Des Lebens Überfluß
Von Ludwig Tieck
Erstmals erschienen im Musenalmanach Urania 1839
Vor 250 Jahren kam Ludwig Tieck als Sohn eines Seilermeisters in Berlin zur Welt. Er gehörte zum Kreis der Jenaer Frühromantiker (Schlegel, Schelling, Fichte), einem Kreis aus Dichtern und Philosophen die getragen waren vom Gedanken einer Universalpoesie und einer Weltseele. In seiner Spätnovelle „Des Lebens Überfluß“ wird daher ein Traum von Heinrich Brand geschildert, der in merkwürdiger Analogie zu dem märchenhaften, glücklichen Ende der Novelle steht. Traum und Wirklichkeit stehen in der Universalpoesie von Schelling in einer wechselseitigen Partnerschaft eines ewigen Werdens. Der Gedanke der Anima Mundi mag im Ende der Novelle anklingen, dass von einem kleinen, dunklen Zimmerchen in einer Vorstadt ein Protagonist den Weltbrand auslösen könnte, dass ein einziger Schuss ausreicht, um Europa in die Revolution zu stürzen. (1914 war es dann so weit). Vordergründig handelt die Novelle von einem Liebespaar, das von zu Hause ausbüxte, um ihre unerlaubte Liebe heimlich weiter auskosten zu können. Doch die Heimlichkeit hat ihren Preis. Clara und Heinrich leben in Armut, werden sogar von Claras treuer Haushälterin unterstützt, ja ausgehalten. Der harte Winter nötigt Heinrich, die hölzerne Treppe zum Erdgeschoß abzutragen und zu verheizen. Als der Vermieter Emmerich vorzeitig von seiner Kur zurückkehrt, stellt er verwundert fest, dass die Treppe in seinem eigenen Haus fehlt. Die Szenen sind skurril und paraphrasieren zusätzlich dieses komische von Luft und Liebe lebende romantische Paar. Kurz bevor die herbeigerufene Polizei und die vielen Gaffer in der Gasse einen größeren Aufruhr um das delinquente Liebespaar anzetteln können, eilt der Märchenprinz Andreas Vandelmeer herbei, Heinrichs Jugendfreund. Dieser hat für Heinrich ein Vermögen erwirtschaftet und bringt auch den verloren geglaubten Chaucer wieder mit. Durch diese berühmten englischen Pilgererzählungen (Canterbury Tales) von Geoffrey Chaucer und einem eingelegten Brief Heinrichs konnte Andreas ihn überhaupt wieder wiederfinden. Mehrfaches wird hier verzahnt. Einmal sind die Canterbury Tales ein Ideal durch den novellistischen Stil. Weiter erinnern die Erzählungen als Mischung von Prosa und Vers an die Universalpoesie Schellings. Gleichzeitig sind die Erzählungen und Fabeln ähnlich angelegt wie Tiecks Novelle auch, mit Erzählungen von kultureller Relevanz. So erwähnt Tieck eine Reihe Literaturen, vom Don Quijote bis zu Shakespeare, vom Götz von Berlichingen bis zu Jean Paul (Siebenkäs). Das Liebespaar erweist sich so als einerseits hoch modern und andererseits als völlig abgedreht naiv und märchenhaft zugleich. Die Grundideen der Romantik, Hinwendung zur Mystik, Abkehr von der Klassik, zeigt sich in dieser Novelle als paradigmatisches Spannungsfeld. Keineswegs unpolitisch, wie man der Romantik gerne unterstellt, verweist Tieck auf Grundprobleme, die heutiger kaum sein könnten.
Pflichtlos sein ist eigentlich der Zustand, zu welchem die sogenannten Gebildeten in allen Richtungen stürzen wollen; sie nennen es Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Freiheit. Sie bedenken nicht, dass, sowie sie sich diesem Ziele nähern wollen, die Pflichten wachsen, die bis dahin der Staat oder die große, unsäglich komplizierte, ungeheure Maschine der geselligen Verfassung in ihrem Namen, wenn auch oft blindlings, übernahm. Alles schilt die Tyrannei, und jeder strebt, Tyrann zu werden. Der Reiche will keine Pflichten gegen den Armen, der Gutsbesitzer gegen den Untertan, der Fürst gegen das Volk haben, und jeder von ihnen zürnt, wenn jene Untergebenen die Pflichten gegen sie verletzen. Darum nennen auch die Niederen diese Forderung eine altertümliche, der Zeit nicht mehr anpassende und möchten nun mit Redekunst und Sophisterei alle jene Bande ableugnen und vernichten, durch welche die Staaten und die Ausbildung der Menschheit nur möglich sind.
So (Seite 20 in der Reclam-Ausgabe) heißt es einmal im Text. Eine tiefe Erkenntnis, die auch unseren degenerierten Freiheitsbegriff auf den Punkt bringt. Danach folgt die romantische Verklärung des Herrn-Knecht-Verhältnisses:
Aber Treue, echte Treue – wie so ganz anders ist sie, wie ein viel Höheres als ein anerkannter Kontrakt, ein eingegangenes Verhältnis von Verpflichtungen. Und wie schön erscheint diese Treue in alten Dienern und ihrer Aufopferung, wenn sie in ungefälschter Liebe, wie in alten poetischen Zeiten, einzig und allein ihren Herren leben.
Beispielhaft zeigt sich die alte Haushälterin Christine, die dem Paar uneigennützig folgte und schwerste Arbeit verrichtet, um das glückliche Paar am Leben zu halten. Prinzessin und Prinz, beide schöner als schön, sind für die im Hintergrund bleibende Christine ein Ideal. Und natürlich wird sie nicht vergessen, nach der fabelhaften Rettung der glücklich Liebenden. Auch die Schlusszene mit dem Buchbinder, der in ihr altes Liebesnest als Nachmieter eingezogen war, verweist auf die Belohnung für Kaisertreue. Noch einen letzten Blick wirft das glückselige Paar Clara und Heinrich auf die alten Feuermauern, auf das süßtraurige Liebesnest in dem sie Armut und Seligkeit zugleich erfuhren.
All dies wird von Ludwig Tieck durchgehend in einem ironischen Ton erzählt. Man weiß, das ist nie wirklich ernst gemeint. Die Treppe zu verheizen ist schon so skurril, aber auch die Besitzlosigkeit, die Wassersuppe, das eigene Tagebuch als Lektüreersatz, die Eisblumen am Fenster als Schmuckersatz, all das sind Kuriositäten, ironische Verweise. Denn das rationale Ende durch das Auftauchen des Vermieters, der nur die Polizei verständigt und der Heinrich Brand für einen Betrüger hält, zeigt, dass die Realität nicht verschwunden ist.
„Ist es, wie so viele Weltweise behaupten, edel, seine Bedürfnisse einzuschränken, sich selbst zu genügen, so hat dieser für mich völlig unnütze Anbau mich vor dem Erfrieren gerettet. Haben Sie niemals gelesen, wie Diogenes seinen hölzernen Becher wegwarf, als er gesehen, wie ein Bauer Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und so trank?“
„Sie führen aberwitzige Reden, Mann“, erwiderte Emmerich; „ich sah einen Kerl, der hielt die Schnauze gleich an das Rohr und trank so Wasser; somit hätte sich Ihr Mosje Diogenes auch noch die Hand abhauen können. – Aber, Ulrich, lauf mal gleich zur Polizei; das Ding muss einen andern Haken kriegen.“
Dieser Dialog zum Ende der Novelle bringt es auf amüsante Weise auf den Punkt. Der Hausbesitzer Emmerich ist sogar bildungstechnisch gewitzt. Sein rationales Denken wischt den ganzen Diogenes auf herrliche Weise weg.
Die Idealisierung von Armut führt am Ende auch noch zur Verstümmelung.
Mich hat immer schon etwas irritiert, wie holzschnittartig die Romantik betrachtet wurde und weiter betrachtet wird. Auch die Vorromantik (Empfindsamkeit) ist alles andere als Ironie frei. Im Gegenteil. Die Aufklärung vermisst viel häufiger diese Mehrdeutigkeit. Während die Romantik das gute Teil des Barock mitgenommen hat, den Sinn für Humor, die Akrobatik und Witzkultur, die im Barock so sehr zur Blüte kam und so sehr weggewischt wurde, dass man sie nun erst wieder ausgraben muss. In meinen Barock-Vorlesungen habe ich immer wieder auf diese Witzkultur, auf diese grandiose Raffinesse des Erzählens verwiesen, auf die Fähigkeit Mehrdeutigkeiten und Paradoxien hervorzuheben und spielerisch einzusetzen. So machte es auch Tieck, ganz im Sinne der Frühromantiker, die nicht nur barocke Mystik, sondern auch barocke Stilakrobatik vor dem teilweise plumpen Klassizismus retteten.
27. Juni 23
Der Hungerpastor
Von Wilhelm Raabe
Erschien ab November 1863 in Vorabdrucken der „Deutschen Roman-Zeitung“ herausgegeben von Friedrich Spielhagen
Wilhelm Raabe wurde 1831 in der niedersächsischen Kleinstadt Eschershausen als Sohn des
dortigen Amtsgerichtsschreibers geboren. Er verfasste weit über 60 Romane, hatte vier Töchter und war über Jahre Mitglied des Stammtisches der „ehrlichen Kleiderseller zu Braunschweig“, einem
Stammtisch der bis heute fortexistiert, sich von einer Interessensgemeinschaft zur Gründung eines Heimatmuseums in eine Gemeinschaft zu Ehren Wilhelm Raabes wandelte. Der bei Abdruck des
Hungerpastors 32jährige Autor hatte zu dieser Zeit bereits ein halbes Dutzend Romane veröffentlicht, darunter auch seinen erfolgreichen Debütroman „Die Chronik der Sperlingsgasse“, einer dem
Hungerpastor in manchem nicht unähnlichen Liebesgeschichte, die aus dem Elend in die Idylle führt. Doch im Gegensatz zum Hungerpastor war der Erzählstil Raabes in der Sperlingsgasse verwickelter und
keineswegs so chronologisch, wie es der Titel suggeriert. Der Hungerpastor dagegen beginnt ab ovo, also ab Geburt des Helden Hans Unwirrsch, was ja eigentlich ein Adjektiv für mürrisch und
unfreundlich ist. Dabei ist dieser grüblerische Hans eine wahrhaft gute Seele. Seine Vorfahren sind Hans Sachs, Jakob Böhme und sein Schustervater von dem er die stets ihn begleitende Schusterkugel
erbte, dieses Licht, das ihm stets voran leuchtet bei allem Zwielicht, dem der gute Märchenhans ausgesetzt ist. Ihm beigestellt ist sein Jugendfreund Moses Freudenstein, der sich später vom
Freudenstein zum bloßen Stein verwandelt, zu Theophile Stein. Moses ist der Vatermörder, der im Gegensatz zum vom Licht immer wieder gesegneten Hans, die Dunkelheit ertragen muss und am Ende dieser
Dunkelheit erliegt. Die Rezeptionshistorie lobte einerseits den gradlinigen Erzählstil und andererseits wurde es auch als Rückschritt gegenüber der Chronik der Sperlingsgasse gesehen. Dabei hat auch
der Hungerpastor seine modernen Einschübe. Der auktoriale Erzähler entpuppt sich einerseits als unmittelbarer Zeitzeuge, der wohl mit Hans und Moses auf das Abitur hin schwitzte (Wir schwitzten
zu allem andern Schweiß dicke Angsttropfen über der zerlesenen Grammatik), andererseits gibt es viele Auslassungen, weil der Erzähler weder zugegen war, noch Einzelheiten aus anderer Quelle
kennt. Der moderne Charakter der Erzählung zeigt daher einen unsicheren und auch durchaus ironischen Erzähler, wie wir ihn dann später bei Thomas Mann in Überfülle vorfinden werden. Der
naturalistische Stil überwiegt natürlich. Es ist eine realistische Erzählung des Lebens eines Schustersohnes, der sich als Hauslehrer verdingen muss und schließlich zum Pfarrer einer kleinen
Gemeinde aufsteigt, und es ist die gebrochene Lebensgeschichte eines Trödler-Sohnes, der sich in Paris (Belle Epoque) zu einem Dandy entwickelt, sich in zerstörerische Machenschaften verwickelt und
zum Geheimen Rat in Paris aufsteigt. Die Darstellungen des zum Christentum konvertierten Juden Moses Freudenstein alias Theophile Stein kontrastiert insofern, weil es das brave und um Moral bemühte
Leben des schlichten Hans, des Hungerpastors auf diese Weise noch hervorhebt. Dass gerade die Nationalsozialisten von diesem Buch schwärmten und den Roman als beispielhaften Beleg ihres
Antisemitismus instrumentalisierten, liegt sicher an der von Ruth Klüger nachgewiesenen stereotypen Darstellung der Familie Freudenstein. Der Erzähler distanziert sich bereits im ersten Kapitel vom
Antisemitismus und auch Wilhelm Raabe ist vom Verdacht darauf eindeutig frei. Raabe war kein Antisemit. Doch die Stereotypen sind im Buch. Doch liest man zwischen den Zeilen, dann ist Moses/Theophile
nicht stringent böse, sondern getrieben. Sein Streben ist exemplarisch in einer hierarchischen Welt, die den bürgerlichen Aufstiegsbemühungen Schlösser und Burgen vor die Nase setzte und gleichzeitig
mit einem geheuchelten bürgerlichen Moralkodex ein nicht erreichbares Ideal aufstellte. Davon abgesehen – und liest man den Hungerpastor im positiven Sinne naiv – ist der Roman gute Unterhaltung. Am
Kaminfeuer sitzend, und ich meine das nicht abfällig, bei einem Glas Rotwein liest sich der Roman butterweich, schön. Die Kritik an den Lebensumständen dieser Zeit, der Hunger, bezieht sich nicht nur
auf die leiblichen Nöte, sondern auch auf die geistigen Nöte der Menschen. Das Herr-Knecht-Verhältnis in dem der Hauslehrer Hans eingepfercht ist, bis er sich endlich als „eigener Herr“ bezeichnen
kann, ist erdrückend. Das Haus der Götz in der Parkstraße in der großen Stadt (Berlin wird mit keinem Wort erwähnt vom Autor, doch in den Rezeptionen wird automatisch von Berlin gesprochen) ist ein
Gespensterschloss in dem die Base Schlotterbeck so manche Tote hätte wandeln sehen. Und Fränzchens Onkel Theodor ist ein vom Aktenpapier und von seiner Göttergattin unterdrückter, wahrlich
geheimer Rat. Die Motive der Befreiung werden auch immer wieder mit den Neuntötern (geheime Bruderschaft, weil bei allen Lügengeschichten, die man sich dort zum besten gibt, nie von mehr als
neun Toten die Rede sein darf) und den napoleonischen Befreiungskriegen konnotiert, Leipzig und Waterloo sind noch frisch. Das Hambacher Fest liegt gerade mal 30 Jahre zurück, als der Roman erschien,
die Karlsbader Beschlüsse sind in Kraft und 1848 blieb ein Trümmerwerk. Die politischen Anspielungen lesen sich in heutiger Lesart verschlüsselter, als sie wohl damals den Lesern erschienen sind. So
war der Roman ein großer Publikumserfolg, weil der Roman auch „schön“ geschrieben ist, chronologisch, weitestgehend chronologisch erzählt und mit dem guten Ende des füreinander bestimmten Paares Hans
und Franziska erfüllt sich der bürgerliche Traum. In einem kleinen Fischerdorf in der Ostsee. Das kann man eigentlich nur ironisch lesen. Während in der Ferne in Nordamerika der Bürgerkrieg tobt,
kündigt sich Ähnliches auch in Europa an. Der Bruderkrieg zwischen den Preußen und Österreich wird die Zukunft entscheiden. Das Deutsche Reich wird gegründet und die österreichische Doppelmonarchie
entsteht.
Der Hunger ist auch einer nach nationaler Identität. Ubi bene, ibi patria. So ist man als Seelsorger und Schustersohn in Grunzenow gut aufgehoben. Dass zum Ende Henriette und Kleophea von ihrem
Qualfreund Theophile Stein hinweg gespült an genau der Stelle der Ostsee havarieren, gehört wohl mit zur stilistischen Kuriositäten- und Wundersammlung dieses vor über 150 Jahren erschaffenen
Kunstwerks. Literaturwissenschaftlich betrachtet ist die Erzählweise des ab ovo eigentlich den Schelmenromanen eigen (Simpliccisimus, Blechtrommel). Die im heroischen Gestus erzählten Helden- und
Ritterromane beginnen in medias res. Es kommt nicht von ganz ungefähr, wenn Wilhelm Raabe die berühmte Satire über Ritterromane (Don Quijote) erwähnt, als sich sein Held Hans hinsetzt, um seine
heldenhafte Hungergeschichte aufzuschreiben. Dieser autoreferenzielle Bezug zur Geschichte Raabes selbst, die sich in dem Vorhaben des Kandidaten der Gottgelehrtheit spiegelt, ein Buch über seine
Lebensgeschichte zu schreiben ist ein weiterer Beleg für die Modernität dieses Romans. Immer wieder verweist der Erzähler auf die Authentizität des Geschehenen. So werden die Briefe zitiert, aber mit
dem ironischen Vermerk des Erzählers, dass sie keineswegs so leicht zu lesen gewesen wären, wie sie hier im Buche gedruckt vorgefunden werden. Das suggeriert dem Leser, dass es tatsächlich diese mit
der unsicheren Hand geschriebenen, geklecksten Briefe gäbe. Damit spielt der Autor öfter und entwickelt so einen Sog in die Geschichte, steigert die Glaubwürdigkeit zusätzlich dadurch, dass der
Erzähler nicht alles weiß und zu den Lücken seine Vermutungen anstellen muss. Auch Verweise auf andere Texte des Autors Raabe (die Polizeistation habe er bereits an anderer Stelle beschrieben)
erhöhen den literarischen Spaß. So wie im Kapitel 6 des Don Quijote, wo der Pfarrer die Ritterromane sortiert und dabei auf einen Roman des Autors Cervantes (La Galatea) selbst stößt, mit dem der
Pfarrer – so behauptet er im Text – gut bekannt sei.
Also mein Fazit lautet kurz und knapp: Ich habs mit Freude und gern gelesen.
21. Juni 23
Das Glück in glücksfernen Zeiten
Von Wilhelm Genazino
Erschienen 2009 im Verlag Hanser
Gerhard Warlich, studierter Philosoph, beruflich Geschäftsführer einer Wäscherei und dabei eher Faktotum für seinen Chef, der ihn auch noch dazu auffordert seine Kollegen auszuspionieren, ob diese auch ordentlich arbeiten und nicht lieber in einem überfüllten Straßencafe bei einem Glas Bier sitzen. Am Ende wird er selbst Opfer dieser Betriebsspionage und gekündigt. Sein einziges Glück ist seine Freundin Traudel. Die Zweisamkeit und die Freiheit dieser Zweisamkeit sind sein Lebenskitt. Doch dann wünscht sich Traudel mehr, sie will eine Familie, ein Kind, einen Trauschein. Im Grunde eine legitime Forderung, bzw. ein legitimer Wunsch in einer schon länger gut eingespielten Partnerschaft. Aber dann werden spontane gemeinsame Kinobesuche nicht mehr durchführbar. Das Privatleben wird auch organisiert und gleicht sich dem Arbeitsleben an. Das stürzt den oft seinen Tagträumen nachhängenden Protagonisten endgültig in die Krise und am Ende erscheint er der Außenwelt vollends verwirrt, als er einer alten Freundin die er zufällig trifft, ein Stück trockenes Brot in die Hand drückt und danach in Tränen ausbricht. Soweit die Story. Auf 150 Seiten in elf Kapiteln erleben wir dann etwas, was nicht wirklich das Label Roman verdient. Auch wenn sich der Begriff Roman (aus dem Französischen einfach eine Erzählung in Vers- oder Prosaform) sich einer klaren Definition entzieht, historisch erst einmal nur den geläufigen Begriff Historie ablöste, würde ich hier dennoch eher von einer Erzählung, einer Novelle sprechen. Novelle, weil der Bericht des Ich-Erzählers ein Stimmungsbericht ist. Der impressionistische Habitus zeigt sich in der anekdotischen Sprache. Der Mensch kann Katastrophen immer nur betrachten, nicht verstehen. So auf Seite 18 unten. Zwei Absätze weiter: Ich komme nur nicht damit zurecht, daß ich mich fortlaufend zu ihr verhalten muss. Und am Ende des ersten Kapitels heißt es: Und während wir uns küssen, werden wir wieder beeindruckt sein von unserer Dauerhaftigkeit als Paar. So geht es immer weiter: Ich kann trotzdem nicht verhindern, daß ich jetzt stiller und stiller werde, bis ich vollständig in meinem Innenraum angekommen bin. Dort bedauert mich niemand so kenntnisreich wie ich selbst.
Der Icherzähler gibt also weniger einen genauen Bericht der Außenwelt, sondern einen immerzu schwankenden Bericht über seine Innenwelt. Einsamkeit ist normal; nur ihr plötzliches Eintreten ist so widerlich. Im Großen und Ganzen geschieht nicht viel. Es gibt keinen Mord, keine Tragödie, kein übergroßes gesellschaftliches Ereignis, sieht man mal von einer Demonstration ab, in die Gerhard Warlich mehr zufällig gerät. Überhaupt strömt der Icherzähler mit seinen Stimmungen und inneren Gedanken wie in einem Aquarium dahin.
Der Reiz den die Texte des Büchner-Preis-Trägers von 2004 Wilhelm Genazino ausmachen, ist das Flanieren. Der Flaneur trat mit der Erzählung „The Man of The Crowd“ von Edgar Allan Poe in die literarische Welt. In dieser Erzählung folgt der Icherzähler einem älteren eher zerlumpt aussehendem, aber unruhig wirkenden Mann, der eine Gaslaterne bei sich trägt und der Icherzähler kann einen Diamanten und einen Dolch erkennen. Der Icherzähler in dieser Geschichte von Poe bezeichnet sich erstmals in der Literatur als Flaneur. Und in der Art ist auch Genazino ein Flaneur. Das Beobachten ist nicht das Ziel, sondern die Botschaft. Damit meine ich, dass es in den Erzählungen von Genazino um das Beobachten selbst geht. Die impressionistische Faktur verweist auf die verwischten Grenzen zwischen Innen und Außen. Ganz wie in der Observership-Theorie in der Physik kann der Beobachter sich nicht aus dem beobachteten Geschehen herausnehmen. Die Illusion des klassisch naturalistischen Romans, die Ereignisse seien neutral wiederzugeben, das ist ja eh schon Schnee von gestern. Daher neigt Genazinos Sprache auch immer in die Poesie hinein, wie die häufigen Katachresen (Zeithose, Glücksfeldzug, Schmerzwaage) und der Anekdotenreichtum offenbaren. Der Leser braucht so eine gewisse Portion extra Sympathie für die zentrale Figur, für den Point of View, der bei Genazino leicht melancholisch (Etwas von der Feinheit, die ich zum Leben brauche, finde ich nur in meiner Melancholie, Seite 63), etwas pessimistisch und doch auch idealistisch ist (Es sollte nicht nötig sein, daß um des Glückes willen ein solcher Kampf stattfindet Seite 135). Und auch dieser idealistische Zug ist typisch für die impressionistische Faktur. Gerne würden wir noch erfahren wollen (also mir geht es so), ob der letzte Satz der Prosa dieser Erzählung die Veränderung nur als Möglichkeit andeutet, oder ob Gerhard Warlich wirklich aus der Krise herausgefunden hat, und er so seine Entscheidung findet, wie er in Zukunft leben will. Unwahrscheinlich ist, dass das mit Traudel sein wird. Gibt es überhaupt eine Partnerschaft für den Flaneur? Ist seine Einsamkeit und Melancholie partnerschaftsuntauglich? Ist die Innenwelt des Gerhard Warlich nicht permanent von der Außenwelt bedroht und somit von jeder Partnerschaft, die ja in der Außenwelt angesiedelt ist?
Die Freiheit der modernen Liebespartnerschaft, darauf konzipiert die eigenen Innenwelten parallel zu erleben und ohne Organisation dieses Lebens partnerschaftlich durch Raum und Zeit zu schlendern: das ist nicht auf Dauer angelegt. Der so klingende Begriff Alltag, den wir uns mit kleinen Höhepunkten zu versüßen suchen, ist oft nur der melancholische Versuch, die Zeit totzuschlagen, bevor man selbst von der Zeit totgeschlagen wird. Den Halt in dieser Welt zu finden ist inmitten unseres vollständig organisierten Chaos (Alltag eben) Schwerstarbeit. So mancher erkennt, dass die Verrücktheit ebenso die Weisheit sein kann, die um die Schändlichkeiten der Welt weiß und fasst aus Ärger den weisen Entschluss, verrückt zu werden, wie uns dies Heinrich Heine in seinen Reisebildern (1826) einst so schön erläuterte.
Genazinos Helden verwechseln zwar noch keine Windmühlen mit Riesen, aber intensive Leser sind seine Flaneure immer. So ist eine weitere wichtige Faktur seiner Erzählungen die Autoreferenzialität. Auch Gerhard Warlich nimmt immer wieder auf sich selbst und damit auf die von ihm selbst erzählte Geschichte Bezug. Dies Mise en abyme, dies Spiel im Spiel lockt Paradoxien geradezu an. Und Paradoxien sind eben Verrücktheiten und keine Wahrheiten. So entrückt sieht man mehr, und Genazino ist darin ein Meister dieses Mehr (Meer) der Verrücktheiten die unser Dasein bei genauerem Beobachten tatsächlich prägen, in Darstellung zu bringen.
Wilhelm Genazino kam 1943 in Mannheim zur Welt, von 1977 bis 1979 erschien die Abschaffel-Trilogie in der Genazino das Leben eines Büroangestellten porträtierte, der nicht so recht funktionierte. Erst nach diesem Bucherfolg legte Genazino das Abitur 1982 ab und studierte von 1984 bis 1989 Germanistik in Frankfurt. Er starb im Alter von 75 Jahren 2018 in Frankfurt.
23. Mai 23
Das Glück der anderen
Von Stuart O‘ Nan
Deutsch von Thomas Gunkel
Erstmals erschienen 1999 im Original unter dem Titel A Prayer for the
Dying
deutsche Ausgabe 2001 im Verlag Rowohlt
Der gelernte Ingenieur Stuart O’ Nan befasst sich von jeher in seinen Romanen mit der
amerikanischen Mittel- und Unterschicht. Dabei schildert er seine Figuren präzise und legt Wert auf Details.
Das Glück der anderen spielt nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Jacob Hansen hat es in die „sterbende alte Bergarbeiterstadt“ Friendship in Wisconsin verschlagen. Die Erinnerung an entsetzliche
Kriegserlebnisse wird er nie mehr los. Statt zu reiten, fährt er lieber mit dem Fahrrad oder mit der Draisine, denn beim Geruch eines Pferdes muss er daran denken, wie er sich im aufgerissenen Leib
eines gerade getöteten Pferdes wärmte. In Friendship fungiert Hansen als Sheriff, Prediger und Leichenbestatter zugleich. Doch eines Tages bricht eine Diphterie aus, eine Seuche biblischen Ausmaßes,
das den Vergleich mit Hiob mehrfach im Roman anklingen lässt. Jacob Hansen verliert erst sein kleines Kind, dann seine Frau, und am Ende alle Bewohner des Dorfes. Am Ende ist er der einzige
Überlebende dieser Apokalypse.
Der gottesfürchtige und stille, eher in sich gekehrte Held hadert stets mit sich und den
seinen. Freund und Feind werden sich mit zunehmender Dramaturgie der Seuche gleich. Am Ende ist der Tod der große Gleichmacher. Die medizinischen Möglichkeiten sind eingeschränkt. Dr. Guterson – der
einzige Arzt des Dorfes fällt der Seuche ebenfalls zum Opfer.
Obwohl ihn der Arzt anleitete, die Leichen nicht zu berühren, hält sich Jacob nicht daran, erfüllt seine Pflicht als Leichenbestatter solange es geht mit größter Sorgfalt. Vermutlich brachte er so
die Erreger in sein eigenes Haus. Warum er nicht daran starb, welche Abwehrkräfte ihn schützten, bleibt unklar. Der 1999 in den USA erschienene Roman nimmt so ein globales Ereignis vorweg, das 20
Jahre später erschien. Ich frage mich, was der Autor (Jahrgang 1961) dazu zu sagen hätte.
Der Epidemiologe Dr. Georg Schiller von der TU Düsseldorf erklärt es uns so:
„Der Roman zeigt, dass es nicht allein darauf ankommt, welche Regeln und Gesetze man gegen die Ausbreitung der Epidemie erlässt: man muss die Menschen auch emotional erreichen, ihre Sprache sprechen. Ihnen vor Augen führen, warum Kontaktverbot Leben rettet! All das ist Jacob nicht gegeben. Seine Kirche ist leer. Er spricht mehr mit sich selbst als mit den anderen.“
Die Regeln, die Jacob erlässt, sind alle durchaus sinnvoll. Aber sie werden von der Gemeinschaft nicht getragen und sind deshalb das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Friendship hin Friendship her.
Dr. Schiller erläutert weiter: „Als Sheriff handelt er im Namen des Gesetzes, als Prediger im Namen der Moral und als Leichenbestatter im Namen der Tradition. Aber das Unheil, das heraufzieht, zeigt uns Lesern, was Jacob nicht erkennt: die drei Ämter orientieren sich an ganz unterschiedlichen Vorgaben und bilden keinen gemeinsamen Nenner. So verstrickt sich Jacob immer mehr in Widersprüchen und wird ein Täter wider Willen.“
Die Parallelen zur vergangenen Corona-Pandemie sind offensichtlich: medizinische, ökonomische
und soziale Notwendigkeiten im Widerstreit. Wie lange gilt ein Kontaktverbot, das Menschen in den wirtschaftlichen Ruin treibt? Was verlieren wir, wenn wir schwer Erkrankte alleine sterben lassen? Wo
sind die ökonomischen und humanitären Grenzen der Risikominimierung? Oder gibt es keine?
Du durchforscht dein Gedächtnis nach einer Parabel über Stärke und Gottvertrauen. Abraham und Isaak fallen dir ein, doch darüber hast du erst letzte Woche gesprochen. Hiob ist bereits
überstrapaziert. Lot. Du schüttelst den Kopf und gehst weiter (Seite 83). Jacob findet keine passende Geschichte, weiß nicht, was er seinen Schäfchen sagen soll. Am Ende kommt nur noch der
Totenglöckner zu seiner Predigt. Irgendwann kann Jakob die Toten kaum noch beerdigen. Am Beispiel des Todes der Kuh Cynthia wird der ganze Horror offensichtlich. Erst als er ihr in den Kopf schießt
kann er ihr Leben beenden. Am Ende heißt es lakonisch: Du tust, was getan werden muss. Ein Westernzitat, das in jedem zweiten Western einer der Helden einmal sagt.
Die Perspektive des Romans war zunächst gewöhnungsbedürftig. Doch irgendwann war diese merkwürdige Distanz zum Helden (warum erzählt er es nicht in der Ich-Form?) durch das „Du“ sogar intimer als das Ich. Zumindest ging es mir so beim Lesen. Denn ich war mit diesem Du irgendwann ein Begleiter von Jacob, fast ein Kommentator seiner Handlungen. Das Präsens wirkte dabei natürlich mit und machte die Erzählung unmittelbarer. Die Vergleiche mit Albert Camus Die Pest oder mit Nemesis von Philipp Roth liegen nahe. Drei unterschiedliche Helden, die aber eines gemeinsam haben, einen Willen es gut zu machen, zu helfen, ihren Job zu machen. Ohne Aussicht auf Erfolg. Man tut, was man tun muss. Das muss ich auch der eine oder andere Arzt oder Ärztin gedacht haben, als er oder sie eine Triage-Entscheidung zu fällen hatte. Wer darf leben? Wer muss sterben. Man tut, was man tun muss. Das männliche Generikum dabei ist insofern interessant, da die Aussichtslosigkeit des Kampfes (irgendwer stirbt so oder so) ein Kriegstopos ist.
Wie auch immer. Ich habe diesen Roman im positiven Sinn erlitten, konnte mich mit dem Helden durchaus identifizieren. Die Rezensionen waren allerdings sehr gemischt. Und auch das kann ich zum Teil nachvollziehen.
In seinem Roman „Das Glück der anderen“ schilderte Stewart O’ Nan in einer kargen Sprache ohne jede Sentimentalität ein Horrorszenario. Dabei verwendet er für seine Erzählerfigur die unübliche zweite Person Singular und ließ uns gewissermaßen an den Selbstgesprächen des Protagonisten teilhaben. Angeregt zu diesem Buch wurde Stewart O’Nan durch einen Tatsachenbericht über eine Epidemie in Wisconsin (Michael Lesy: Wisconsin Death Trip, 1973). Witziges Detail dazu: Es gab auch 1973 Hamsterkäufe und das Toilettenpapier ging aus. Das lag aber vor allem an einem Scherz des Talkmasters John Carson, der 1973 als einen Scherz verkündete, jetzt ginge in den USA auch noch das Toilettenpapier aus. Kurz darauf kam es zu Hamsterkäufen und es ging wirklich aus. Zuvor gab es noch reichlich Toilettenpapier.
Stewart O’Nan wurde 1961 in Pittsburgh geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als
Flugzeugingenieur und studierte Literatur. Für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ wurde er 1993 mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet.
24. Mai 23
Bevor der letzte Zug fährt
Von Penelope Mortimer
Original Daddy’s Gone A-Hunting
Aus dem Englischen von Kristine Kress, 2023 im Verlag Dörlemann
Wie kleine Eisberge halten alle ein helles, strahlendes Gesicht über Wasser, doch unter
der Oberfläche, viele Faden tief getaucht in Müßiggang, verbirgt jede ihre eigene, vereinsamte Persönlichkeit... Zusammengeschlossen könnte ihre Energie eine Revolution auslosen, halb Südengland mit
Strom versorgen, ... und eine Kaffeetasse könnte explodieren - ohne jeden Grund, beschreibt die
walisische Tochter eines anglikanischen Klerikers den unterschwelligen Horror eines britischen, typisch-britischen Hobbit-Dorfes, genannt Common. Die gebürtige Penelope Fletcher war verheiratet mit
dem Barrister John Mortimer, der den berühmten Anwalt Horace Rampole erschuf, ließ sich aber nach zahlreichen außerehelichen Affären 1971 wieder von ihm scheiden. Der Verlag Dörlemann hat nun
einen 1958 erschienenen Roman von ihr wieder aufgelegt. In der gelungenen Übersetzung von Kristine Kress schildert Mortimer eine Mutter, die um ihre Tochter kämpft und zugleich gewinnt und verliert.
Ihre Tochter Angela wird mit grade 18 Jahren schwanger, ähnlich wie ihre Mutter Ruth. Um ihr das Schicksal einer tristen Ehe mit einem exorbitanten Langweiler zu ersparen (wie sie es erlebt)
arrangieren sie gemeinsam eine Abtreibung in einer zutiefst bigotten Gesellschaft. Selten habe ich den Horror der Langeweile so brillant geschildert bekommen. Es ist diese Langeweile ja eines der
letzten Tabus unserer Gesellschaft. Daher ist es gar keine Überraschung, dass diese Buch inmitten unserer roboterhaften Leistungsgesellschaft erscheint. All die jungen Frauen, die zwischen Karriere
und Workout ein zutiefst unmenschliches Leben führen müssen, werden diesen Roman nicht lesen. Was schade ist. Die junge Mutter Ruth führt ein ebenso sinnentleertes Leben, wird dominiert von einem
immer fetter werdenden Zahnarzt, der die ganze Woche in fremden Mäulern herumstochert. Ihre beiden Jungs sind im Internat – wie sich später herausstellt auf Bestreben ihres Göttergatten, der wohl
eifersüchtig war.
Während Ruth um die Zukunft ihrer Tochter kämpft, unterhält ihr Göttergatte eine Affäre mit der pausbäckigen Schauspielerin Maxine.
Flotte Dialoge werden mit den Gedanken von Ruth unterfüttert. Ruth ist tief depressiv, kommt kaum noch aus dem Bett, als der Brief ihrer Tochter sie aufweckt. Die Nachricht von Angelas Schwangerschaft ist ein Weckruf. Der Spießrutenlauf bis zur Abtreibung bei dem jüdischen Arzt, der auch noch Dr. Fickstein heißt, wird minutiös und quälerisch beschrieben. Es ist unmenschlich. Angelas Samenspender Tony schreibt einen Brief an Ruth, da tut er sich auch noch selber leid.
Endlich, nach quälendem medizinischem Spießroutenlaufen, ist es so weit. Dr. Fickstein erklärt
sich bereit, den Schwangerschaftsabbruch bei Angela vorzunehmen. Doch es am Weihnachtstag. Warum? Weil Dr. Fickstein in den Urlaub will, und Angela es doch langsam eilig hat.
Ruth ist vollkommen ambivalent. Es kommt ihr auch wie eine Hinrichtung vor. Aber es ist andererseits auch eine Rettungsaktion.
Erst zehn Jahre nach Erscheinen des Romans wurde in England der Schwangerschaftsabbruch legalisiert.
Der Originaltitel bezieht sich auf die Melodie einer Spieluhr, die Ruth kauft, um sie Baby (die nie mit Namen genannt wird von ihrer Mutter Jane) zu schenken. Allerdings ist Baby noch zu klein dafür, würde die Spieluhr nur kaputt machen. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Protagonisten mit der die Spieluhr im Laufe des Romans rezensiert wird, lassen dabei auch Rückschlüsse auf die Figuren zu. Das Schlaflied der Spieluhr schildert Daddy auf der Jagd nach einem Kanninchenfell, in das das Baby schön eingewickelt wird. In einer früheren Version von 1736 schildert das Lullaby die Mutter, die zum Melken gegangen ist, die Schwester ist verrückt geworden, der Bruder ist gegangen, um Haut zu kaufen um das Baby Bunting einzuwickeln.
Wie auch immer. Der deutsche Titel bezieht sich dann eher auf qualvollen Zugfahrten in die Stadt. Montags früh fahren die Männer in ihren Kanninchenbau (genannt Arbeitsplatz) und am Freitagabend wieder nach Hause um der häuslichen Langeweile mit vielen Gin-Tonics zu entkommen.
Sollte dieses öde Leben auch das Schicksal von Ruths Tochter werden? Das reißt die depressive
Mutter aus ihrer Lethargie.
Und am Ende ist sie älter geworden. Die Tochter geht ihrem freien Leben nach.
Die Autorin Penelope Fletcher wurde ebenfalls früh mit 18 Jahren schwanger, hatte bald sechs Kinder zu versorgen und eine unglückliche von Affären gezeichnete Ehe zu durchstehen. Ihr durchaus feministischer Roman nimmt einiges vorweg und dürfte Ende der 1950er durchaus ungewöhnlich, ja skandalös gewesen sein. Auch die Darstellung der Depression und vor allem der Umgang mit ihr (mit Ruth in der Depression), diese Bevormundung durch eine Aufpasserin und einem von seiner eigenen Arbeit eher angewiderten Arzt, das erinnerte mich auch an die Glasglocke von Sylvia Plath.
Wer aus der Reihe tanzt, wer das allgemeine Glück so nicht empfindet, wer andere Perspektiven sucht (einer perspektivlosen Eigenheimidylle), der wird entweder depressiv und eine Heldin.
So habe ich den Roman überraschend gerne gelesen. Vor allem auch, weil die Autorin einen wunderbaren Humor hat und dieser Kontrapunkt zur öden Idylle ist sicher eine besondere englische Note. Denn das ist schon noch ein anderer Horror, als irgendwo am Münchner Stadtrand vor sich hin zu gammeln. Denn die Münchner Vororte haben keinen Humor. Mortimers Figuren sind heute durchaus Topos des 1950er Jahre Charmes. Von den Teddy Boys bis zu den Schnöseln die große Partys feiern und auch das Personal einladen. Dagegen ist der kleinbürgerliche Hamsterreichtum aus Knausrigkeit und verbissener Arbeitsmoral, den die Münchner Vororte kennzeichnen keinen Topos wert. Der Ausbau des Schienennetzes in diese Gegend verschwendetes Steuergeld und ein S-Bahn Streik wirkt geradezu lächerlich und ist der beste Witz, den man sich hierzulande noch vorstellen kann. Was soll das bewirken? Wenn hier der letzte Zug fährt, ist er leer.
05. Mai 23
Der erste Zug nach Berlin
Von Gabriele Tergit
Erschienen 2023 im Verlag Schöffling & Co.
Im 18. Kapitel der düsteren Satire von Gabriele Tergit (Klarname: Elise Reifenberg, geb.
Hirschmann) treffen der Brite Morton und die junge Amerikanerin Moud in einem heruntergekommenen Haus auf einen ehemaligen Journalisten, der von den Nazis fast zu Tode gefoltert worden war und der
dann vor ihren Augen verstirbt. Möglicherweise war die Vorlage für den im Roman Reinhold genannten Figur der Rechtsanwalt Hans Litten, der erst nach langen Jahren der Demütigung auf tragische
Weise endgültig der Barbarei entfliehen konnte. Am 5. Februar 1938 erhängte er sich im Alter von nur 35 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war Litten schon fast zu Tode gemartert, hatte ein steifes Bein,
eingeschlagene Zähne und war auf einem Auge blind. Ähnlich wie Reinhold. Nur dass Reinhold in Tergits Roman noch einmal nach der Katastrophe auflebt, nur um weiter und für immer zu schweigen. Im Jahr
1924 erlebte Tergit als Gerichtsreporterin im Kriminalgericht Moabit ihren ersten Prozess. Und da waren Hitler und Goebbels Angeklagte und der Staatsanwalt hieß eben Hans Litten. Tergits
Berichterstattung über diesen Prozess führte dazu, dass sie auf die Gegnerliste der Nazis kam, ebenso wie Hans Litten. Tergit hatte – im Gegensatz zu Litten - Glück im Unglück. Als SA-Leute am 05.
März 1933 an ihre Tür klopften, hämmerten, schlugen, hielt die mit Eisenbeschlag verstärkte Tür stand und es gab noch eine kleine Schutzpolizei der Sozialdemokraten, die sie beschützte. Doch kurz
darauf floh sie mit ihrem Mann in die Tschechoslowakei und später nach England wo sie 1982 im Alter von 88 Jahren verstarb. Fünf Jahre vor ihrem Tod wurde ihr erster Roman Käsebier eroberte den
Kurfürstendamm (über Aufstieg und Fall eines vom Medienbetrieb missbrauchten Volkssänger) auf den Berliner Festwochen wiederentdeckt und neu aufgelegt. Doch offensichtlich wurde es dann wieder
für Jahre still um sie. Der Schöffling-Verlag hat sie nun erneut in einem größeren Rahmen wiederentdeckt (Die Effingers und So war es eben).
Der erste Zug nach Berlin schildert die Nachkriegssituation in Deutschland aus dem Blickwinkel einer jungen New Yorkerin, die zum ersten Mal überhaupt aus ihrem luxuriösen Umfeld in New York
herauskommt. „ich muss sagen, es war ein reiner Zufall, dass ich nach Deutschland kam“ beginnt sie den Roman. Die junge Maud schließt sich einer Gruppe Intellektueller des amerikanischen
Militärdienstes an. Deren Mission ist es, den Deutschen Demokratie zu vermitteln, einen Pressedienst zur reeducation aufzubauen. Im Gepäck hat Maud auch eine Schreibmaschine. „Als das
Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen
Cocktail zu trinken.“
Kann es gelingen, eine so komplexe Situation wie die im Nachkriegsdeutschland mit einem derart naiven Point of View darzustellen?
Es gelingt. Tatsächlich, weil die naive Maud ihren Protagonisten einfach zuhört. Erst später im Roman beginnt Maud sich zu wandeln.
Im Stil einer geübten Reporterin baut Tergit eine beißende und düstere Satire auf. Der gesamte Pressedienst ist von Altnazis durchwandert, die Beteiligten sind zum Teil vom eigenen Nationalismus
getrieben und all die demokratischen Bemühungen wirken unglaubwürdig. „In Amerika und England hatte der public book trust das Veröffentlichen von Büchern unternommen. Er gab nur Bücher heraus,
bei denen man mit einer Million Leser rechnen konnte. Diese Bücher wurden dann dramatisiert, verfilmt und zu Hörspielen umgearbeitet, so dass jedes erfolgreiche Buch mindestens vierzig Millionen
Menschen erreichen konnte. Man hielt das allgemein für ein großes Glück, weil man nur auf diese Weise eine geeinigte Menschheit zu erreichen hoffen konnte.“ Eine alte Adlige entpuppt sich
als Kunsträuberin, die man leider nicht dafür belangen kann, weil sie die Rechnungen nicht aufgehoben hatte. „Wir werden nie erfahren, ob wir es mit Dieben zu tun hatten oder mit vornehmer
Aristokratie.“
An einer anderen Stelle heißt es: „Das war das Talent der Nazis, alle anständigen Menschen zu zwingen, sich ordinär zu benehmen, und sich selber als die Feinen hinzustellen.“
Die deutschen Protagonisten zeigen sich entweder als ehemaligen Nazi-Mitläufer, oder als
verprügelte und gefolterte Opfer, wenn sie nicht genügend wendehalsig waren. „Der Mensch will doch leben“ rechtfertigen sich die Mitläufer bis heute.
Die so genannten einfachen Leute waren entweder still vor lauter Angst oder vom pervertieren Heldenepos der Nazipropaganda verseucht.
"Wir wollten Frieden, wir wollten nur Ehre. Niemand wollte Krieg in Deutschland. Der Offizier ist nur ein Symbol des Opfers, zu dem wir immer bereit sein müssen.“ So erzählt es ein Berliner
Taxifahrer im Roman.
Die junge Maud macht im Laufe des Romans eine Entwicklung durch und erlebt in wenigen Monaten mehr und lernt mehr, als sie in den vergangenen 19 Jahren ihres Leben erfahren und gelernt hat. Und das
erzählt Tergit sehr glaubhaft, denn der anfangs eitle und selbstverliebte Tonfall der Icherzählerin verändert sich immer mehr und doch wird sie am Ende einen reichen jungen Amerikaner heiraten.
„Wir haben das modernste Flat in New York. Es hat nur künstliche Fenster, da es völlig air conditioned ist, von diesem Flat aus gesehen sieht es so aus, als ob alles in Ordnung ist, wenn nur alle
Knöpfe funktionieren.“
Gabriele Tergit schrieb diesen Roman in den 1950ern im englischen Exil unter ökonomisch schwierigen Bedingungen. Im Jahr 2000 war von Jens Brüning der Text in bereinigter Form herausgegeben worden. Im Nachwort der aktuellen Ausgabe verteidigt Nicole Henneberg sehr einleuchtend, warum diesmal das Originaltyposkript verwendet wurde, das mit vielen englischsprachigen Textpassagen vermischt ist (die im Glossar übersetzt wurden). So wirkt der sprachliche Sound besonders authentisch und wirkt nicht belehrend.
Ein beeindruckender Roman, den man dringend lesen sollte, auch weil er einiges auf den Punkt bringt, was auch heute noch nicht stimmt.
Im Impressum der Titelei steht noch der Zusatz „Der Roman enthält rassistische Sprache“.
In der Tat wirkt hier die Satire nur dadurch und würde man diese Sprache glätten, wäre der gesamte Roman völlig zerstört. Doch der Autorin Gabriele Tergit ist es absolut gelungen, diese satirische Tiefendimension des Textes zu transportieren, so dass der Leser es kritisch versteht.
Das etwas unglückliche Covermotiv von Getty Images zeigt eine typische junge Amerikanerin der 1950er Jahre. Auf der letzten Seite sehen wir über der Autorenvita noch ein Originalfoto der Autorin aus dem Archiv des 2011 verstorbenen Journalisten Jens Brüning der diesen Roman noch als Novelle betitelt im Jahr 2000 herausbrachte im Neues Berlin der Eulenspiegel-Verlagsgruppe.
17. April 23
Chamissimo
Von Sebastian Guhr
Erschienen 2022 im S. Marix Verlag
Nun war ich wirklich an der Schwelle der lichtreichsten Träume, die zu träumen ich kaum in
meinen Kinderjahren mich erkühnt, die mir im »Schlemihl« vorgeschwebt, die als Hoffnungen ins Auge zu fassen ich, zum Manne herangereift, mich nicht vermessen. Ich war wie die Braut, die, den
Myrtenkranz im Haare, dem Heißersehnten entgegensieht. Diese Zeit ist die des wahren Glückes; das Leben zahlt den ausgestellten Wechsel nur mit Abzug, und zu den hienieden Begünstigteren möchte der
zu rechnen sein, der da abgerufen wird, bevor die Welt die überschwengliche Poesie seiner Zukunft in die gemeine Prosa der Gegenwart übersetzt. So beschreibt Adalbert von Chamisso in seinem Buch „Reise um die Welt“ (1836, also zwei Jahre vor seinem Tod) seine Überfahrt von
Hamburg nach Kopenhagen, bevor er auf die Rurik ging und seine Weltreise antrat, die für ihn letztlich die Basis seines beruflichen Erfolges wurde. Wie es in Goethes Faust einmal so schön heißt:
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick. (Vers 11585 / fünfter Akt Faust II).
In den Revolutionswirren Frankreichs verlor Adelbert seine französische Heimat, das Schloss Boncourt wurde niedergebrannt und der verträumte Junge wurde Soldat in der preußischen Armee. Der 1983 in
Berlin geborene Autor Sebastian Guhr schildert das ganze Leben des Dichters und Naturforschers von seiner Kindheit auf Boncourt bis zu seinem beruflichen Erfolg in Berlin als Kurator und Mitglied der
Akademie der Wissenschaften. Guhr, der erstmals 2017 mit seiner Dystopie „Die Verbesserung unserer Träume“ (Luftschachtverlag) auf sich aufmerksam machte, erzählt mehr oder weniger konventionell,
chronologisch verlaufend und perspektivisch eng an der Person Adalberts. Einen kleinen Spaß erlaubt sich Guhr damit, dass er Schlemihls Grauen an entscheidenden Stellen immer wieder auftauchen lässt,
er damit Realität und Phantastisches miteinander verschmilzt. Aus einem verträumten aber auch neugierigen Kind wurde erst ein Dichter und dann ein Mykologe und Algenforscher. Sebastian Guhr schildert
den Weg dorthin sehr klar und entwirft ein lebendiges Bild dieser aufregenden Zeit des Vormärz. Zentrale Figuren deutscher Vorgeschichte tauchen auf, von einem Kurzauftritt Kleists, von einem sehr
lebendigen Bild E.T.A. Hoffmanns, dem besten Freund von Chamisso, fehlte mir eigentlich nur Fichte. Der Philosoph des Handelsstaates taucht zwar auf, aber (falls ich es nicht überlesen habe) nicht
seine Rolle als väterlicher Freund, wie ihn Chamisso selbst in seiner Reise um die Welt bezeichnete. Guhr arbeitet den warmherzigen Charakter von Chamisso sehr anschaulich heraus, seine
liberale Haltung, sein Antirassismus; gerade weil sein Charakter nicht ideologisch verbrämt ist, sondern authentisch und aufrichtig.
Es gibt eine Kurzgeschichte von Olga Tokarczuk (Peter Dieter), in der sie schildert, wie ein Mann noch einmal sein Herkunftsland in den Westkarpaten besucht, dort am Gipfel mit einem Bein
auf der tschechischen mit dem anderen Bein auf der polnischen Seite verstirbt. Die tschechischen Grenzer finden die Leiche und schieben sie (weil sie keine Arbeit haben wollen mit der Leiche) ganz
auf die polnische Seite, später finden die polnischen Grenzer die Leiche und schieben sie – aus dem gleichen Grund - auf die tschechische Seite. Zwei Paar hölzerne Soldaten tragen Peter Dieters
hölzernen Körper bis in die Unendlichkeit von einer Seite auf die andere. So ihr Schlusssatz in der beeindruckenden Kurzgeschichte. Das verweist auch in ihrer Parabel auf Chamisso, der zwei
Nationen in sich trug und so zum Europäer wurde, dennoch stets hin und her schwankte. Die Weltereignisse vom Jahre 1813 (Befreiungskriege, A. d. A.), an denen ich nicht tätigen Anteil
nehmen durfte – ich hatte ja kein Vaterland mehr oder noch kein Vaterland –, zerrissen mich wiederholt vielfältig, ohne mich von meiner Bahn abzulenken. Es ist daher auch das überzeitliche
Thema des Romans der Dichter als Brückenbauer. Als Chamisso beschließt, auf Hawaii zu bleiben verweist das schon früh auf spätere Aussteiger-Phantasien. Später im Trott seines beruflichen Aufstieges
mit viel bürokratischer Arbeit, bedauert Chamisso ein wenig, dass er sich hat überreden lassen, wieder auf die Rurik zu gehen und vermeintlich nach Hause zu segeln.
Weiter lässt Sebastian Guhr nicht aus, die industrielle Revolution zu schildern, die durch die Dampfmaschine letztlich den modernen Kapitalismus von England nach Europa brachte. Revolutionen prägten
das Leben von Adalbert von Chamisso. Und zwischen den sich bekämpfenden Nationen und Gesinnungen, prägten ihn vor allem die Freundschaften zu Hitzig, Varnhagen, Hoffmann. Seine Liebe zur Hitzigs
Pflegetochter Antonie Piaste. Chamisso folgte ihr nur ein Jahr später in den Tod.
Eine schöne Stelle aus seinem Buch Reise um die Welt möchte ich hier noch zitieren, weil sie auch ein Befund ist, der aufzeigt, wie wichtig migrierender Intellekt für eine Nation (egal welche) ist:
Ich finde in einem Briefe, den ich aus Brasilien nach Berlin schrieb, eine Entdeckung verzeichnet, die kaum in eine Reisebeschreibung gehören mag, die ich jedoch hier einbuchen will, weil es mir neckisch vorkommt, daß grade ein geborener Franzose um die Welt reisen mußte, um sie fernher den Deutschen zu verkünden. Ich habe nämlich auf der Fahrt nach Brasilien in der »Braut von Korinth«, einem der vollendetsten Gedichte Goethes, einem der Juwelen der deutschen und europäischen Literatur, entdeckt, daß der vierte Vers der vierten Strophe einen Fuß zuviel hat!
Daß er angekleidet sich aufs Bette legt.
Ich habe seither keinen Deutschen, weder Dichter noch Kritiker, angetroffen, der selbst die Entdeckung gemacht hätte; ich habe Kommentare über die »Braut von Korinth«, vergötternde und schimpfende, gelesen und darin keine Bemerkung über den angeführten überzähligen Fuß gefunden. – Die Deutschen geben sich oft so viel Mühe, von Dingen zu reden, die sie sich zu studieren so wenig Mühe geben! –
Insgesamt hat Sebastian Guhr einen unterhaltsamen, leicht und flüssig zu lesenden Roman geschrieben, der sehr nah an der Lebensgeschichte seines Protagonisten liegt und ein erhellendes Licht auf diese spannende Epoche wirft. Bedenkt man, dass E.T.A. Hoffmann in Königsberg Vorlesungen von Immanuel Kant anhörte, bedenkt man den herrlichen Auftritt von Jean Paul, der nicht nur mit seiner komplexen Literatur eine Bereicherung war, sondern als herausragender Psychologe den Beginn des 20. Jahrhunderts (Phänomenologie) vorwegnimmt. Bedenkt man, dass aus all diesen Geistesgrößen letztlich 1848 hervorging. Auch Turnvater Jahn und seine krude Ideologie wird von Guhr herrlich eingebaut und der in jeder Revolution und jeder Solidaritätsbekundung als Gefahr mitschwingende Nationalismus aufs Korn genommen. Der Humanismus von Chamisso ist daher so bemerkenswert, weil er kein aggressiver Humanismus ist, sondern Humanismus mit dem Herzen viel mehr, als mit dem Verstand.
Ein halbes Hundert mir entrauschter Jahre
Hat nicht mein Herz berührt, nur meine Haare.
(Adalbert von Chamisso 1831)
15. März 23
Die Zukunft der Schönheit
Von F.C. Delius
Erschienen 2018 im Verlag Rowohlt
Aufsteigend aus der Tiefe des Musiktraums, erinnerte sie sich, wie kindisch sie noch war, als sie Walter schon liebte. …Wie große Regentropfen klatschte sein Gefühl in die Tasten. Sie erriet sofort, woran er dachte: das Kind. Sie wußte, daß er sie mit einem Kind an sich anbinden wollte. Das war ihr Streit alle Tage. Und die Musik hielt keinen Augenblick still, die Musik kannte kein Nein. Wie ein Netz, dessen Umgarnung sie nicht bemerkt hatte, zog sich das rasend schnell zusammen. Da sprang Clarisse mitten im Spiel auf und schlug das Klavier zu, so daß Walter kaum die Finger retten konnte. (aus Kapitel 38 MoE, Band I, Robert Musil).
Im Gegensatz zu Clarisse in dem berühmten Roman von Musil hält Delius die Energie der Musik
aus (Die Wahrheit marschierte, es war unerträglich, die Töne marschierten, unerträglich, und doch öffnete ich alle meine Sinne für diese schräge Musik, der Wind wechselte). Walter in Musils
Roman spielte Wagner. Vor hundert Jahren war das der Donnerknall der Musik und aus der Literaturgeschichte ist die Wirkung Wagners kaum wegzudenken. Das Verhältnis von Jazz zur Literatur ist
mindestens so facettenreich. Inszenierung und Imitation von Musik hin zu einer Wortmusik kennen wir verstärkt aus der Lyrik, die ja intermedial viel stärker als die Prosa mit Musik verknüpft ist. In
der Prosa sind Rhythmen, Stimmungen und Polyphonien erst mit der berühmten Kopfkamera des inneren Monologs (Joyce) hervorgetreten. Hervorzuheben im deutschen Sprachraum ist sicher Wolfgang
Koeppen der die Evokation durch Musik in seiner Synkretismus-Poetik vielfach verarbeitete, Aus der Kirche, aus ihren noch nicht wieder eingesetzten Fenstern grollte unter den Händen des übenden
Organisten die Orgel, erhob sich das Stabatmater. Stormy-Weather: die Musik der Kinoorgel wehte, wogte, bebte und rasselte. Sie wehte, wogte, bebte und rasselte aus allen Lautsprecher.(Tauben im
Gras, wo Koeppen quasi das Great American Songbook durchzitiert).
Oder denken wir an Adornos Kritik an der modernen Musik als Warenhauskultur (Aufklärung als Massenbetrug). Laut und emotional rührt diese Musik an unseren niederen Instinkten. Doch damit
bricht der Free-Jazz. Schließlich sind seine Dissonanzen und strukturell eingewobenen formalen Zitate eher einer Scherzkultur entsprungen, als einer Warenhauskultur. Miles Davis sagte einmal über
seinen Konkurrenten Ornette Coleman, dass dessen Spiel respektlos sei gegenüber denen, die ihre Instrumente beherrschen. Und in der Tat! In Colemans letzter Scheibe Sound of Grammar spielt Coleman
Geige, er spielt viel Geige. Dabei so genial schlecht, dass man aufspringen und „Chapeau“ rufen will auf dass das Geigen nie enden möge. Auch in der Literatur ist die Geige manchmal ein disruptives
Instrument.
Der Stotterer und Meister des Understatements setzte sich in dieser Erzählung mit einem inzwischen berühmt gewordenen Konzert in NYC auseinander. In seinen improvisierten Absätzen entführt er uns in Slugs' Saloon, einen Jazzclub in der 242 East 3rd Street, zwischen Avenue B und C im East Village von Manhattan, der von Mitte der 1960er bis 1972 in Betrieb war. Die Location in einem damals heruntergekommenen Teil von New York City beherbergte zunächst ein ukrainisches Restaurant und eine Bar, später eine Bar, die als Treffpunkt für Drogendealer diente. 1964 eröffneten Robert Schoenholt und Jerry Schultz diesen Club und nannten es zunächst "Slugs' Saloon", wobei die "Slugs" (Schnecken) eine Anspielung war auf die "dreizentrierten Wesen" und "irdischen dreihirnigen Wesen" aus dem Buch Beelzebubs Geschichten an seinen Enkel von George Gurdjieff, einem russisch-armenischen Mystiker der darin einen vierten Weg der Erkenntnis beschrieb(1924 erschienen). Aufgrund der Vorschriften von New York City musste das Wort "Saloon" aus dem Namen gestrichen werden. Der Veranstaltungsort wurde aufgrund seiner östlichen Lage im East Village "Slugs 'in the Far East" genannt. Der Innenraum des Clubs war länger als breit und der Musikpavillon ganz hinten. Die Bar befand sich auf der linken Seite, wenn man den Veranstaltungsort betrat. Sun Ra, Ornette Coleman, Ronny Rollins und andere Berühmtheiten traten dort als Musiker auf. Am 19. Februar 1972 wurde der Musiker Lee Morgan im Slugs von seiner Ehefrau Helen Moore erschossen, dies und durch immer mehr städtische Unruhen führten schließlich zur Schließung der Bar. Albert Aylers Leiche fand man schon zwei Jahre früher im November 1970 am East River. Angeblich hatte er Suizid begannen, zuvor sein Saxophon in den Fernseher geworfen. Ein letzter disruptiver Befreiungsschlag. Nach einer anderen Theorie wurde er ganz simpel von Drogendealern ermordet, denen er noch Geld schuldete. Ayler wurde 34 Jahre alt.
Eingewoben in die Textimpros hat Delius dabei seine eigene Entwicklungsgeschichte als junger
Autor. Von seinem Vater, dem Kissenwerfer, in den Zustand des Schreibenden geworfen, von unerfüllter Liebessehnsucht und vom Glück der Erfüllung, von Dissonanzen und klaren Linien die irgendwie
gleichzeitig mit der Idee des Free-Jazz verknüpft sind, von Krieg in Vietnam, vom Vater als Kriegsheimkehrer, von alten Nazis in Kohrbach, von den Leiden des jungen D. im ältesten Gymnasium Hessens,
und wieder der Bogen zur Musik, zur Befreiung durch Zersetzung. Die Vergangenheit gehört ins Feuer… was war schon die Herkunft gegen die Zukunft – beschreibt es Delius. Das kehlige,
zupackende Saxophon, …mit seinen jagenden Läufen vermischt sich tonal mit den Erinnerungen an Choräle und Katechismen des damals noch jungen Autors. So ist die Anordnung eines erzählenden Ichs
von einem jungen Ich das sich wiederum erinnert an ein noch jüngeres Ich schon an sich raffiniert. Und trotz (oder gerade aufgrund) der strukturellen, assoziativen Anordnung des Textes lassen wir uns
beim Lesen tragen, sind mit Delius im Slugs und hören die quietschende Geige und das aufheulende, kratzende Saxophon wenn die Band der Aylers Initiation spielt oder When the Saints go marching
in zerstört und doch neu macht. Transmutationen, überall bricht das Alte ab und das Neue auf. Diese Zukunft, diese Affirmation spiegelt die 68-Generation weit mehr, als ein bekifft am Boden
liegender Allen Ginsberg, dessen Beats vom Free-Jazz längst zerlegt und dekonstruiert waren.
Der junge, werdende Autor der sich auf dem elektrischen Stuhl der Gruppe 47 präsentieren muss, wo gerade Die Glasglocke von Sylvia Plath (1963) erschienen war, der mit dem elektrischen
Stuhl beginnt, der dem Ehepaar Rosenberg wegen Spionage drohte. Elektrifizierung auch durch Handkes Startschuss der Pop-Literatur (I Am The Greatest Poet Of All People, damn), dessen unterirdischer
Gipfel zuletzt im Römer mit einem Haarschnitt vollendet wurde. Es gehört zum Understatement des Autors Delius, dass er sich nicht in die Reihe dieser Großen stellt, sich eher wundert und verstört auf
die astrologische Weissagung seiner Tante reagiert. Delius spricht vom Tabuwort Glück, das war verdächtig. Der Leidende ist wahrer und wahrhaft leidend entwurzelt uns der Aylersche
Free-Jazz, befreit uns von den traditionellen Klängen, den Harmonien, den Schlagern, den Kriege huldigenden Märschen.
Es ist eine Menge in dieser Erzählung, fast schon zu viel und doch erscheint es nicht pompös, nicht aufgeladen. Aufgeladen vielleicht nur im Sinne der Energie, die im Slugs pulst. Und die drei
Weißbrote in East Village hören das Hämmern, Klagen und Schreien sterbender Soldaten. Und gleichzeitig den Aufbruch der Freiheit.
28. Februar 2023
Armand
Von Emmanuel Bove
Übersetzt von Peter Handke
Emmanuel Bove kam 1898 in Paris zur Welt. Sein Vater Bobovnikoff floh aus Russland. Der
Legende nach soll er ein wichtiges Mitglied der anarchistischen Bewegung gewesen sein und vor der zaristischen Polizei geflohen; wahrscheinlicher ist, dass er aufgrund der zahlreichen Pogrome nach
dem Attentat auf Zar Alexander II, das man den Juden unterstellte, aus Russland floh. Er kam ein Jahr vor Emmanuels Geburt in Paris an und hatte während seiner Flucht Deutsch gelernt, da er
Deutschland zu Fuß durchquerte. So lernte er Henriette Michels kennen, Emmanuels Mutter, eine deutschsprachige Luxemburgerin. Emmanuel wuchs in großer Armut auf, immer wieder mussten sie die Wohnung
wechseln, weil sein Vater die Miete nicht bezahlen konnte. Doch dann lernt sein Vater Emily Overweg kennen, eine reiche Engländerin. Emmanuel lebt nun abwechselnd bei ihr und bei seiner Mutter. Emily
ist Kunstmalerin und hat ein Atelier in der Rue Campagne-Premiere, ein Domizil für Künstler und Schriftsteller. Emmanuel lernt nun Tennis und Golf spielen, wird vertraut mit den literarischen Größen
Frankreichs. Mit dem Kriegsausbruch verliert Emily ihr gesamtes Geld, ihre Konten werden gesperrt und sie kann sich nicht mehr um Emmanuel kümmern, muss ihren eigenen Sohn durchbringen. Emmanuel
schlägt sich nun als Tellerwäscher, Kellner, Straßenbahnschaffner und Hilfsarbeiter bei Renault durch. Seine ersten literarischen Arbeiten entstehen nach dem Militärdienst Anfang der 1920er in Tulln
in Österreich. Dort lebte er einige Jahre mit seiner ersten Frau Suzanne Vallois. Meine Freunde (ebenfalls von Peter Handke übersetzt) wurde ein überraschender Erfolg. Präziser Stil mit
größter Verknappung, kein überflüssiges Gramm Wort: „Wenn ich aufwache, steht mir der Mund offen. Meine Zähne sind belegt: es wäre besser, sie am Abend zu putzen, aber das bringe ich nicht über
mich. In meinen Augen eingetrocknete Tränen. Die Schultern tun mir nicht mehr weh. Ein Haarschwall bedeckt meine Stirn. Mit gespreizten Fingern streiche ich ihn zurück. Ohne Erfolg: wie die Seite
eines neuen Buches richtet er sich auf und fällt mir wieder über die Augen.“
Man verglich Bove mit Proust und Dotojewski. In einer Kritik hieß es: Der ganze Schmerz unseres Lebens, dieser Schmerz, den wir nicht immer wahrnehmen und den wir zu ersticken suchen, doch
der am Ende immer siegt, ist in diesem großartigen Buch enthalten.“ Der Roman Meine Freunde handelt von einem Kriegsinvaliden, der verzweifelt Freunde sucht und immer wieder scheitert,
dabei lernt er auf seinen Streifzügen Prostituierte, einen lebensmüden Matrosen etc. kennen.
Im Jahr 1922 kehrt er wieder zurück nach Paris. 1925 entstand Armand. Samuel Beckett zählte zu seinen größten Verehrern, Rilke ebenfalls. Bove war starker Raucher (100 Zigaretten
am Tag) In den 1930ern verschlechtert sich sein Gesundheitszustand immer mehr. Hinzu kommt die Weltwirtschaftskrise, der Kriegsausbruch. Im März 1940 wird Bove in eine Gießerei zur Kriegsproduktion
eingezogen. Die schwere Arbeit schwächt seinen Gesundheitszustand weiter. 1942 verläßt Bove mit seiner zweiten Frau Louise Ottensooser die erdrückenden Zustände in Paris und flieht nach Algier.
Danach gerät er in Vergessenheit. Als er wieder nach Frankreich zurückkehrt, ist er bereits schwer krank und als Autor nicht mehr angesagt.
Am 13. Juli 1945 stellt Docteur Louis Pictet in der Pariser Avenue des Ternes, Haus Nummer 59, einen Totenschein aus: „Monsieur Emmanuel Bove verstarb heute Morgen gegen 8 Uhr an Auszehrung und Herzversagen, das durch eine Serie äußerst heftiger Sumpffieberanfälle herbeigeführt wurde.“ Der Tote ist 47 Jahre alt und wird auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.
Es war Mittag. In der Kälte erschien die Sonne kleiner. …Meine Aufmerksamkeit war wie jene
der Kinde: sie richtete sich auf alles, was sich bewegte.
So beginnt der Roman Armand, in dem der Titel gebende Held auf einen alten Kriegskameraden trifft (Lucien) und
dies verändert sein Leben zu seinem Nachteil. Die Wechselhaftigkeit des Schicksals spiegelt auch das Leben des Autors wider. Die Straßen waren leer. Das Sonnenlicht in ihnen verblaßte, ohne aber
zu verschwinden….Ich nahm dann die Straße, die abwärts führte. Kinder spielten da Ball, die kleineren weiter oben, die größeren weiter unten, damit beide die gleichen Chancen hätten. So
verschränken sich Anfang und Ende des Romans.
Die Klarheit der Sprache, die Genauigkeit und Präzession der Beobachtung. All das liegt auch Peter Handke. Ihm und Samuel Beckett ist es auch zu verdanken, dass er allmählich wieder entdeckt
wurde. Ein Schriftsteller ohne Ideologie, dessen literarische Hauptaufgabe es war, ohne große Töne auszukommen.
Ich habe oft bemerkt, dass man sehr schnell aus dem Auge verliert, was es an Armseligem birgt. Aber merkwürdig – man meint dann, die Leute würden nicht dieselbe Entwicklung durchmachen wie man
selbst, sie würden nicht auf die oberflächlichen, plötzlich auftauchenden Veränderungen hereinfallen. Das Gegenteil ist der Fall. Doch geht es nicht allein um die Leute. Es geht auch um den
Staatskörper, die Justiz, um alles. Man bemerkt dann, dass auf dieser Welt alles oberflächlich ist. Diese Sätze schrieb Bove kurze Zeit vor dem Ausbruch des Krieges. Er lebte zu dieser Zeit in
Cap-Ferret, einer Halbinsel im Südwesten Frankreichs. Und in Meine Freunde heißt es einmal: „Seltsam wie alles weiter geht, ohne einen selbst.“
Ich hatte den Roman Armand schon lange im Bücherregal stehen, hatte ihn irgendwann mal auf meinen Streifzügen durch moderne Antiquariate erstanden und das Lesen vertagt. Letztes Jahr musste ich dann für ein paar Monate meine Habseligkeiten in einem Selfstorage unterbringen. Das Durcheinander brachte mir dann den kleinen Roman wieder unter die Finger. Ich hatte ihn vergessen und nun las ich ihn ohne auch nur eine Pause einzulegen durch. In der Beschäftigung mit einem Autor, der ein Schattendasein führte (Ein Leben wie ein Schatten lautet der Titel der Bove-Biografie von Raymond Cousse und Jean-Luc Bitton) und dann diese vielen Anspielungen auf Licht und Schatten in dem Text selbst: Ein Taxi, beleuchtet wie ein Fiaker, fuhr an mir vorbei…Wir traten hinaus auf die Straße. Die Finsternis ließ mich mit den Augen zwinkern, wo wie zuvor das Licht…Die feuchten Gehsteige, schwarz wie neu, glänzten, mit weißen Steinchen dazwischen. Unauffällig, wie nebenbei erwähnt, überall auffindbar, in allen Beobachtungen finden sich diese Details einer wahren Farbenlehre.
Gegenüber den vielen sprachlichen Grobheiten die der Literaturmarkt heutzutage ausspuckt und anpreist, steht dieses schmale Buch wunderbar glänzend da, ohne zu blenden, ohne blenden zu wollen. Wenn Prosa und Poesie sich treffen in den Streifen von Sonnenlicht, das durch Rollos fällt und wie hinein geblasener Zigarettenrauch darin wieder abziehen.
Sorry, diese kleine Rauchermetapher war ich dem Kettenraucher Bove schuldig.
15. Februar 2023
Das glückliche Geheimnis
Von Arno Geiger
Erschienen 2023 im Verlag Hanser
Es ist nun das dritte Buch das ich von Arno Geiger gelesen habe. Der alte König in seinem
Exil und Unter der Drachenwand. Der Vorarlberger gelernte Philologe ist vier Jahre jünger als ich. In unserem Alter (über 50) sind vier Jahre ein Klacks, solange der Körper mitspielt.
Er schrieb eine Autobiografie. Und da sind dann vier Jahre wieder grundlegend für enorme Differenzen. Denn Arno Geiger gehört bereits zur Generation X, während ich noch in die Babyboomer-Generation
falle. Und die Generation X will gut verdienen und einen sicheren Arbeitsplatz, glaubt man der Wirtschaftswoche. Zentrales Thema von Geigers Leben scheint daher immer durch. Der Erfolg ist für ihn
ein Mittel zum Zweck für ein abgesichertes Leben. Dann kann er „hit the bottom“. Ohne Existenzangst. Diese Existenzangst durchzieht den ganzen Text. Dabei aber geht es nicht um Armut und Elend,
sondern um das Versagen. Die Grundlage von Geigers Autobiografie ist damit sein Gefühl, nicht versagt zu haben. Nun kann er sich im gesetzten Alter ein paar Lebensweisheiten leisten. Nicht, dass ich
dabei seine Erkenntnisse nicht auch genossen hätte. Ich habe einiges angestrichen und auch einiges wieder erkannt, was mich umtrieb oder sogar umtreibt. Daher war der Text für mich schon auch eine
willkommene Leichtigkeit. Und natürlich ist es legitim, seine Erfolge aufzuzählen in einer Autobiografie und es ist legitim, das eigene Weltbild darzustellen. Der Mehrwert von Autobiografien ist
immer die Zeitzeugenschaft. Und da waren es nur Andeutungen. Gegen Ende des Buches auf Seite 190 heißt es: „Früher hatten die Menschen, wenn sie besoffen waren, Karten gespielt und gesungen.
Heute saßen sie besoffen vor dem Fernseher.“
Also ich denke, Karten gespielt und gesungen wird immer noch, und der Fernseher läuft nicht immer. Wird mehr gesoffen? Tatsächlich ist der Alkoholkonsum seit den 1990ern wieder erheblich angestiegen.
Aber in den 1960ern und 1970ern war er so hoch, dass in dieser Zeit das Fernsehen regelrecht erfunden wurde. Heute läuft der Fernseher kaum noch. Streamingdienste haben ihn abgelöst. Nun. Ich
analysiere das nur mal so nebenbei, um damit klarzustellen, dass Arno Geiger auch ein wenig platt ist. Er zehrt von seinem guten Namen. Das ist auch nicht schlimm. Einiges war wirklich ein Genuss. So
auf Seite 177, als er über den Schlaganfall seiner Mutter und deren Verstummen schreibt: „Es war beklemmend, auf so brutale Art daran erinnert zu werden, dass wir nur ein Gelegenheitsbündnis mit der
Sprache eingehen und dass dieses ohnehin unzuverlässige Bündnis von heute auf morgen einseitig gekündigt werden kann.“
Wie fragil dieses Leben doch ist. „Das Leben ist eine Zumutung“, schreibt Geiger, als er über seinen Freund Werner nachdenkt, der auch schon tot ist. Es ist dieses Alter, wo man mit dem Tod zunehmend
konfrontiert wird, weil die Eltern sterben. Gerne hätte ich mehr über den Literaturbetrieb erfahren und weniger Statistik darüber, wie oft er mit K. geschlafen hat. Geigers Paranoia, seine Ängste
waren vielversprechend. Im Ansatz war dieser drohende Verlust der eigenen Persönlichkeit (Depersonalisation nennt es die Psychiatrie) spannend. Aber es lief ja dann alles wunderbar. Geigers
Streifzüge durch den Müll (der Aufhänger seiner Autobiografie) sind dann auch die besten Passagen. Ich bekam dabei selber Lust, mich auf den Weg zu machen, etwas zu entdecken, das andere wegwerfen.
Vor ein paar Monaten hatte ich selbst eine Reinigungsaktion und war oft auf dem Wertstoffhof. Ein skurriler Name für den Rest, den wir zurücklassen. Der Widerspruch sticht einen geradezu. Das
glückliche Geheimnis hatte damit auch einen für mich glücklichen Lesemoment. Aber Lebensbilanzen sind keine reale Zahl. Zu viele Stellen hinter dem Komma. Sie sind privat und die Ehrlichkeit, die
Geiger erwähnt (Aufrichtigkeit sei die Quelle aller Gedanken, Seite 132) ist eine Illusion. Was wir vielleicht hinbekommen, ist Fairness in den Fehlurteilen über uns und andere. Denn mit der
Ehrlichkeit ist das so eine Sache. Dazu braucht man auch das nötige Bewusstsein. Es reicht nicht, zu sagen, dass man hier und dort auch falsch lag. Es reicht nicht, wenn man seine Fehler einsieht. Es
ist viel entscheidender, dass man die Fehler die man immer noch macht und für richtig verkauft erkennt. Ehrlichkeit ist – wenn sie sich der Wahrheit wirklich stellt – unschön. Nicht wirklich
literarisch. Ehrlichkeit ist auch bigott, ambig. Sich zu bekennen ist ein altes Projekt. Schon Rosseau hat in seiner Autobiografie als zentrale Motivation das Bekenntnis vorangestellt
in Anlehnung an Augustinus. Goethe war insofern ehrlicher, als er seine Autobiografie Dichtung und Wahrheit nannte. Vor allem Schriftsteller – das immerhin hat Geiger ja auch selbst
eingeräumt – sind mimetisch unterwegs. Wirkung ist wichtig. Ehrlichkeit die auf Wirkung abzielt, ist bigott. Bekenntnis überlässt sich hier dem Urteil des Richters. Hier stehe ich, und konnte
offenbar nicht anders. Aber auch Luther hätte jederzeit anders gekonnt, wenn er gewollt hätte. Schön ist von Geiger die Zufälligkeit, dieses von Gelegenheiten geprägte Leben dargestellt.
Der unsichtbare Müll sammelnde Geiger wird hier sichtbar. Der sichtbare Romane schreibende Geiger verschwindet hinter seinen Buchtiteln. Seine sanfte Kritik an der Arbeitsteiligkeit und der
Werthaltigkeit von Berufsbezeichnungen hinter der die polyvoke Persönlichkeit von Menschen und all ihre sozialen Rollen reduziert werden – nun gut. Ja. Stimmt schon. Kratzt halt nur die
Oberfläche. Für jemanden, der so tief in Mülltonnen kriecht würde vermutlich die Zielgruppe zu klein werden, wenn er alle Geheimnisse verraten würde. Es bleibt auf charmante Art an der Oberfläche.
Wir werden als Leser nicht in den Müll mit hineingezogen. Für uns Leser bleibt es schön sauber. Geiger hat sich die Hände gewaschen, bevor er sich für diesen Text an die Schreibmaschine
setzte.
Wie auch immer. Habs gern gelesen. Sympathisch, manches erinnerte mich an mein eigenes Erleben als Autor. In meiner Autobiografie wird es allerdings dann erfolgloser zugehen. Insofern spendete es mir Trost wenn Geiger schreibt: „Außenseiter sein hat auch sein Gutes. Wenn man auf der Straße steht, kein Ansehen hat in einem tieferen Sinn, nicht beachtet, nicht gesehen wird, nicht anwesend ist: wie schön.“ (Seite 190)
Aufmerksamkeit ist die Ressource unserer Zeit. Es bedeutet in der Tat, dass Verzicht auf Aufmerksamkeit ein glückliches Diäterlebnis evoziert. Es gibt allerdings – leider? Gott sei Dank? – eine Menge Menschen, für die ist so eine Diät nicht freiwillig. Bene qui latuit, bene vixit. Allerdings: Als Horaz das schrieb, hatte ihn Kaiser Augustus schon auf eine entfernte Insel abgeschoben. Daher kann das nur ironisch gemeint gewesen sein.
27. Januar 2023
Doppelleben
Von Alain Claude Sulzer
Erschienen 2022 im Verlag Galiani Berlin
„Geschichte“, schrieben die Brüder einmal in ihrem Buch Ideen und Gefühle (einer
Sammlung von Maximen und Kunstauffassungen) „ist ein Roman der stattgefunden hat, der Roman ist Geschichte wie sie hätte sein können.“
Hätte es so sein können, wie der Schriftsteller und gelernte Bibliothekar Alain Claude Sulzer es schildert? Im Falle des Dienstmädchens Rose Malingre und deren tragischem Fall, hält sich Sulzer an
den Roman Germinie Lacerteux aus dem Jahr 1865. Der ältere Bruder Edmond hat diesen Roman dramatisiert und er wurde dann 1889 im Odeon im 6. Arrondissement am linken Seine-Ufer
uraufgeführt. Da die Brüder Verfechter des aufkommenden Naturalismus waren, einer Kunstrichtung die sich der exakten, ungeschönten Beobachtung von Mensch und Natur verschrieben hatte, kann man wohl
davon ausgehen, dass Sulzers Quelle ein realistisches Bild lieferte. Auch die Tagebücher der Brüder dienten dem Schweizer Autor als Grundlage. So ist die Schilderung der Neurolues, an der Jules
bereits mit 39 Jahren verstarb in all seinen schillernden Symptomen ernst zu nehmen. Die Quellen sind daher unstrittig. Die literarische Umsetzung in eine moderne Erzählsprache ist Sulzer aber auch
gelungen. Doch eines ist dabei schwierig. Bei den Quellen, den originalen Texten der Brüder Goncourt handelte es sich um eigenständige literarische Leistung. Insofern hat mich das kleine, kursiv
gedruckte Nachwort ein wenig geärgert. So, wie sich die Brüder Goncourt die Freiheit herausnahmen, das Leben ihrer Magd Rose Malingre in einem Roman nachzubilden… habe ich mir erlaubt, einige
Episoden aus dem Leben der beiden Unzertrennlichen zu einer Erzählung zu verdichen…
Das ist nicht korrekt. Denn die Brüder Edmond und Jules hatten keine literarischen Vorlagen.
Vielmehr mussten sie selbst alles recherchieren und die Freiheit die sich Sulzer dabei nahm, war es eher kreativ abzuschreiben. Ich will das gar nicht schmälern, denn es war mit viel Genuss zu lesen
und in jedem Fall steckt viel Fleiß und auch viel selbstständiges Formulieren in dem Buch von Sulzer. Aber es ist doch ein erheblicher Unterschied darin, sich an schriftlichen Quellen zu orientieren,
anstatt alles ohne existierende Vorlagen aufzuschreiben. Ein großes Glück, dass die beiden Brüder das so brillant taten. Und sicher ein Glück, dass Sulzer diese Arbeiten neu entdeckte und für uns
aufbereitet hat.
Nebenbei: Edmond stiftete keinen Literaturpreis, sondern gründete eine Akademie. Schon 1874 beschloss Edmond in einem zunächst geheimen Testament, mit seinem Vermögen eine zehnköpfige Akademie zu
stiften, deren Auftrag nicht zuletzt darin bestand, 20 Jahre nach seinem Tod das Journal ungekürzt herauszugeben. Mitglieder sollten nur Autoren sein dürfen, die nicht der Académie
Française angehörten. Erst viele Jahre später im Jahr 1903 haben die Mitglieder dieser Akademie dann beschlossen einen Literaturpreis zu vergeben, der jeden Herbst einen neu erschienenen
französischsprachigen Roman auszeichnen soll: der jetzige Prix Goncourt, der sich zum begehrtesten und werbewirksamsten der zahlreichen französischen Literaturpreise entwickelt hat.
Erschütternd war zu lesen, wie die langjährige Bedienstete der Brüder allmählich in einen Strudel des moralischen Verfalls geriet. Das Doppelleben bekommt hier eine homonyme Bedeutung, da Rose in
sich gedoppelt war. Denn trotz ihrer offensichtlich unmoralischen Handlungen, blieb sie bis zum Schluss auch eine Heilige. Sie tat es aus Liebe. Alles tat sie aus Liebe. Sie umsorgte die Brüder
aufrichtig bis zu ihrem Ende. Und dass sie sich an deren Kasse bediente, um ihren unerträglichen Geliebten Alexandre Colmant immer wieder mit Geld zu unterstützen, verzeiht man ihr. Denn der
eigentliche Bösewicht war ja Alexandre, der nicht liebte.
Die zentralen Fäden des Romans sind die Verfallsgeschichten von Rose und Jules. Hier ist der Roman auch am stärksten. Auch wenn die Schilderungen der exaltierten Mathilde Bonaparte oder den
dekadenten und beleibten Plon Plon (Sohn von Napoleon III.) herrlich zu lesen sind, fehlte ein wenig der Zusammenhang. Der Aufmacher mit der dramatischen Kutschfahrt war dann ein Faden der
nicht mehr weiter verfolgt wurde. So waren zwischen den zentralen Motiven des seelischen und körperlichen Verfalls von Rose und Jules einige Abschnitte wie Stuckaturen eingewebt. Sie hatten natürlich
den Zweck, die gesellschaftliche Diskrepanz zwischen dem Leben der Brüder Goncourt und ihrem Dienstmädchen zu illustrieren. Diese zeigte sich eklatant in der von den Brüdern nicht bemerkten
Schwangerschaft von Rose. Solche Geschichten heimlich ausgetragener Kinder wird es in dieser Zeit viele gegeben haben. Dieses Gretchen-Motiv dürfte wohl auch den besonderen Skandal befeuert haben,
den Germinie Lacerteux in den 1860ern ausgelöst hatte. Erinnern wir uns nur an die Geschichte des Gynäkologen und Don Juan Samuel Pozzi (1846 – 1918), die uns Julian Barnes in
seinem Mann im roten Rock lieferte.
Stéphan Mallarmé soll – laut dem Journal von Edmund Goncourt – verkündet haben, dass
man einen Satz nicht mit einem einsilbigen Wort beginnen dürfe. Goncourt kritisierte den Lyriker daraufhin heftig. Goncourt spottete über „diese Suche nach kleinen Schnitzern“, denn das würde
letztlich von allem „Wichtigen, Großen, Bewegenden, das einem Buch Leben verleiht“ nicht nur ablenken, sondern sogar abstumpfen. Die Differenz zwischen dem feinsinnigen, winzigen Satzmesserchen und
dem großen, monströsen Geschichtsfleischermesser ist selbst eine Anomalie. Denn beides zählt. Manchmal kann so ein „kleiner Schnitzer“ alles ruinieren, manchmal kann so ein „kleiner Schnitzer“ alles
retten.
Im Falle dieses Romans von Sulzer haben mich die vielen Froschschenkel erst gestört. Doch bald offenbart sich der Sinn dieser kulinarischen Exzesse, einmal in der mäßigen Kochkunst von Rose, die den
Brüdern dann regelrecht fehlt und zum Ende in dem Huhn Blanche, das Edmond köpft und das dann so zäh schmeckt, dass Edmond voll Trauer darüber ist, sein ihm lieb gewordenes Huhn getötet zu
haben.
Insgesamt habe ich das Buch also sehr genossen. Und so ist es mir auch gleichgültig, wie viel davon Sulzer ab- und wie viel um- und wie viel er dazugeschrieben hat. Aus den Präfixen zusammen wird dann ein Schuh. Denn es war einfach berührend und mir wird sowohl Ros Malingre, als auch Jules Goncourds tragisches Sterben in Erinnerung bleiben. So habe ich dank Sulzer einen ganz neuen, ganz sinnlichen Zugang zu den so vergangenen Brüdern gewonnen.
18. Januar 2023
Papierschiffchen in der Wüste
Von Ayşegül Çelik
aus dem Türkischen
und mit einem Nachwort von Sabine Adatepe
erschienen 2022 in der Edition Converso
Der persische Vogel Simurg ist der König der Vögel. Und er hat übernatürliche Kräfte. Er kam
nicht im Geburtsweg zur Welt. Der persische Dichter Ferdusi (940 – 1020) beschrieb in einem Gedicht detailliert einen Kaiserschnitt (Er spalte die Weiche der schlanken Zypress', / Empfinden wird
sie nicht schmerzlich es. / Heraus zieht' er die Leuenbrut, / Und setze des Mondes Seit' in Blut. / Dann näh' den Riß er wieder zu;). Salman Rushdies erster Roman „Grimus“ (Anagramm von Simurg)
beschreibt einen jungen Indianer, der von einem Magier ein Unsterblichkeitselexier bekommt, das er zunächst als Segen und immer mehr als Last empfindet.
Simurg wanderte in das Industal, dort nannten sie ihn Mayuri vina. Das bedeutet Pfauenkind. Noch heute spielen Sikh-Musiker auf dem gleichnamigen Bogeninstrument (mayuri vina) ihre Lieder.
Die zoroastrische Herkunft der jesidischen Religion wurzelt also tief. Der blaue Pfau Melek tau ist ein alter Gott, der sogar in die Antike verweist und dort als Greif erscheint. Auch in Goethes
Faust taucht er auf in den pharsischen Feldern, der klassischen Walpurgisnacht. Für die Ummah des Islam ist er jedoch gleichbedeutend mit dem Teufel und die Jesiden damit in den Augen der Moslems
Teufelsanbeter. Daher werden sie verfolgt, gejagt und getötet. Die türkischen Mythologie-Kennerin Ayşegül Çelik hat sich dieser Geschichte(n) angenommen und erzählt in einer Kette Mythologisches und
Reales. Dieser magische Realismus in zehn Geschichten verwoben ist allerdings kein Roman. Auch wenn Afsun Anfang und Ende des Buches beschwört, Personal und Atmosphäre in sich geschlossen scheint. Es
ist wie in mythologischen Geschichten auch eine lose Verwandtschaft in den Geschichten spürbar. Das macht den Reiz der Texte allerdings nicht aus. Denn die Geschichten können durchaus für sich
stehen. So ist das Wörtermärchen (meine Lieblingsgeschichte) als Beispiel ganz selbstständig lebensfähig. Egal. Wenn man Roman vorne drauf schreibt und damit den Verkauf fördert, könnte man
ja von einer Notlüge sprechen. Die Texte haben immer etwas Erhabenes an sich, beleben die Wüste, die kein einsamer Ort ist.
Auferstehung, Wiedergeburt und Unsterblichkeit sind zentrale Motive der Erzählungen, wie das in dem wiederkehrenden Leitmotiv der Schmetterlinge zum Ausdruck kommt. Schon in der Antike waren
Schmetterlinge Symbol der Psyche und der Metamorphose. So hat natürlich auch Goethe über dieses Tier gedichtet: In des Papillons Gestalt / Flattr' ich, nach den letzten Zügen, / Zu den
vielgeliebten Stellen, / Zeugen himmlischer Vergnügen, / Über Wiesen, an die Quellen, / Um den Hügel, durch den Wald.
Weiter hüpft Goethes Schmetterling der Angebeteten auf den Busen, auf den Mund, auf die Hände. Ganz so zart wie das in der vorletzten Geschichte im tollen Wald geschieht und das Wiedersehen
mit Samet Abi und Ceylan märchenhaft verklärt. Die Autorin verschweigt dabei nicht die Realität von Endogamie, Verfolgung und Isolation. Die Wüste selbst ist ein Tagtraum, voller Fata Morgana. Dabei
ist die Morgana eine Fee aus der Artussage. Soviel zu ‚cultural appropriation‘. Auch die jesidische Agglomeration aus Kulturen und Religionen macht hier keine Ausnahme. Jede Kultur, jede Religion hat
Anleihen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen je nach der Reiserute ihrer Vorfahren. Sie mögen für sich eigenständig sein und sich behaupten wollen. Das kann man als Recht verbuchen,
so wie ein rationales Ich dies für sich in Anspruch nimmt. Aber wirklich jeder weiß, dass er das nicht kontrolliert und schon ein paar falsche Mahlzeiten sein Mikrobiom so in Aufregung versetzen,
dass das rationale Ich nur reagieren kann, aber nicht einmal weiß weshalb. Der Fehler liegt von Haus aus in den Schubladen, die immer falsch sind. Unter mir, der ich gerade hier sitze und schreibe
ist eine Schublade. Ordnung wäre wirklich ein weit übertriebenes Wort um diesen Ort unter mir zu kennzeichnen. Insofern können wir auch das Etikett Roman stehen lassen. Was ist schon ein Roman? Die
meisten Romane sind nur unnötig in die Länge gezogene Erzählungen, die eine wirklich gute Schriftsteller:in auch in fünf bis zehn Seiten bewältigt. So wie das Ayşegül Çelik zehnmal machte. Und
dass die Autoren auch für das Fernsehen schreibt, merkt man am Suspense einiger Geschichten ganz besonders bei der schwarzen Perle.
Insgesamt war die Lektüre ein poetischer Genuss. Wie immer ist die Wüste ein Ort wo man sich auf einen in einer Oase platzierten Diwan legt, den Sand durch die Finger rieseln lässt, in eine Orange
beißt, und als konsumverwüsteter Europäer den süßen Saft genießt. Es geht nicht um kulturelle Aneignung. Es geht um Demut. Um die Fähigkeit zu staunen. Karawanen die durch die Wüste ziehen wie vor
hunderten von Jahren schon. Es gab Karawanen, die umherzogen wie wir, Autos, deren Motorengeräusch hinter den Dünen in weiter Ferne zu hören war, und sie waren voller Menschen. Es war, als wären
wir die Sesshaften. Denn die anderen waren es, die von irgendwoher kamen, irgendwohin gingen und nicht wiederkehrten. Diese Erkenntnis meine ich. Es ist eine perspektivische Frage. Kulturen sind
immer perspektivische Erinnerungskonglomerate und mit der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung lassen sich Perspektiven simulieren. Aneignung entsteht nur bei eigener Perspektivlosigkeit. Und dazu sind
Kulturen eingerichtet worden. Sie geben uns Richtungen, Möglichkeiten. Die Vernichtung einer Kultur ist immer die Vernichtung von weiteren Möglichkeiten. Regeln zählen mehr als Menschen? Die
erdhafte Poetik von Ayşegül Çelik richtet unseren Blick auf den Boden, den Wald, auf die Natur. Sie ist immer anwesend in diesen Geschichten. Die moderne Zivilisation erscheint dagegen immer als ein
Fremdkörper. Wie anders, als in Märchenform ließe sich das heute noch erzählen? Wer auf der dorischen Halbinsel lebt, nahe bei Knidos, der ist von uralter Geschichte geradezu umgeben und „Tage lang
machten wir nur wenig Fahrt und kamen mit Mühe bis auf die Höhe von Knidos. Dann zwang uns der Wind, den Kurs zu ändern.“ (Evangelist Lukas)
Die Tierschützerin und Menschenrechtsaktivistin rückt die Ezidin ins Licht. Und der Engel des Todes verweigerte den Menschen den Kniefall. Der unglaubliche Kampf zwischen der Holzfällerfrau und dem Todesengel bringt unsere gemeinsame Geschichte als Menschen auf den Punkt. Dass darin auch die alte Geschichte von Philemon und Baucis eingewebt ist, verweist auf die gemeinsamen Wurzeln unserer Geschichten.
Auch daher bin ich der Überzeugung, dass wir Menschen einen uns allen gemeinsamen höheren Sinn entdecken können. Geschichten sind ein Weg zu diesem gemeinsamen Sinn, der über die Sinne hinausweist.
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