da als zuvor. Es funktioniert. Aber tatsächlich ist die politische Kaste eine verdorbene, stinkende Jauchegrube. Sicher, beginnt der kleine politische Adept seine Laufbahn, ist seine Einstiegsdroge die Kommune. Da gelingt es dem Adept tatsächlich hin und wieder mal einen alten Baum zu retten, oder eine Dorfschule zu sanieren. Doch je weiter der Adept, die Adeptin in der politischen Kaste aufsteigt, desto tiefer sinkt er/sie in der Jauchegrube ab. Wir wissen alle, dass die politische Kaste so übel ist, wie ich sie schildere. Das betrifft das gesamte Farbspektrum der Parteien. Nur verschließen viele die Augen, weil es Teil des gesamten Systems ist. Der Mensch ist vermutlich das einzige Raubtier auf der Erde, das sich selbst zur Beute macht. Der Mensch ist ein autophages Säugetier. In der politischen Kaste offenbart es sich exemplarisch und wird dann in den Zeitungen zelebriert. Die Betrüger und Korrupten waren Jäger und werden nun selbst gejagt und geopfert. So bleibt die Kaste als Gesamte sakrosankt. Es ist widerlich, dass diese Kaste die Gesetze schreibt nach denen wir leben. Aber es ist in sich logisch. In unseren schwer gefüllten Herzen wissen wir, dass Betrug und Korruption das Hauptgeschäft  - nicht nur - der Politik ist, und in unseren Herzen lebt neben diesem Wissen zugleich die Hoffnung es möge nicht so sein. Diese Akrasie (Handeln wider besseren Wissens) wäre herzzerreißend. Daher müssen wir uns zwischen Hoffen und Wissen entscheiden. Das können wir nicht. Und so ist unser aller Herz zur Mördergrube geworden. Wir unterscheiden uns nicht sonderlich von der politischen Kaste. Der Unterschied liegt nur darin, dass die Politiker in die tiefste Jauchegrube steigen und wir nicht. Vor unseren Augen liegt diese Jauchegrube in die jeder steigen muss. Nur ist sie nicht für jeden so tief. Wir sind diese stinkende Jauchegrube aber schon so gewohnt, dass fast jeder nach ihr lechzt. Wenn wir uns über die Betrüger und Korrupten empören, dann ist das mehr Schadenfreude. Endlich haben sie wieder ein paar erwischt. Wir wären gerne selbst Betrüger und hielten die Hand auf. Nur erwischen lassen wollen wir uns natürlich nicht.
Insofern hatte Niclas Luhmann völlig Recht. In der Politik geht es weder um die Moral, noch darum wer Recht hat, sondern lediglich um Macht. Die Empörung des Präsidenten ist daher fast schlimmer, als ein paar lumpige korrupte Politiker. Sie ist geheuchelt und stinkt erbärmlich nach der tiefsten Scheiße der Jauchegrube in der die führenden Kastenmitglieder leben. Aber sie sind so sehr von dieser Scheiße umgeben, dass sie gar nichts anderes mehr wahrnehmen. Die erwischten Betrüger sind Blasen, die aus der Jauchegrube hochblubbern. Doch ganz unten, in der tiefsten Scheiße steckend, empört sich der Präsident.
In der Politik wäre ein "ehrlicher Präsident" ein Widerspruch in sich selbst.

Streifschuss vom 10. März 21

 

Anlass: Obwohl er in jeder Hinsicht Gott gleich war, hielt er nicht selbstsüchtig daran fest, wie Gott zu sein.

 

Befreiungsschlag

 

Die Leute jammern über den Tod, wo der doch das einzig Sinnvolle im Leben ist. Endlich verlässt man diese Hölle der Notwendigkeiten, sprengt die Ketten des Daseins. Klar, man verliert dabei das Leben. Und die Leute kennen nur das Leben. Der Tod erscheint ihnen als Ungeheuer, weil er ihnen nicht geheuer ist, weil sie ihn nicht kennen. Sie sehen nur die Hüllen, die er im Gefängnis des Lebens zurück lässt. Der Tod ist Befreiung und bisher ist ja auch noch nie einer freiwillig ins Leben zurück gekommen. Außer Jesus. Und seine Botschaft war dabei klar: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Christlich zu sein, ist ein verquastes Anhimmeln des Todes. Die moderne Furcht vor dem Tod und die ganzen lebensverlängernden Maßnahmen unserer Epoche deuten auf den Verlust des Glaubens an die Befreiung. Die Menschen richten sich in ihrem Gefängnis ein, reden sich ein, sie seien gar keine Gefangenen. Sie lieben diese Hölle und suhlen sich in der Jauche des Daseins. Diese abartigen und perversen Lustmolche dieser lebensbejahenden Epoche klirren mit ihren Ketten, als sei das Schmuck. Man möchte diesen verdrehten Geschöpfen den Schädel einschlagen, aus purem christlichem Mitleid. Wie traurig sind Gefangene, die ihre Ketten lieben, ja damit prahlen. Je größer und kräftiger die Kette, desto stolzer! Doch diese unglücklichen Wesen verraten sich immer wieder selbst. Denn das was sie ihr Leben nennen, ist nur der Traum von dem was sie leben möchten. Sie sind alle auf der Flucht vor der Wahrheit, tanzen mit den Schatten, verehren die Toten wie Götzen. Sie schlafen bei Tag und bei Nacht und fürchten sich vor dem Aufwachen. Denn das was sie als den Tod bezeichnen, ist ihr Erwachen. Man kann sie alle nur bedauern und den eigenen Tod ersehnen. Ja ich weiß, das klingt morbid.
In dieser Todes-Meditation nehme ich Abschied. Und erkenne dabei, dass all das nur Ketten sind, die mich festhalten an Dingen, denen ich ohnehin gewaltsam entrissen werde. Ich stellte mir vor, dass ich bereits tot bin und die Schwierigkeit bei dieser Übung ist, von allem Abschied zu nehmen. Nicht nur die besonderen Dinge, auch die ganz banalen Handlungen und Dinge verabschieden. Keine Texte mehr schreiben können. Kein weiterer Streifschuss, kein weiteres Essay, keine Kurzgeschichte mehr. Keine mehr an Freunde verschicken können, keine Kommunikation mehr mit irgendwem. Nie mehr aufstehen und Kaffee machen, ihn trinken, Horoskop lesen, Zeitung lesen. Nie mehr Wäsche waschen, nie mehr einkaufen gehen und nicht recht wissen, was man noch essen soll oder kann. Nie mehr lesen, nie mehr ein Buch besprechen, nie mehr Netflix schauen. Nie mehr einen Vortrag ausarbeiten und halten. Nie mehr telefonieren. Nie mehr mich umblicken und meine Bücherreihen ansehen. Nie mehr erleben, wenn ein neues Exemplar mit der Post kommt, wo auch ein Text von mir drin steht. Nie mehr sich anziehen und raus gehen. Nie mehr atmen, nie mehr sich räuspern, sich kratzen können. Nie mehr träumen und die Träume notieren. Nie mehr an Geld denken, an die Zukunft oder an die Vergangenheit. Nie mehr die Augen reiben, die Brille putzen, nie mehr eine Erkenntnis haben, einen Zusammenhang begreifen, einen fremden Text verstehen. Nie mehr dasitzen und „nie mehr“ schreiben können. Nie mehr sich etwas vorstellen können. Nie mehr „Ich“ sagen können. So viel, was nie mehr ist. Nie mehr Sonne, nie mehr den Mond sehen, nie mehr die Sterne. Alles wird so sein, wie vor dem September 1963, vor der Befruchtung, die irgendwann zwischen dem Marsch auf Washington und der Ermordung Kennedys stattfand, und ich frei war, frei von mir selbst.

 

Streifschuss vom 06. März

 

Anlass: über das was wichtig und unwichtig zugleich ist

 

von Hand und Werk

 

Stéphan Mallarmé soll – laut dem Journal von Edmund Goncourt – verkündet haben, dass man einen Satz nicht mit einem einsilbigen Wort beginnen dürfe. Goncourt kritisierte den Lyriker daraufhin heftig. Goncourt spottete über „diese Suche nach kleinen Schnitzern“, denn das würde letztlich von allem „Wichtigen, Großen, Bewegenden, das einem Buch Leben verleiht“ nicht nur ablenken, sondern sogar abstumpfen. Julian Barnes kommentierte, dass die Kluft „zwischen realistischer Prosa und symbolistischer Poesie“ nicht größer hätte sein können, als eben hier zum Ausdruck kommt. Die Differenz zwischen dem feinsinnigen, winzigen Satzmesserchen und dem großen, monströsen Geschichtsfleischermesser ist selbst eine Anomalie. Denn beides zählt. Manchmal kann so ein „kleiner Schnitzer“ alles ruinieren, manchmal kann so ein „kleiner Schnitzer“ alles retten. Der Zufall spielt auch hier seine chaotische Rolle. Es ist wie beim Kochen. Um an das Innere der Frucht zu gelangen, braucht man das monströse Fleischermesser. Die Frucht selbst will filigran behandelt werden. Ästheten wie Mallarmé sehen nur die Frucht und ignorieren die harte Schale in der sie sich schützt und Realisten wie Goncourt unterliegen dem Irrtum, dass die Frucht nur von ihrer Schale befreit werden müsse, um zum Vorschein zu kommen. Dann machen sie Mus daraus. Doch jedes Symbol ist von einer harten Schale Kontext umgeben und wer nicht gelegentlich das Fleischermesser benutzt gelangt nicht an die Frucht. Blutarme Ästhetik ist die Folge. Die große Kunst besteht darin, die Frucht so zuzubereiten, dass niemand der die Frucht verspeist noch an das Fleischermesser denkt, das man brauchte, um an diese schmackhafte Frucht zu gelangen. Es ist eine Frage der Technik. Aber Technik denkt nicht. Und so braucht jedes Messer, ob groß oder klein, geschickte Hände oder kräftige Arme. Geschickte Hände und kräftige Arme bekommt man nicht geschenkt. So muss man regelmäßig das Große, Wichtige, Bewegende stemmen, von dem Goncourt spricht. Genauso regelmäßig sollte man mit der Lupe die Details des Großen, Wichtigen und Bewegenden studieren und handhaben können, um diese „kleinen Schnitzer“ zu vermeiden, die Mallarmé anspricht. Es ist wie in der Physik. Die Teilchen widersprechen oft dem Ganzen. Für die Schwerkraft sind Quanten irrelevant. Aber ohne die Quanten ist der Rest ebenso irrelevant. In der Schwungkraft zwischen dem Großen und dem Kleinen äußert sich zwischen Prosa und Poesie echtes Sprechen. Wieder ist es die Differenz, die Nicht-Identität von Signifikat und Signifikant die im Sprechen wirkt. Lernt man den Kontext als nicht linear zu begreifen gelangt man an den eigentlichen Kern der Frucht. In diesem Kern finden sich Frucht und Schale in sonderbarer Einheit vor. Das Messer mit dem man diesen Kern dann bearbeitet ist kein Handwerkszeug mehr, es ist die Ewigkeit. In der Dauer selbst vereinigen sich Prosa und Poesie in einer nicht theologischen, völlig Gott befreiten Mystik. Jedes gelungene Kunstwerk verschafft uns eine Illusion von „echter Dauer“; also die Illusion von Ewigkeit. Das ist das Geheimnis künstlerischen Wirkens.
 

Streifschuss vom 02. März 21

 

Anlass: Sprache und Bild

 

Alte Sprachschinken in Öl

 

Viele Menschen haben ein naives Verhältnis zur Sprache, indem sie glauben diese sei dazu da, die Sachen möglichst präzise zu beschreiben.  Aber das ist nicht die Funktion von Sprache, fast im Gegenteil ist es Aufgabe der Sprache die Differenz zur Sache zu beschreiben. Das Wort ist nicht nur nicht die Sache, sondern sogar Ausdruck der Nicht-Identität mit der Sache. Wir lernen mit der Zeit, uns – wie man so schön sagt – differenzierter auszudrücken. Sprache hat eine zeitliche Gestalt. Sie lässt sich nur nach und nach erfassen. Vielen Menschen ist das zu mühsam. Sie wollen schnell fertig sein. Aber sie verschleiern ihre Unfähigkeit Sprache zu erfassen, indem sie alten Sprachbildern nachtrauern. Zur Realsatire des „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ kommt es durch das eingefügte Adverb „noch“. Denn wie ist das gemeint, dass man etwas „noch“ sagen kann oder darf. Handelt es sich um einen Rest? Wie lange darf man es „noch“ sagen, bis die Zeit endgültig vorbei ist? Oder kommt etwas dazu? Noch ein Wort? Darf man das also auch noch dazu sagen? Oder nicht nur so, sondern auch so? Oder darf man es „sogar noch“ sagen? Ist dieses sprachliche Idiom politischer Korrektheit im Wandel, so dass man es weiter sagen darf? Also dieses kleine Adverb zeigt bereits an, dass Sprache, präzise angewandt, nicht in einem Satz vollzogen werden kann. Sprache ist kein Bild. Wer sich ein Bild von einer Sache macht, hat nicht erfasst, was Sprache leisten kann. Nicht umsonst triften Bild und Sprache kulturgeschichtlich oft genug auseinander. Sprache ist immer zugleich Kritik an der Sprache. Wäre das nicht so, dann müssten wir in der Tat alle Poet*innen und Philosoph*innen einsperren, denn diese Berufsgruppen kritisieren ständig unsere Art zu sprechen. Natürlich ist Sprache auch mit Kontrolle verknüpft und die Tendenz zu Missbrauch durch Indoktrination ist ihr inhärent. Um zu verstehen, was sich in den letzten 40 Jahren getan hat, muss man sich jedoch von dem Irrtum befreien, dass die Funktion von Sprache Identität stiften würde. Gott sei Dank sprechen wir nicht mehr so wie vor 40 Jahren. Meine Art zu sprechen befreit mich von der Identität mit meinem Volk. Eine gemeinsam benutzte Grammatik macht uns nicht zu einem „einig Vaterland“. Wenn wir sprechen, gehen wir auseinander und nicht zusammen. Was uns zusammen bringt ist das Bild von uns, das wir als Zustand während unseres Sprechens abgeben. Kommunikation ist damit streng genommen nicht Sprechen, sondern abbilden. Wir erliegen regelmäßig dem Irrtum, aus dem Schnappschuss unseres Seins Schlüsse zu ziehen, die uns dann festlegen. Wer kritisiert, etwas „noch“ sagen zu dürfen, hängt an einem alten Schnappschuss fest. Ab hier schreibe ich bewusst - als Inversion - nicht genderneutral, um etwas zu verdeutlichen…  Der Retrostyle einer Sprechenden die in alten Bildern festhängt, will nicht etwas sagen dürfen, was man angeblich nicht mehr sagen darf, sondern sie verteidigt ihr Zurückbleiben in der Sprache. Das Adverb „noch“ ist tatsächlich ein Rest Zeit, die die Zurückbleibende zu haben glaubt, „noch“ etwas zu sagen, was keine sonst mehr sagt. Die, die also „noch“ etwas sagen will, was man angeblich nicht mehr sagen darf, sucht verzweifelt nach Kommunikationspartnerinnen, die sich - wie sie - in diesem zurückgebliebenen Zustand befinden. Das sprachliche Idiom politischer Korrektheit ist ein sprachlicher Fortschritt der Differenz. Diejenigen die glauben, dass dieses sprachliche Idiom Gleichheit stiften wolle,  missverstehen Sprache völlig. Identität entsteht nicht durch Gleichmachen. Ethnische oder kulturelle Gruppen suchen ihr eigenes Wort für sich. Politisch korrekt bedeutet, auf dem Laufenden zu bleiben in der Selbstbebilderung einzelner Gruppen und auch einzelner Subjekte. Daher ist es anmaßend, wenn heterosexuelle, alte, weiße Männer glauben, sie wüssten besser was politisch korrekt sei, als diejenigen, die diskriminiert werden. Das Wort „Neger“ war auch von hundert Jahren bereits diskriminierend, wenn es ein „Weißer“ sagte. Der eigentliche Fortschritt besteht in der differenzierten Deutung des Wortes. Das ist ein historischer Prozess. Da Sprache eine zeitliche Gestalt hat, sind wir nie fertig. Sind wir mit Sprache fertig, dann ist es keine Sprache mehr, sondern ein Bild, ein Sprachbild. Wenn man also „noch“ etwas sagen wollte, was man angeblich nicht mehr sagen darf, handelt es sich nicht eigentlich um ein Sprechen, sondern um ein Museumsstück. Sprachbilder erweisen sich oft als hartnäckig und sehr haltbar. Man liest auch gerne Klassiker und hält diese für die besseren Bücher. Menschen misstrauen der Sprache und trauen mehr ihren Augen. Daher tun sie sich mit der zeitlichen Gestalt von Sprache schwer und lieben fertige Sprachbilder, die man sich zur Unterhaltung an die Wand hängen kann. Sprache ist nie fertig und das macht den Menschen Angst. Viele empfinden es daher beunruhigend, dass man nicht mehr „Neger“ sagen darf ohne es in einem historischen oder Metakontext zu verwenden. Sprache ist aber immer metakontextualisiert. Wer das nicht erkennt, spricht nicht.
 

Streifschuss vom 28. Februar 21

 

Anlass:  Haut und Knochen

 

Wir sind selber Plastik

 

Beim Abbau von Plastik zerfällt das Polymer in Kohlenstoffdioxid und Wasser. Kohlenstoffdioxid ist ein Treibhausgas und erwärmt die Erde. Allein der Durchschnittsdeutsche verbraucht 220 Kilogramm Plastik im Jahr. Selbst wenn wir den Pestalotiopsis microspora züchten und vielleicht sogar sein Enzym Serinhydrolase herstellen könnten und damit sogar hartnäckige Polymerverbindungen wie Polyurethan abbauen könnten, ist unser Problem mit dem Plastik nicht beseitigt. Beim Abbau von Plastik zerfällt das Polymer in Kohlenstoffdioxid und Wasser. Kohlenstoffdioxid ist ein Treibhausgas und erwärmt die Erde. Das ist auch für den Amazonaspilz Pestalotiopsis microspora eine Herausforderung. Denn er ist es gewohnt, Bio-Polymere abzubauen, die er als Ficus elastica aus seiner Umwelt kennt. Und abgesehen davon wird der Amazonaswald systematisch abgeholzt und dadurch die Grundlagen unserer Sauerstoffversorgung zerstört. Es ist Plastik, das uns töten wird. Die Erde wird sich in ein Meer aus Säure verwandeln in dem Anaerobier wie das Zyanobakterium ihre Welt beherrschen werden. Das ist die Zukunft. Der Unterschied von digital und analog entspricht in etwa dem zwischen Plastik und echtem Holz. Plastik riecht nicht, atmet nicht, ist tot. Holz dagegen lebt und arbeitet auch, verändert sich, dehnt sich aus oder zieht sich zusammen. Die digitale Welt ist eine tote Welt, eingefroren und nur in weiterem Zuwachs an totem Plastik verändert sich die digitale Welt. Sie verändert sich also nicht, sondern wächst nur an, häuft sich an ohne Transformation. IT ist der Gipfel des kapitalistischen Regresses. In einer youtube-Werbung – dieser nicht hintergehbaren Aggression – heißt es: Dies ist das neue Google-Pixel, es erklärt dir was du siehst. So weit sind wir schon, wir degenerierten digitalen Monster. Man muss uns über einen algorithmischen Assistenten die Welt erklären. Wir trauen unseren Augen schon lange nicht mehr. Die datensetzende Macht hat der Seuche viel zu verdanken. Niemand kritisiert das noch. Im Gegenteil. Alle sind geil auf das Internet. Dieses Plastik, das weder riecht noch atmet. Dieses tote Ersatzleben wird nun über Homeschooling und Home-Office eine nachbarschaftliche Herausforderung. Der Nachbar – vor der Seuche kannte man ihn gar nicht – jetzt ist er immer daheim und man hört ihn immer. Er ist das Menetekel unserer Bildschirm-Existenz und dringt durch die dünnen Wohnsilo-Wände wie ein Monster aus Stranger Things. Wir digitalen Monster sind eine große WG geworden und können uns zwischen Berlin und Moskau austauschen, sofern uns keine Hacker nerven.  Es macht was du sagst, schon nach 349 Euro – so die Google-Werbung. Die Perversion einer digitalisierten (pervertieren) Gesellschaft macht uns alle zu ikonografierten und über Google offenbarte Wesen.

Wir selbst wurden zu Plastik und benötigen einen Amazonas-Pilz um uns abzubauen. Wir – die Menschen – sind die Ursache der Klimakatastrophe. Wir sind Klimaschädlinge. Egal wie wir es drehen oder wenden. Wir müssen verschwinden. Schnell.
 

 

 

Streifschuss vom 25. Februar 21

 

Anlass: Unter uns Hilflosen

 

Plan A, B bis Z und wieder zurück

 

Erst muss man wissen, was man will. Schon hier gibt es die ersten Schwierigkeiten, denn wissen und wollen haben zwar den gleichen Anfangsbuchstaben, aber au contraire sind sie ganz voneinander verschiedene Vorgänge im Gehirn. Nicht selten ist das was wir wollen überhaupt nicht zu vereinbaren mit dem was wir wissen. Ich sage nur „Zigarette rauchen“.  Gehen wir also gutmütig davon aus, dass Wissen und Wollen wider erwarten zusammengefunden haben. Nun müssen wir – bevor wir überstürzt handeln – Informationen sammeln und uns ein Bild von der aktuellen Lage machen. Das geschieht wie gewöhnlich unter massivem Zeitdruck und in einem ziemlich intransparenten Milieu. Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Fliege die in eine Tasse Milchkaffee gefallen sind. Sie wollen raus. So viel steht fest. Aber sie können nichts sehen und es wird wirklich langsam Zeit, weil es furchtbar warm und furchtbar nass ist. Gehen wir weiter davon aus, sie verschaffen sich tatsächlich einen Überblick und erkennen in der undurchsichtigen Lage, dass es sich um eine Tasse Milchkaffee handelt. Gut soweit und so unwahrscheinlich. Aber jetzt müssen sie handeln. Jede Entscheidung die Sie treffen, könnte Ihre letzte Entscheidung sein. Sie müssen nicht nur kontrollieren was sie tun, sondern auch die Effekte Ihrer Handlungsweise im Auge behalten. Auch wenn Ihre augenblickliche Lage ebenso verzweifelt ist, wie die Ihres Nachbarn, immerhin waren Sie gestern noch schlechter dran als Ihr Nachbar und damit ist Ihr Status Quo gegenüber dem Nachbarn deutlich besser. Die Lage ist aussichtslos. Aber immerhin haben Sie – im Unterschied zu Ihrem Nachbarn – dies erkannt.
Mit großer Irritation beobachte ich Fliegen, die sich trotz geöffneten Fensters in den Jalousien verheddern und sich nicht mehr befreien können. Die Lage ist komplex im Sinne von nicht überschaubarer Vernetzung der einzelnen Bestandteile dieser Lage. So ist die Lage des Menschen von jeher. Es wundert daher nicht, dass viele Menschen es hilfreich finden zu beten.  Die anderen die den Betenden nun sagen, dass Beten nichts hilft, mögen ja Recht haben, aber besonders hilfreich ist diese Feststellung auch nicht. Was hilft ist, den Betenden zu sagen, sie sollen an den Rand der Tasse schwimmen, raus krabbeln, sich schütteln und dann so weit weg fliegen von der Tasse Milchkaffee wie sie nur können. Und dann sehen wir weiter. Doch es gibt auf dieser Welt viele, viele Tassen mit Milchkaffee und nicht nur Tassen mit Milchkaffe. Daher habe ich manchmal den Verdacht, dass diese Fliege in meiner Tasse Suizid begeht. Ihr zu helfen, würde ihr sinnloses Fliegendasein nur unnötig verlängern. Richtig?

 

Streifschuss vom 21. Februar 21

 

Anlass: Nichts für empfindsame Gemüter

 

Die Hölle Rache kocht in meinem Herzen

 

Immer häufiger müssen politische Vertreter der Demokratie wieder vor dem wachsenden Antisemitismus warnen. Zuletzt tat es Frank Walter Steinmeier in der Kölner Synagoge. Wie schrecklich, dass ein deutscher Politiker heute im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wieder entschieden eintreten muss gegen Antisemitismus. Es wird Zeit für den Bärenjuden oder für Moritz McLaughlin, um die nazistische Scheiße aus dem deutschen Leib zu prügeln. Wenig war so befriedigend in der Filmgeschichte wie Inglourious Basterds. Und Schatten der Mörder hat daran angeschlossen. Was ich jetzt ausführe sollte nur der weiter lesen der weiß, dass schöne Worte nicht mehr reichen.

Als ich zur Welt kam, war das Schwein Hitler schon zwanzig Jahre tot. Jetzt bin ich 56 Jahre alt und seine widerlichen Epigonen laufen hier immer noch herum. Ich verstehe das einfach nicht. Mein Feindbild ist der Antisemit und der verfickte, dreckige Nazi. Was gäbe ich drum, einen in die Finger zu bekommen und nach Strich und Faden zu Tode foltern zu können. Aber man kann doch nicht alle Nazis töten? Warum nicht? Wäre mal ein Ansatz. Konzentrationslager für Faschisten. Machen wir endlich Seife aus den Nazibuben und verfüttern sie an die Schweine. Machen wir sie endlich genau zu den Opfern, für die sich der Naziarsch immer wieder selber ausgibt. Judas? Brunnenvergifter? Papperlapapp. Und was ist schlimmer als ein Nazi? Einer der ihnen hilft. Also ab mit der AFD ins Lager, schneiden wir diese Säcke in Scheiben, nageln wir diese Gaulands und Höckes ans wohlverdiente Büßerkreuz und schnippeln ihnen ihre kleinen Wichsschwänze ab. Stecken wir ihnen die Hoden ins Maul. Lassen wir sie ihre eigenen Gedärme fressen, verbrennen wir sie ganz langsam bei lebendigem Leib, Reißen wir ihnen die lügenhaften Zungen aus dem Maul und kleben ihnen damit die Augen zu.

Das alles wird nie geschehen. Es ist nur eine entlastende Tarantino-Phantasie. Rache oder Vergeltung? Eher letzteres als Do ut des. Nach Schiller ist die Rache selbst ein niedriger Affekt. Aber die katartische Funktion eines ziemlich brutal seinen Waffengefährten Patroklos rächender Achilles macht schon auch Spaß. Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte.

Und dass jetzt wieder dumme Nazischweine in Deutschland mit Krawatten herumlaufen. Das macht mich unerträglich wütend. Lass uns das Blut der Nazis trinken, zerreißen wir ihre Leiber wie rohes Fleisch fressende Hunde.

Streifschuss vom 10. Februar 21

 

Anlass: Ein Interview mit Peter Sloterdijk

 

Ist das schon Faschismus oder nur Gerede?

 

 Wieder einmal dieser Sloterdijk. In einem beachteten Interview mit Lucius Maltzan und Simon Nehrer (zwei Studenten, die  ein NZZ-Journalist als „umtriebig“ bezeichnete) spielte der badensische Akrobaten-Philosoph seine alte Leier der Staatsverdrossenheit eines vorindustriell denkenden Leistungsbürgers. Angeblich leben wir in einem semisozialistischen und semidiktatorischen Staat, angeführt von einer neofeudalen und entsprechend degenerierten leistungsfreien Elite. Der Staat macht sein Volk mit dem ausgebauten sozialen Sicherungssystem zu abhängigen Kindern. Und diese Kinder fordern immer mehr, statt sich endlich zufrieden zu geben. Bezahlen muss das alles eine immer schwächer und kleiner werdende hart arbeitende Bürgerschaft mit exorbitanten Steuersätzen. Diese vom fürsorglichen Staat entmündigten Bürger würden unsere Gesellschaft mittelfristig in den Untergang treiben. Während die Leistungsträger zwischen leistungsfreien Eliten und leistungsfreien Sozialhilfeempfängern ausgehungert werden von übermäßiger Steuer, würde der Staat immer mächtiger.  So - jedenfalls knapp zusammengefasst - dampfplauderte der lustige Peter. Früher einmal mochte ich diesen immer an Verwirrung grenzenden Sound breitflächiger Theoriehaftigkeit. Nie fehlt dem Peter ein Zitat von antiken Denkern. Stets hat er den ganzen und totalen Raum der menschlichen Kultur im Blick. Ein Spatz der sich zum Adler aufpumpt. Es ist am Ende sogar ein gefährlicher Irrtum, den Sloterdijk verbreitet. Natürlich nicht ohne den faschistischen Primat des Untergangs. Was will Wotan? Den Untergang. Im Gegensatz zu Sloterdijks Staatsverdrossenheit sind es nicht die Steuersätze, sondern die Steuerflüchtlinge, die Milliarden in Steuerparadiese transferieren und damit Demokratien gefährden. Denn all die Leistung, die Sloterdijk so toll findet, ist nur möglich durch die staatliche Infrastruktur von Bildungsmöglichkeiten, Handelswege, normative Regeln. Und das kostet Geld. Und Geld hat der Staat nur durch seine Steuereinnahmen. Was für ein kindisches Bild vom Staat verbreitet dieser Holzkopf aus Karlsruhe? Und die Sozialsätze in modernen Industriestaaten euphorisieren auch nicht gerade. Alles andere, als ein Wohlfühlsystem. Der Staat gibt für die Finanzierung eines Denkmals ehemaliger Kriegsopfer mehr Geld aus, als eine ganze Armada an Sozialhilfeempfänger bekommt. Neofeudale Milliardäre mit Sozialhilfeempfängern zu vergleichen ist – gelinde gesagt – eine Frechheit. Sloterdijk verteidigt ein kleinbürgerliches Leistungsprinzip mit Argumenten aus dem 19. Jahrhundert. Denn der Staat war vor Corona in Wirklichkeit ein Auslaufmodell, sein Einfluss auf die globalen ökonomischen Zustände war längst marginalisiert. Ein schwacher Moderator unter Haifischen, das war der Staat. Dies führte zu einer Wiederbelebung völkischer Bewegungen bis vor 2020, bis die Seuche auftauchte. Sloterdijks beliebter Kleinbürger entpuppte sich mal wieder als rassistischer Faschist. Eine kleine Gruppe die sich herausnahm, sich als „Volk“ zu bezeichnen wollte dem Staat den Rest geben, mit der Folge eines normativen Zusammenbruchs. Die Seuche war daher ein Glücksfall für den Staat, denn so konnte der Staatsapparat mit all seinen Verordnungen seine Handlungsfähigkeit demonstrieren (wie er es in der Geschichte schon bei anderen Seuchen machte). Von den Faschisten blieb ein Häufchen von 200 frierenden Anti-Corona-Demonstranten übrig, und eben dieser Sloterdijk mit seinem verdrehten Theorien. Sloterdijk ist ein Zauberlehrling der Philosophie, der schöne Theorien mit Kompetenz verwechselt. Und mit Schiller muss man warnen: Der Meister kann die Form zerbrechen / Mit weiser Hand, zur rechten Zeit; / Doch wehe, wenn in Flammenbächen / Das glüh’nde Erz sich selbst befreit!

Das Interview können Sie nachlesen auf 21Zeitgeister

Streifschuss vom 07. Februar 21

 

Anlass: Alle Moralideen sind eigenmächtig, und der ist ein großer Narr, der sich durch sie fesseln lässt. - Die 120 Tage von Sodom

 

Über die Paraphilie des Almosenempfängers

 

Als Nihilist kann man auf Dauer nicht humanistisch bleiben, denn Menschen sind nicht mehr oder weniger wert, als ein Würfel scheißender Wombat. Es geht Mensch und Tier ausschließlich darum,  Leid zu vermeiden und angenehme Zustände zu fördern. Warum es angenehm ist, einen Würfel zu scheißen, bleibt das Geheimnis des Wombats. Wir Menschen haben in dieser Hinsicht eine größere Palette mit Angeboten geschaffen (unsere Scheißhaufen sind geradezu magisch), unsere Perspektiven erweitert und können uns angenehme Zustände verschaffen mit den kuriosesten Dingen. Aber wir können uns auch in gleicher Weise dadurch Leid zufügen, allein schon durch den Umstand, dass die vielen kuriosen Dinge mit denen wir uns angenehme Zustände verschaffen, nicht für jeden zugänglich sind. Mit der Spielart Angebot und Nachfrage im zahlungsfähigen Raum hat der Kapitalismus eine sadomasochistische Wirtschaftsform geschaffen. Das lustvolle Wechselspiel von Dominanz und Submission lässt sich durch den Schleier der Philanthropie sogar noch steigern. Die akute Not der Seuche hat nun einige Menschen in den Genuss des Wohlfahrtssadismus gebracht, die das vorher gar nicht kannten. Was diese Menschen erleben? Jede sozialstaatliche Zuwendung wird immer zugleich mit der Demütigung des Wohlfahrtsempfängers belohnt, so dass Schmerz und Lust systematisch gekoppelt werden. Es gibt in unserer spätindustriellen, postkapitalistischen Gesellschaft keinen angenehmeren Zustand, als Geld zu bekommen ohne dafür schuften zu müssen. Das kann der Staat so natürlich nicht stehen lassen (denn nur durch Leiden verdient der wahre Christ die Gnade) und erschuf ein Formularwesen bei dem schon der Anblick des Papiers Schmerzen hervorruft. Der Ton in dem die Formulare formuliert sind, ist unhöflich, distanziert und fordernd. Es werden darin regelmäßig Ultimaten gestellt. Dass es sich bei Wohlfahrtsempfängern meist um bedrängte und in Not geratene Menschen handelt, wird in den Formularen nie erwähnt. Im Gegenteil wird Zeile für Zeile gefordert eventuell vorhandene andere Geldquellen offenzulegen, um nur ja keinen Cent zu viel zu zahlen. Und sollte sich der Wohlfahrtsempfänger verrechnet haben (in der Not rechnet man oft noch schlechter), dann wird alles zu viel Gezahlte sofort und ohne Stundungsoption zurück verlangt. Es ist klar, dass ein Sozialhilfeempfänger fast keine andere Wahl hat, als die Qual freiwillig zu wählen und anfängt einen gewissen erotischen Kick daraus zu ziehen, wenn am Freitag (die böse Post kommt immer freitags) die Post kommt. Vielen zittern die Hände beim Öffnen dieser Post vor Erregung. Sie schütten große Mengen Adrenalin aus und können sich erst wieder beruhigen, wenn sie alle darin gestellten Ultimaten auch erfüllt haben. Die darauf folgende Befriedigung des Wohlfahrtsempfängers ist so lustvoll, dass er anschließend auf einem Plateau erschlafft, das ihn für Wochen ganz unfähig macht, weiteres Erregungspotential aufzubauen. Man kann dem Staat nur dankbar sein, für die Errichtung dieses Puffs, den man heute euphemistisch „Jobcenter“ nennt.
 

 Streifschuss vom 31. Jänner 21

 

Anlass: Mach dir einen Plan und sei ein helles Licht. Mach dir einen zweiten Plan – gehen tun sie beide nicht (Berti Brecht)

 

Sorgen fressen Seele

 

Wir Menschen verfügen über die Fähigkeit, uns die Zukunft vorzustellen und die Vergangenheit zurechtzulegen. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist natürlich, dass wir unser Leben planen und gestalten können. Wir entscheiden. Glauben wir jedenfalls. Der Nachteil ist, dass wir uns mehr Sorgen machen (was wird werden?) und mehr Reue zeigen (hätte ich nur anders entschieden!). Schon früh empfahl uns die Stoa (die wohl wirkungsmächtigste Philosophierichtung) loszulassen, unser Los zu akzeptieren.  Mit dem Ausruf „carpe diem“  sollten wir auf unsere Fähigkeit der Vorstellungskraft verzichten lernen und was geschehen ist als unveränderbar akzeptieren. Was zählt sei das Hier und Jetzt. Das ist eine merkwürdige Philosophie. Denn sie empfiehlt uns Ratio und Verzicht auf Ratio gleichzeitig. Wenn ich keinen Plan habe, weil ich akzeptiere was war, ist und kommt, bin ich auch nicht handlungsfähig im Hier und Jetzt. Fatalistische Verrohung empfiehlt die Stoa seit zweieinhalbtausend Jahren als Medizin gegen die Qualen eines von Sorgen und Reue verzweifelten Gemüts. Auch die aktuelle Seuchen-Epoche kramt diese alte Philosophie wieder heraus. Die alte Leier vom „Sorge dich nicht – lebe“ Mythos taucht gerne dann auf, wenn man sich erst recht Sorgen machen sollte. Aktuell leben wir von heute auf morgen, fahren unser Leben auf Sicht und erleben sehr eindrücklich, dass wir nicht wissen können, was auf uns noch zu kommt. Wer sein Leben plant, wirkt ja schon allein durch seinen Versuch es zu planen etwas verzweifelt. Unser Einfluss auf genetische Prägung und phänotypische Formung beträgt – optimistisch betrachtet – etwa ein Prozent. Wir nennen das „Ich“ und halten uns auf dieser Grundlage für schlau. Diese „Ein-Prozent-Schläue“ erodiert derzeit. Was zählt schon der Einzelne, wenn die Herde bedroht wird? Das zeigt sich in der Rückkehr des Kollektivs. Einerseits kehrt es zurück als Beschwörungsformel der sozialen Einheit, andererseits wehren sich überall in der Welt die Massen gerade gegen die Beherrschung durch ein Prozent der Menschen. Doch das Kollektiv hat weder Vorstellungen, noch Gestaltungskraft. Das Kollektiv ist eine irrationale und rein fatalistische Gewalt. Das Problem wird also offensichtlich. Auf der einen Seite haben wir das von Sorgen und Reue geplagte Individuum, das sein Leben zu planen versucht. Auf der anderen Seite haben wir das Kollektiv, entmenschlichte, verrohte Massen die wiederum von einem Prozent der Menschen mehr schlecht als recht kontrolliert werden. Und in jedem Einzelnen von uns wehrt sich ein Prozent Schläue gegen neunundneunzig Prozent Körpermasse. Das Ich ist ein winzig kleiner Nervenknoten irgendwo in einem Fettkörper, den wir „Gehirn“ nennen, einem Fettkörper der gerade mal zwei Prozent unseres gesamten Körpergewichtes ausmacht. Das „Ich“ ist kaum messbar. Und dieser kleine Nervenknoten befindet sich nicht einmal in den höheren Gehirnzentren, sondern irgendwo im Striatum, und ist abhängig von Belohnungen durch Zucker. Der planende und sich sorgende, reuevolle Mensch braucht nur ein wenig Zucker, dann vergisst er seine Sorgen und bereut gar nichts mehr. Sorgen müssen wir uns dann machen, wenn das eine Prozent (unsere Regierung) der Zucker (das Kapital) ausgeht. Denn dann kommt das Kollektiv – die Masse – erst richtig in Bewegung (Äquivalenz von Masse und Energie / siehe Einstein) und reißt den Rest Planungssicherheit auch noch nieder. Man könnte mit ironischem Unterton sagen: „Der Mensch ist total verplant“.


 

Streifschuss vom 29. Januar 21

 

Anlass: Geistige Ordnung

 

Ich verstehe dich sehr gut; du störst sie mit deinem Ernst (Tante Jane zu Ulrich)

 

Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über, sagte einst General Stumm von Bordwehr. Bei seinem Besuch in der Staatsbibliothek verursachte der Bibliothekar bei ihm großes Entsetzen. Als der General ihn fragte, wie sich der Bibliothekar in „diesem Tollhaus von Büchern“ zurechtfände, eröffnete der Bibliothekar ihm: „Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese! – Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren. Er wird niemals einen Überblick gewinnen.“  Die Tatsache, dass der Bibliothekar nur Buchtitel und Inhaltsverzeichnisse lese, erschütterte den General. Es waren dreieinhalb Millionen Bände in dieser Bibliothek und der General hatte ausgerechnet, wie lange er brauchen würde, um diese zu lesen und kam auf 10.000 Jahre. Die Welt erschien dem General auf einmal als ein großer Schwindel.  Es war ihm klar, dass man im Krieg jeden Soldaten braucht, aber nicht jeden töten muss um den Krieg zu gewinnen. Dennoch war für den General nun klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Es ist naheliegend, die Geschichte des Generals so enden zu lassen, wie sie Wilhelm Muster in der Hochzeit der Einhörner enden lässt: Der General wird verrückt und versucht die Universitätsbibliothek von Graz anzuzünden. Auf die eine oder andere Art werden wir diese Welt niederreißen. Wir beten die Ordnung, das Wissen, Rechnen, Messen und Wägen an, verkörpert vor allem im Geld. Doch wenn wir diesen Irrweg der Regelmäßigkeit, der Vorschriften, der Maßeinheit verlassen wollten, bräuchten wir die amoralische, verrückte Tat. Das kann niemand wollen. Dennoch: Die materialistische Aufklärung verkümmerte zu einer geistlosen Empirie. Die Innerlichkeit wurde zur abgeschmackten Esoterik. Der Spannungsbogen zwischen diesen beiden über Jahrhunderte gültigen Weltentwürfen hat längst nachgelassen, ist ein schlappes. Seil geworden, das niemanden mehr trägt, keine Balance mehr zulässt. Wir torkeln und stolpern in den Tod. Wir wissen bereits, dass unsere Ordnung zum Kältetod der Menschheit führen wird. Das ist das Problem mit der geistigen Ordnung. Sie geht immer in die Entropie über. So beginnen wir zu kriechen, gefangen in unserer kapitalistischen Ichsucht stellen wir nur noch Rechnungen aus. Ein Höhenflug scheint nicht mehr möglich. Die Datenflut von zwei Exabyte (2*1018 Byte) täglich lässt sich nur noch von automatisierten Bibliothekaren ordnen. Der menschliche Bibliothekar ist überflüssig geworden. Und wer soll das tatsächlich noch lesen können? General Stumm von Bordwehr war ein kleines Kind unter Monstern.

 

Streifschuss vom 26. Jänner 21

 

Anlass: Ich bin es nicht

 

Die Identitäts-Lüge

 

Neulich hatte ich einen Streit mit einer Freundin. Sie hielt mir Eigenschaften vor, die ich dann vehement verteidigte. Wie witzig der Streit war, fiel mir erst einige Tage später auf. Ich verfüge gar nicht über diese Eigenschaften, die sie mir vorhielt und ich verteidigte. Es waren Zuschreibungen zu meiner Person. So sah sie mich. Und ich war sofort bereit ihre Sichtweise kritiklos anzunehmen und verteidigte sie sogar. Es war ein reiner Luftkrieg. Es ging um die Bewertung von Eigenschaften, die ich gar nicht hatte. Daraufhin musste ich darüber nachdenken, wer ich eigentlich bin. Also über welche Eigenschaften ich tatsächlich verfüge. Schließlich bin ich nicht so eigenschaftslos wie Musils Ulrich. Dennoch konnte ich keine besonderen Eigenschaften finden. Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann lautet das 39. Kapitel in Musils epochalen Werk. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? Sie sind aufs Theater gegangen, in die Bücher, in die Berichte der Forschungsstätten und Forschungsreisen, in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch, und sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn ist, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er? Musil lobt dagegen den mittelalterlichen Menschen, der seiner Ansicht nach noch eine abgegrenzte Sache gewesen sei, die man auch Person nennen konnte. Keine Ahnung ob er da Recht hat. Ich glaube eher, dass der Mensch noch nie wirklich so identisch mit sich selbst gewesen ist, dass er sich als Peron mit ganz speziellen, ihm eigenen Eigenschaften verhaftet sehen könnte, Eigenschaften die man ihm dann speziell vorhalten könnte. Nein. Die Austauschbarkeit ist eine eigenschaftslose Eigenschaft von uns Menschen. Gerade unsere Nicht-Identität mit uns selbst macht uns so erfolgreich. Der Mensch ist ein Spitzenprädator, weil er akzidentiell ist. Das Fehlen von Substantialität ist seine Substantialität.  Damit ist der Mensch rein negativ. Jetzt in Seuchenzeiten zeigt sich das besonders deutlich. Viele Menschen werden nicht mehr gebraucht. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes überflüssig. Ein Hauch Ideologie (Humanismus) hält sie noch am Leben. All diese überflüssig gewordenen Menschen glaubten ernsthaft über unverzichtbare Eigenschaften zu verfügen. Pustekuchen. Sie müssen sich mit neuen Eigenschaften anpassen oder untergehen. Der Streit, den ich eingangs schilderte, zeigte vor allem, dass wir jederzeit bereit sind, die Eigenschaften anzunehmen, die man uns zuschreibt. Wie ein Chamäleon. Wenn man diese Naivität durchschaut, wird man für die anderen aber nicht zum Leuchtpunkt, wie es Musil beschreibt (zum Regenbogen), sondern zum Monster. Wer in dieser Welt tatsächlich über positive Eigenschaften verfügt und tatsächlich noch ursprünglich selbst erlebt, kann sein Erleben weder fassen noch einordnen. Es muss erst austauschbar werden, vervielfältigt und objektiviert. Dann hängt diese Eigenschaft wie alle anderen an der Garderobenstange und kann zum Kleidungsstück für Jedermann werden.
Insofern wurde mir in dem Streit vorgeworfen, dass ich jemand sei und ich nahm den Vorwurf dankend an und verteidigte mein So-Sein natürlich freudig. Aber das bin ich nicht, war ich nie und werde es nie sein. Meine ganze Verteidigungslinie erschien schon im Augenblick als ich mich verteidigte unwirksam, unwirklich, ja lächerlich. Von Anfang an hätte ich sagen können: Du irrst dich, wenn du in mir etwas siehst. Das was du siehst, hast du auf der Straße aufgegriffen und willst sie nur irgendwo an den Mann bringen. Ein dreckiger Handel mit längst abgegriffenen Eigenschaften. Es ist eine verzweifelte Menschheit, die längst aus zweiter oder gar dritter Hand lebt, mit Seelen wie Wassersuppe.

Streifschuss vom 21. Jänner 21

 

Anlass: Staaten entstehen und fallen wie die Gezeiten, neu ist das nicht. (Geralt von Riva)

 

Vom Ende der Reformierbarkeit

Schon der junge Hegel stellte in seinen politischen Schriften fest, dass das kleinbürgerliche Subjekt sich mit dem Genuss ihres Besitzes und der Herrschaft über Eigentum zufrieden gibt, was aber Hand in Hand geht mit viel Elend und Leid – unter den heute global verbreiteten Ungerechtigkeiten noch viel mehr. Dennoch erhebt diese Wirklichkeit in ihrer auf eine beschränkte Besonderheit reduzierte Gestalt den Anspruch, ein Allgemeines zu repräsentieren und das Volk auf gemeinsame Ideale des Staates zu verpflichten. Diese Illusion von Wirklichkeit wurde schon in den Anfängen der bürgerlichen Geldwirtschaft durchschaut. Ich erinnere an meinen letzten Streifschuss (Geldfieber vom 18. Jänner). Dennoch hält sie sich bis heute. Diese Illusion einer Wirklichkeitsökonomie  gelingt nur, wenn der Glücksbeutel sich immer wieder füllt und das bestehende Leben keine reine Negativität ist. So kann die Philosophie erst dann ein reines Positives entgegen setzen – und das aber dann mit Gewalt – wenn sich die Wirklichkeit rein negativ zeigt. In jeder Krise aber offenbart sich die Illusion der Wirklichkeitsökonomie, bzw. der ökonomisierten Wirklichkeit. Und da sie eine Illusion ist, ist sie rein negativ. Sie ruht auf dem Zauber, der Magie immerwährender Produktivität trotz endlicher und erschöpfbarer Ressourcen. Das kann nicht gut gehen. Und aktuell stehen wir am Ende dieser Magie. Es ist klar, dass die besitzende Klasse sich noch an der Magie des Kapitalismus festklammert. Diejenigen, die einen Glücksbeutel besitzen halten die Illusion für sich als Subjekt aufrecht. Und sie halten die Illusion für das Allgemeine. Die psychische Energie die das besitzende Subjekt benötigt, um die  vielen Ungerechtigkeiten auszublenden, ist enorm. Und sie holt aus ihrem Zauberhut abstrakte theoretische Bauwerke hervor, die das Volk staunen lässt. Eine praxisfreie Philosophie dient dieser Magie. Philosophie mit Praxis bedeutete für Hegel, die Ungerechtigkeiten (discite justiciam moniti) auf den Begriff zu bringen und dem Staat diesbezüglich Reformen zu empfehlen. Versäumt der Staat diese Reformen durchzuführen, folgt der Zusammensturz und das unterdrückte Leben wird zur Nemesis. Das Problem heutiger philosophischer Praxis ist es, dass die Illusion einer ökonomisierten Wirklichkeit nicht reformierbar ist. Das System ruht auf dem Gaukelwerk immerwährender Produktivität bei endlichen Ressourcen. Das ist nicht reformierbar. Es wird daher mit Gewalt weggerafft. Die Magier und ihre Helfer werden geköpft, gepfählt oder gevierteilt werden. Der Großteil unserer kulturellen Errungenschaften wird mit den Magiern der Ökonomie zerstört werden. Das wird nicht mit einem großen Paukenschlag geschehen, sondern es geschieht bereits nach und nach. Das Gebäude der Illusionen des Kapitalismus wird einfach verwittern, verblassen und in der Entropie der Geschichte verschwinden. Zurück bleibt eine kalte, desillusionierte Welt ohne Magie.

 

Streifschuss vom 18. Jänner 21

 

Anlass: der eigene Verstand ist nutzlos

 

Geldfieber

 

Ich machte mir nicht klar, dass derjenige, der das alte Fabelbuch von Fortunatus mit seinem Säckel und seinem Wunschhütlein geschrieben hatte nichts anderes hatte sagen und anzeigen und der ganzen Welt vor Augen stellen wollen, als dass jene Wundermittel, durch die unsere vorwitzigen Begierden nicht vollständig gesättigt, sondern nur hingehalten und unsere Gemüter mit vergeblichen Träumen erfüllt, aber keineswegs zufriedengestellt werden, letztlich doch nichts als lauter Unglück auf ihrem Rücken mit sich bringen.
Das Buch auf das der seltsame Springinsfeld hier hinweist, erschien 1509 in Augsburg. Der Verfasser ist unbekannt. Erzählt wird die Geschichte einer aus Zypern stammenden Familie, die ihr Vermögen verliert, von Fortuna persönlich einen Glücksbeutel geschenkt bekommt, der immer Geld in der entsprechenden Landeswährung bereit hält. Fortunatus steigt auf, zeugt mit der Tochter eines Grafen zwei Söhne. Die Geschichte endet mit der physischen Auslöschung der Familie, ein Sohn wird von Räubern getötet wird und der andere stirbt aus Gram darüber.
Wichtig ist die Geschichte, weil sie ein Stück Sozialgeschichte über die Entwicklung der bürgerlichen Geldwirtschaft enthält. Und Grimmelshausen verweist 163 Jahre später in seinem wunderbarlichen Vogelnest erneut auf diese Ereignisse. Egal ob man von der Glücksfee beschenkt wird, oder eine aus der Pisse eines Erhängten entstandene Alraune ausgräbt, oder den abgeschnittenen Daumen eines Diebes (Diebsdaumen) als Glücksbringer benutzt: Alles Glück endet im Unglück. Und das vermeintliche Glück ist nur blendender Schein. Bis heute ist Geld kein moralisch neutraler Stoff. Und selbst wenn sein Besitzer von großer Charakterstärke ist, verwandelt das Geld jeden in ein gieriges und blutrünstiges Monster. Heute werden wir von diesen Monstern im Wesentlichen beherrscht. Wir arbeiten im Grunde alle für sie. Es sind die Banken, die Immobiliengesellschaften, die Versicherungsgesellschaften, die Telekommunikationsgesellschaften. Monster, die alle über einen unerschöpflichen Geldsäckel verfügen. Die Blutopfer dieser Monster sind gewaltig. Besonders tragisch an dieser Geschichte ist, dass wir alle selbst dieses Monster sind. Mir fehlt der nötige Ernst zum Geld verdienen. Und im Gegenteil – wie oben dargestellt – sehe ich in dieser Ökonomie nur das große Unglück.  Aber es nutzt nichts. Don Quijote überlas sich an Ritterromanen. Ich überlas mich an Kapitalismus-kritischen Büchern. Insofern bin ich ein genauso großer Trottel wie der traurige Ritter mit seinem unsinnigen Kampf gegen Windmühlen. Am Ende befällt Don Quijote ein Fieber. Auf dem Totenbett erkennt er plötzlich den Unsinn der Ritterbücher und beklagt, dass ihm diese Einsicht so spät gekommen sei. Damit enden sein Leben und das Buch. Ein Fieber! Fast schade, dass ich nicht zur Risikogruppe gehöre. Denn gerade geht mir durch den Kopf, dass ich durch den Unfug des Schreibens und mit meinem Mangel an Unterwürfigkeit gegenüber dem herrschenden Geld überwertigen System zum Ende nur noch eine Kuriosität darstelle. Eine Witzfigur, Trash. Ich sage das ganz nüchtern. Zu nüchtern vielleicht? Aber ich bin nur noch historischer Müll. Nicht mal eine Antiquität… Ich bin arm und die Folge von Armut ist vollständige Bedeutungslosigkeit. Und Selbstmitleid ist eine unterschätzte Tugend. Niemand hat mehr Erwartungen an einen und man muss sich nicht mehr duschen (Detective Rosa Diaz).

 

 

Streifschuss vom 14. Jänner 21

 

Anlass: Schuss nach hinten

 

Größenvergleich

 

Wäre die Geschichte der Erde eine Strecke von einem Meter, dann betrüge die Existenz eines Menschen etwa einen viertel Nanometer davon.  Man muss hier kaum über die Bedeutung eines Nanometers für einen ganzen Meter nachdenken. Die Menge der Nullen vor dem Komma die hier ihr Leben fristeten, um die Geschichte der Erde zu einer ganz großen Zahl zu machen löst bei jedem von uns Depressionen aus. Ein einzelner Mensch ist nicht mal so groß wie ein Neutron. Wir sind alle Quarks. Soviel zu Joyce (der den Begriff ja erfand). Klar! Joyce ist super. Aber eben auch nur ein Neutron. Ich kann nicht so gut schreiben wie dieser alte Ire. Aber ich bin schon fast genauso groß. Mir fehlen nur noch drei Jahre. Gestern vor 80 Jahren starb der große und doch so kleine Ire im Alter von 59 Jahren (zwei Wochen vor seinem 60. Geburtstag) fernab seiner irischen Heimat in Zürich am Durchbruch eines Zwölffingerdarm-Geschwürs. Er war da schon so gut wie blind. Seine Prosa hatte zu diesem Zeitpunkt längst eine geistige Höhe erreicht, die sich vom Gebrabbel eines vollständig Verrückten kaum noch unterscheiden lässt. Auf wakish (die Sprache von Finnegans Wake) gibt es den schönen Ausdruck „funferal“. Gibt es in keinem Lexikon und setzt sich zusammen aus „funeral“ und „fun for all“. Und Wake ist zugleich Aufwachen und Leichenbegängnis. Der alte Irre Ire irrte nie und ich hatte ne Tante namens Irma die nie meine Ma war aber irre viel Haare die ich mal erhuschte als sie duschte. Sei ‚s drum. Lasst euch Zeit und findet die Muse oder Muss so Schoko Latte. Während sich also die Covid-Leichen stapeln, und Triage zum Akronym verkommt (Tote reden in alter geistiger Engelszunge). Im futuristischen Coming of Science der Virologen war das vergangene Jahr ein Highlight, doch weltgeschichtlich betrachtet war das fast nichts. Kann man die Welt so sehen?  Nein. Natürlich nicht. Auch wenn es so ist, ist ein solcher Seinsblick nur noch absurd. Ein Menschenleben reduziert sich auf einen viertel Nanometer und das kann kein Mensch sehen und daher auch nicht ernst nehmen. Die Leben von vier Milliarden Menschen müssten nacheinander vergangen sein, nur um die Geschichte der Erde nachzeichnen zu können. Eine solche Mathematik verachtet alles. Und doch wurde Gott durch die Geschichte ersetzt. Doch längst – das wissen wir seit der Postmoderne – ist das große Narrativ dahin und wir erzählen uns nur noch Geschichten in Form von Selbstgesprächen. Dass die Halbwertszeit von Büchern radioaktiv zerfällt, ist auch kein Geheimnis. Und doch! Was liegt da auf meinem Tisch? Die Ilias, die Metamorphosen und der verdammte Gilgamesch-Epos. Und – jetzt kommt mein Grundgedanke, mein Finale sozusagen- das liegt in meiner angewandten Metapher grade mal 15 Nanometer zurück – etwa die Länge eines Virus. Gruß und Schluss mit Schuss.

 

Streifschuss vom 08. Januar 21

 

Anlass: Das Volk (eine metaphorische Analyse)

 

Rom fällt

 

„Mein Gott!“, rief die Konsulin, […] angstvoll. „Es ist das Volk.“
Oder war es das Lumpenproletariat, das sich bereitwilliger zu reaktionären Umtrieben erkaufen lässt (wie es im kommunistischen Manifest heißt), oder war es das „Gehudel, das aussah wie ein bloßer Rohstoff aus Fleisch und Blut“ (Thomas Mann, das Gesetz), Pöbelvolk, das ins eigene Bett scheißt, statt vor die Tür zu gehen, ein Loch zu graben dort hinein und wieder zuzuschaufeln. War es jener Kot, der an die Oberfläche gespült wird, wenn man Sümpfe aufwühlt (Victor Hugo)?
Ob sie nun Autos niederbrennen wie in Frankreich, das Kapitol oder den Reichstag stürmen, und egal wie sie sich selbst nennen, sie sind der Abschaum, den Sarkozy einst weg kärchern wollte. So sieht man sie, sieht sie die bürgerliche Presse, der bürgerlicher Mensch. Die Schande die man hier nicht anschauen kann und möchte, ist genau die Peinlichkeit, die jeder empfindet, wenn er gezwungen wird, seine Notdurft vor aller Augen zu verrichten. Es ist der Bodensatz einer Ökonomie, die keine Menschen kennt, sondern nur Konsumenten.

Donald Trump hat die letzten Jahre seine bevorzugte Klientel bearbeitet und deren reaktionäre Instinkte geweckt. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Soziales Vertrauen ruht auf ein Weiter-so des Alltäglichen, ruht auf einem Alltag, über den man sich auch permanent ärgern kann, aber einem Alltag von dem jeder annimmt, dass er auch morgen so ist. Diese soziale Normalität, die auf eine Weiter-so-Zukunft setzt, existiert fast nicht mehr. Dagegen fehlt eine ausreichende Expertise über eine Dann-eben-anders-Zukunft. Man kann verrückt werden, man kann sich die Pulsadern aufschneiden, einer Sekte beitreten, oder mal ganz persönlich werden und Amok laufen. Es ändert sich nicht. Die Zukunft die uns blüht ist kaum noch mit dem Alltag den wir heute erleben kompatibel. Das abstrakte Gefühl von Planungssicherheit fehlt. Es ist, als würden wir alle inzwischen daran zweifeln, dass morgen tatsächlich wieder – wie gewohnt – die Sonne aufgeht. Unter solchen unsicheren Bedingungen macht es eigentlich noch weniger Sinn das Kapitol zu stürmen, als es nicht zu stürmen. Man muss das Personal, das da diesen fulminanten Jahresauftakt veranstaltete als Ausgeschiedene betrachten. Und niemand stellt sich gerne vor, wie das einmal Ausgeschiedene wieder in den sozialen Körper zurückgelangt. So ein recycelter Stoffwechsel erinnert an eine Szene aus Star-Trek-Discovery:
„Dieser Apfel schmeckt nicht besonders gut.“
„Ja, wir recyceln ihn aus unserer eigenen Scheiße. Und für Scheiße schmeckt er eigentlich gar nicht schlecht.“
Die gewaltbereiten Ausgeschiedenen, die sich vor dem Kapitol oder auch dem Reichstag einfinden, die werden immer mehr. Und sie wieder in den sozialen Alltag zu integrieren, stellt einen faden Geschmack in Aussicht. „Es ist das Volk“, so rief es die Konsulin in den Buddenbrooks.  Und mit dem Ausruf „Canaille“ auf den Lippen, stirbt der Konsul. Wie elend geht es nun diesem „Volk“, dass es auf die Barrikaden geht? Der Durchschnittsamerikaner hat drei Jobs und träumt einen ausgeträumten amerikanischen Traum, den Trump zuletzt reaktivierte. Solche Träume zu reaktivieren, während die Muskelanspannung für die Traumphase viel zu hoch ist, sorgen eher für Alpträume. Der Aufschrei des Leidens am Staat durch das Volk ertönt im Zustand der Überforderung. Dem „Volk“ fliegen zunehmend die Sicherungen raus. Um sie herum ist es furchterregend dunkel. Wer im Zustand der Angst nichts mehr sieht, orientiert sich an jedem Licht, selbst wenn es eine Funzel wie Trump ist. Das Problem der Techniker, die Sicherungen wieder einzuschrauben? Niemand hört mehr auf sie. Niemand vom „Volk“ vertraut noch auf Sicherungskästen.
Also fassen wir das Bild zusammen. Abschaum quillt nach oben, bringt dabei ihre eigene Dunkelheit mit aus der Kanalisation und hat kein Vertrauen mehr in den normativ geregelten Alltag. Rom fällt.

 

 

Streifschuss vom 05. Januar 21

 

Anlass: Hey Curtis Newton! Can you see us on the moon?

 

Nichts wie weg hier

 

Dieses Jahr wirkt schon nach ein paar Tagen bereits ziemlich vergammelt. Nach Klimawandel, Energiekrise, Weltkriegsängsten, hat das letzte Jahr einen weiteren apokalyptischen Reiter auf den Weg gebracht. Und was soll da 2021 noch bringen? Eben! Natürlich kann uns jetzt nur noch ein Zauberer helfen! Ein „wizard of Science“. Zeit für die U.S.S. Enterprise und Star-Trek. Denn in diesem Jahr 2021 würde der Schöpfer von James Tiberius Kirk, Mister Spock, Doctor Mc Coy, Nyoto Uhura, Hikaru Sulu, Montgomery Chirstopher Jorgensen (Scotty) und dem Russen Pavel Chekov 100 Jahre alt werden. Und der kreative Großvater von Gene Roddenberry war Edmond Hamilton, der in den 1940ern mit Curtis Newton (lass die Namen sprechen!) einen Helden im Mond schuf, der als Vorbild für Roddenberry 20 Jahre später eine weiter Space-Opera erschuf! Im Namen Star-Trek steckt der Western faktisch drin. In großen Wagenkolonnen ziehen die Menschen auf der Suche nach Glück und Land in die neue Welt. Da unsere Erde keine Neuigkeiten mehr zu bieten hat, bleiben nur noch die Sterne. Schauen wir mal, wo es hingehen könnte. Bewohnbare Planeten werden in drei Kategorien angegeben. Einmal beachtet man die Spektralklasse. Das bezeichnet die Leuchtkraft der Sonne, die dem potentiell bewohnbaren Planten seine Wärme spendet. In den Buchstaben G, K und M verbergen sich gelb, orange und rotorange. Dann achtet man auf die habitable Zone des Planeten, ist er heiß, warm oder kalt. Und dann achtet man noch auf die Größe des Planeten. Terran wäre da eine erdähnliche Größe, dann gibt es noch Miniterran, Subterran und Superterran. Hier ist schon klar, dass die maßgebende Größenvorstellung von der Erde ausgeht. Es gibt noch Neptunian und Jovian. Das wären dann echte Riesenplaneten. Und die sind meistens gasförmig. Aber nicht zwangsläufig.

Die Erde ist ein Planet der Klasse G, warm und – klar - terran. Dagegen ist der Planet K2-72e – aktueller Spitzenreiter potentieller Reiseziele - ein Planet der Klasse M, auch warm, und ebenfalls terran. K2-72e ist ein Exoplanet der im Sternbild Wassermann zu finden ist. Er umkreist einen roten Zwerg und ist im Schnitt 16° warm. Er ist allerdings über 200 Lichtjahre von uns entfernt und das ist den aktuellen Reisebüros zu weit entfernt. Näher liegt schon der deutlich kleinere Trappist-1d, ein warmer Klasse M Planet, subterran und nur schlappe 40 Lichtjahre entfernt. Das sind nur gute 360 Billionen Kilometer. Für Peter Thiel kein Ding oder? Hauptsache er nimmt seinen alten Kumpel Trump nicht mit auf seine Reise. Und mit dem richtigen Warp Antrieb sind wir gleich da. Ein bisschen Raumverkrümmung und wir besiedeln einen felsigen Planeten auf dem es sehr streng geregelte Zeiten gibt. Denn auf einer Seite des Planeten ist immer Nacht und auf der anderen immer Tag. Das liegt an seiner gebundenen Rotation. Wer also auf Trappist-1d Lust auf ein Nickerchen hat, muss mobil sein.
Gleich um die Ecke dagegen liegt der warme und terrane Planet der Klasse M Proxima Centauri b. Keine 40 Billionen Kilometer weg. Als man ihn vor vier Jahren entdeckte, war er die erste Adresse unter den bewohnbaren Exoplaneten. Inzwischen hat sich unser Verhältnis zu ihm etwas abgekühlt, auf durchschnittliche Minustemperaturen von 39°. Da sollte man sich also einen guten Wintermantel ins Reisegepäck legen.
Wie auch immer, es gibt ein paar Optionen und unsere Star-Treks sollten sich so oder so möglichst bald auf den Weg machen.  Denn viel kann man von der alten Welt nicht mehr erwarten. Hier geht alles ordentlich den Bach runter und – wie schon eingangs erwähnt - dieses Jahr ist sogar schon nach wenigen Tagen derart vergammelt, dass man wirklich nur noch hier weg will! Eine Zukunft ist hier nicht mehr vorstellbar. Auf zu den Sternen und folgen wir Gene Roddenberrys kosmischer Space-Opera, singen wir eine Arie der intergalaktischen Zukunft und shuttlen wir eine U.S.S. Enterprise. Wandern wir aus zu den Sternen. Vielleicht, ja vielleicht hat die alte Erde dann auch noch eine Zukunft.

 

Streifschuss vom 01. Januar 2021

 

Anlass: Wehrt euch endlich gegen die Beherrscher der Zeit

 

Tempus est error

 

Nun ist dieser lächerliche Jahreswechsel auch rum, zumal die ganze Veranstaltung auf einer historischen Legende ruht. Der Namensgeber des gestrigen Tages war Papst Silvester I. und er soll laut der konstantinischen Schenkung Kaiser Konstantin vom Aussatz geheilt haben. Schon der Kardinal Nikolaus von Kues und ein paar Jahre später der Kritiker Lorenzo Valla bewiesen im 15. Jahrhundert, dass diese Schenkung eine Fälschung war.  Die Constitutum Constantini wurde im 8. Jahrhundert verfasst und berichtet aus der Zeit des 4. Jahrhunderts. Und das alles in einer Zeit, wo die Zeit selbst noch gar nicht überall gleich war. Selbst nach Einführung des julianischen Kalenders gab es Probleme. So galten von 1582 bis 1700 im Reich zwei verschiedene Zeiten.  Denn im Jahr 1582 veröffentlichte Papst Gregor XIII. eine Bulle, die alle verpflichten sollte, den korrigierten gregorianischen Kalender einzuführen um am 04. Oktober 1582 sollten zehn Tage übersprungen werden. Denn der julianische Kalender hinkte zehn Tage hinterher, da das Jahr dort 365,25 Tage beträgt und 11 Minuten länger ist, als das tropische Jahr. Damit hatte sich der Frühlingsanfang verschoben und natürlich auch das Osterfest. Der gregorianische Kalender glich das aus, so wurde die Zeit um 325 (Konzil von Nicäa, wo der Papst Silvester nicht mal selbst anwesend war) wieder hergestellt. Der Frühlingsanfang hatte sich seit Cäsar vom 23. März auf den 21. März verschoben und man sollte den Frühlingsanfang am 21. März feiern. Doch die Reformierten weigerten sich, die päpstliche Bulle rechtlich anzuerkennen. In den bikonfessionellen Städten (durch den Augsburger Frieden von 1555) –Donauwörth!- kam es zu vielen Auseinandersetzungen. Im  Appenzeller Hinterland feiert man bis heute am 13. Jänner das alte Silvester. Das bezeugt den Widerstand gegen die Einführung des gregorianischen Kalenders.

Man kann es also einen Zufall nennen, dass dieser Papst am 31. Dezember starb. Und die Legenden zu diesem Papst sind Fake News. Daher feiere ich schon lange nicht mehr in seinem Namen. Mein Jahreswechsel kommt erst in ein paar Monaten. Ich heilte meine eigene Mutter von ihrer Schwangerschaft! Und dieses Wunder ist keine Legende, sondern lässt sich urkundlich nachweisen. Ich lebe noch im ersten Jahrhundert. Goethe wurde in meiner Zeitrechnung 216 v. B. geboren, der 2. Weltkrieg begann 31 v. B. und 9/11 war im Jahr 36 n. B. Jetzt könnte man mir vorwerfen, dass diese Zeiteinteilung willkürlich sei. Aber ich habe doch gerade nachgewiesen, dass die allgemein akzeptierte Zeitrechnung auf einer erfundenen Geschichte ruht und sogar die Rückdatierung auf Christi Geburt sehr fragwürdig ist. Dagegen ist meine Geburt ein eindeutig beweisbares Ereignis gewesen. Mag es auch von historischer Nebenbedeutung sein – für mich persönlich war es schon von Belang. Jedenfalls ist meine Geburt für mich wichtiger, als der Tod von Papst Silvester I. Und wenn schon ein Papst betrügt – wie soll man diesen gigantischen Menschheitsbetrug des so genannten Jahreswechsels bewerten?
Es ist ein reines Herrschaftssymbol, alle Uhren gleich ticken zu lassen. Schon seit Generationen lassen wir uns von einer anonymen Macht den Takt vorschreiben.

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